Wissenschaftler Zeldin hält Meditation für Unsinn: Was vom guten Leben übrig bleibt

Was ist die richtige Existenzform? Versenkung ins Ich oder Aufbruch in die Welt? Eher letzteres, findet Oxford-Professor Theodore Zeldin.
Es waren unzufriedene amerikanische Hippies der 1960er Jahre, welche die westliche Zivilisation mit den tiefen Erkenntnissen asiatischer Weisheitslehrer beglücken wollten. Und dabei hoben sie auf dem Weg zum guten Leben einen besonderen Schatz: Mindfulness, zu Deutsch Achtsamkeit. Das Angebot an Yoga- und Meditationskursen ist kaum zu überblicken. Nichts hat mittlerweile so Konjunktur wie die Techniken, welche die Achtsamkeit im Zentrum haben: Das Ich, in das mit einem Om hinein- und hinausgeatmet wird. Doch befreit das große Om wirklich vom Unglück dieser Welt und führt zum guten Leben?
Nein, sagt Theodore Zeldin, ein Mann mit weißen, wirren Haaren und einem immer freundlichen Lächeln. Der mittlerweile 89 Jahre alte Historiker hat die Anfänge des Meditationskultes in den USA miterlebt. Als er an der Harvard-University einige Jahre verbrachte, traf er auf die Gruppe um Richard Davidson, die dieses Konzept in die USA aus Asien „importiert“ hatten. „Unglückliche Menschen gingen nach Indien und suchten das perfekte Leben. Sie heiligten den Weg, den sie gingen. Das amerikanische Geschäft machte sich das zunutze“, erzählt Zeldin im Gespräch mit der FR von dieser Zeit. Zeldin ist ein Gegner der Achtsamkeitsbewegung. Sie halte die Menschen von etwas viel Wichtigerem ab, als es die Versenkung in den eigenen Atem je bieten könnte: vom Denken. „Mindfulness stellt einen ruhig. Das ist es, was sie wollen. Wenn man ruhig werden will, sollte man aber besser in den Garten gehen und arbeiten.“ Das sei es zumindest, was er tue.
Da die Hippies die Einbettung der Meditationstechniken in ihre ursprüngliche Kultur ausgeblendet hätten, würden sie den Buddhismus auf nur ein einziges Element reduzieren. Zu der fernöstlichen Religion gehöre aber auch, „das Leiden zu akzeptieren wie auch den Verzicht und die Notwendigkeit, sich dem weltlichen Leben zu entziehen“. Zeldin lehrte an der Universität Oxford. Als Autor hat er sich unter anderem mit „Eine intime Geschichte der Menschheit“ einen Namen gemacht. Er hat für die Vereinten Nationen als Berater gearbeitet und ist für sein Werk vielfach ausgezeichnet worden.
Für den britischen Wissenschaftler steht fest, wenn man sein eigenes Glück, das gute Leben sucht und dabei die Welt vergisst, macht man fundamental etwas falsch. Zeldin denkt schon lange darüber nach, was es ausmacht, ein gutes Leben zu führen. Im Grunde ist es „die“ Frage für jeden Einzelnen: Was ist ein gutes Leben für mich? Aber welche Ziele kann man sich heutzutage schon setzen? Ein Studium abschließen, Karriere machen, den idealen Partner finden, eine Familie haben und aufregenden Hobbys nachgehen sind die üblichen Pläne in westlichen Leistungsgesellschaften.
Aber ist das auch erfüllend - oder vergeudet man hier nicht sein Leben? Alle Menschen streben nach Glück, das lehrte schon der griechische Philosoph Aristoteles vor rund 2500 Jahren. Er entwarf eine eigene Moraltheorie, die auf der Vorstellung des Glücks als oberstem Ziel aufbaute. Das gelingende Leben besteht für den aus Stagira stammenden Denker im Wohlgefallen an der Tugend, besonders wenn es sich um eine gelingende Tätigkeit der menschlichen Seele handelt. Und hier gehe es besonders um Handlungen, die der Vernunft gehorchen, wodurch sich der Mensch vom Tier unterscheide. Erst die tugendhafte Tätigkeit also erzeuge Lust und Freude. Tugenden sind bei Aristoteles habituelle Eigenschaften des einzelnen Menschen, Mut, Tapferkeit, Freigiebigkeit oder Sanftmut können dazu gehören. Der höchste Zweck der Allgemeinheit, der Polis, ist bei ihm die menschenwürdige Glückseligkeit als das Wohl aller.
