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Wie Adolf Hitler zum „Führer“ wurde: In seinem Hass erkannten sie sich wieder

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Von: Arno Widmann

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Adolf Hitler 1921, im Jahr, in dem er von den Mitgliedern der NSDAP zum Parteivorsitzenden gewählt wurde.
Adolf Hitler 1921, im Jahr, in dem er von den Mitgliedern der NSDAP zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. © imago/ZUMA/Keystone

Vor hundert Jahren wurde Adolf Hitler zum Parteivorsitzenden der NSDAP gewählt.

Am 29. Juli 1921 findet im Hofbräuhaus-Festsaal in München eine außerordentliche Mitgliederversammlung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei statt. Adolf Hitler (1889-1945) wird zum 1. Vorsitzenden der NSDAP gewählt. Das ist aber auch der letzte demokratische Akt der Partei. Die neue Satzung gibt Hitler diktatorische Vollmachten. Diskussionen und Abstimmungen sind verboten. Es gilt allein, was Hitler sagt.

Der 29. Juli 1921 ist – wenn es so etwas denn gibt – die Geburtsstunde des Führerprinzips. Die begleitende Maßnahme: Am 3. August wird die „Turn- und Sportabteilung“ der Partei gegründet, Sie wird bald umgetauft in Sturmabteilung (SA).

Im September 1919 hatte der Dichter der Décadence, Gabriele d’Annunzio (1863-1938), mit 186 Kämpfern die Stadt Fiume – sie heißt heute Rijeka und gehört zu Kroatien – besetzt und für Italien reklamiert. Es gab Uniformen und Umzüge. Der Poet ließ sich täglich feiern und als „Duce“ (Führer) anpreisen. Der Spuk war bald vorbei. Aber er war ein Vorspiel für die totalitären Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts. Hier ging die Farce der Tragödie voran. Mussolini lernte von d’Annunzio und Hitler von Mussolini.

Die Dependenztheorie griffe aber zu kurz. Sowie es ein allgemeines Wahlrecht gab, gab es auch ein allgemeines – oder doch wenigstens weit verbreitetes – Verlangen nach seiner Abschaffung. Diktator war nicht nur eine von ehrgeizigen Männern angestrebte Existenz. Es gab auch Millionen Menschen, die gerne auf die gerade erst erlangten Bürgerrechte verzichteten, um sich einem Einzigen zu unterwerfen.

Die Szene am Abend des 29. Juli 1921, als im Hofbräuhaus ein paar Hundert NSDAP-Mitglieder freudig Adolf Hitler ihren Führer nannten, zeigt wie unter einem Vergrößerungsglas, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahezu überall auf der