Was das Glück denn inhaltlich sei, dazu hatte Aristoteles verschiedene Vorstellungen. Späteren Denkern wie Immanuel Kant kamen Zweifel, ob man eine Morallehre so konzipieren könne, schließlich verstehe jeder und jede unter Glück etwas anderes.
Aber auch Platon stellte die Frage nach dem guten Leben in den Mittelpunkt seiner wichtigsten politischen Schrift, dem Dialog „Politeia“. Heute wird das gute Leben eher in populärwissenschaftlichen Philosophie-Büchern thematisiert, aus der akademischen Philosophie ist es - zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung - weitestgehend verbannt. Der Münsteraner Philosoph Ludwig Siep plädierte jedoch bereits vor Jahren in seiner „Konkreten Ethik“ (erschienen im Suhrkamp-Verlag) dafür, das Thema der guten Welt wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Konkretisierung von Kriterien des Guten sei ungeheuer wichtig zur Beurteilung zentraler Fragen unseres Lebens, das sich immer stärker mit den Vor- und Nachteilen des technologischen Fortschritts auseinandersetzen müsse.
Für Zeldin ist der Weg, das gute Leben über das Glücksempfinden zu suchen, hingegen eine Sackgasse. „Das Glücklichsein, die Religion des 20. Jahrhunderts, ist irreführend. Wie kann man glücklich sein, wenn es so viel Leid, Krieg, Dummheit auf der Welt gibt? Wenn man sich nur um sich selbst kümmert, ist man ein Dummkopf“, sagt er.
Man solle nicht das Hauptaugenmerk darauf legen, sich nur gut fühlen zu wollen, sagt auch die israelische Soziologin Eva Illouz. Dieser Drang habe eine Glücksindustrie hervorgebracht, die aus den USA heraus ein Milliardengeschäft entwickelt habe. Das gute Leben bestehe aber nicht darin, einfach nur gut drauf zu sein. Illouz singt ein Lob auf die Unzufriedenheit, denn sie gebäre große Ideen und verbessere das Leben der Menschen. Eine politische Veränderung in schlechten politischen Systemen würden nicht die Glücklichen herbeiführen, sondern die Unzufriedenen.
„Anstatt auf sich selbst neugierig zu sein, sollte man neugierig auf andere Menschen sein!“, fordert Zeldin. Weniger Fokussierung auf das eigene Ich, stattdessen solle man das Andere kennen lernen. Ein Ich zu denken ohne dieses Andere sei ohnedies schlichtweg unmöglich, erklärte schließlich schon der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Die Menschen würden viel zu wenig übereinander wissen, ist Zeldin überzeugt.
Das sei das Problem und die Ursache für schlechte soziale Beziehungen, die das Unglück ja erst herbeiführen würden, von dem man sich dann in Meditationskursen wieder befreien wolle. Die Konzentration auf das eigene Ich bringe da jedoch wenig. „Wir müssen uns auf die Beziehungen der Individuen konzentrieren“, sagt Zeldin im Gespräch mit der FR. „Wenn wir miteinander sprechen, werden wir sehen, was dabei herauskommt, ob wir etwas voneinander lernen können oder nicht.“
Ein Problem an „Mindfulness“-Konzepten sei, dass es das Wissen der Welt nicht vermehrt. Aber ohne Wissenszuwachs könne man die Probleme dieser Welt nicht bewältigen. Meditationen würden keine sozialen Probleme lösen, welche die Ursache von Angst und Stress seien. „Dass man diese sozialen Probleme auf die individuelle Ebene verlagert, ist Teil des Problems. Man geht zum Psychotherapeuten, damit man weniger unglücklich ist.“ Man hat nach seiner Meinung die Alternative: Man kann hinausgehen, um die Welt zu verbessern. Oder man kann sich in Meditation versenken - doch so verstecke man sich vor der Welt und ihren unliebsamen Seiten.
Für ihn sind Meditation und Achtsamkeit sogar narzisstisch. Er erzählt etwa von einem Silicon-Valley-Mitarbeiter, der jeden Tag zehn Minuten meditiere, dann würde er sich hinausstürzen in eine Welt der harten Konkurrenzkämpfe. Durch die Meditationen kreise man nur um sich selbst. Soziale Beziehungen würden so aus dem Blick geraten. Über seine Mitmenschen erfahre man da nichts. Man begrenze sich also künstlich, statt etwas zu lernen. Im Grunde genommen verzichte man damit sogar auf Wissen. Zeldin erzählt von seinen Studien in französischer Geschichte, was ihn, den Briten, sehr geprägt habe, weil er so viel gelernt habe.
Wichtig sei, dass man über das Leben mehr lerne. In Schulen und Universitäten erfahre man nichts über die anderen, jüngere Menschen würden ältere so nicht kennen lernen, dabei sei es wichtig, den Dialog zwischen ihnen zu fördern, befindet Zeldin, der das St. Anthonys College in Oxford mitaufgebaut hat.
Der britische Historiker, Sohn jüdisch-russischer Migranten in Palästina, hat in zahlreichen von ihm ausgerichteten Gesprächs-Veranstaltungen in vielen verschiedenen Ländern dafür gesorgt, dass die Menschen zusammen kommen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. „In meinen Unterhaltungen setze ich jemanden mit einem anderen zusammen, den er nicht kennt, die nicht so sind, wie sie selbst sind. Das Resultat ist erstaunlich“. Türken sprächen etwa mit Armeniern – und das mit Vergnügen, obwohl zwischen den Ländern seit Jahrzehnten Spannungen bestehen und die Türkei sich weigert, die Morde an Armeniern und Armenierinnen vor 100 Jahren als Völkermord anzuerkennen. Es gehe eben primär nicht um Politik im Leben, sondern um Beziehungen zwischen Menschen. Bei solchen Treffen würden die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sich an einen Katalog von Fragen in ihren Gesprächen orientieren. Darin gehe es um den Sinn des Lebens. „Die Menschen gehen darin völlig auf“, ist seine Erfahrung.
Solche Gesprächsrunden seien ein Weg, um Mauern zu überwinden, glaubt Zeldin, und damit ein Weg, das Leben zu verbessern. „Man denkt über andere Dinge nach, man trifft Leute, die einem die Phantasie anregen. Schwierig ist es hingegen bei Leuten, die unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit haben. Die einen leben in einer Festung, sie wollen lediglich Freiheit von Zweifel, von Ungewissheit.“ Und es gebe die anderen, die sich außerhalb der Festung, dem sicheren Leben wohl fühlen, die das Abenteuer suchen und sich nicht nach der Meinung anderer richten wollen.
Auch die Arbeit spiele eine zentrale Rolle. „Es wäre besser, wenn Menschen unterschiedliche Dinge lernen könnten“, ist Zeldin überzeugt. „Viele werden zu Spezialisten ausgebildet. Aber dann werden sie nur ein kleines Spektrum des Lebens kennenlernen.“ Auch Geld sei nicht alles. „Ich studierte Armut und entdeckte, dass arme Leute sagten, dass Geld nicht das Wichtigste für sie sei. Armut ist gegeben, wenn man isoliert ist und niemand Notiz von dir nimmt, das macht dich arm.“
Zeldin ist überzeugt, dass das gute Leben darin besteht, die Welt zu entdecken, fast so wie die englischen Seefahrer, die ins Ungewisse steuerten. „Quicklebendig sein bedeutet für mich, zu entdecken, was Leben überhaupt bedeutet.“ Und dafür müsse man gar nicht unbedingt weit reisen. Schon wenn wir Essen fremder Kulturen genießen, begeben wir uns auf Entdeckerfahrt, findet Zeldin. Und schon dieser kleine Wissenszuwachs könne das Leben besser machen.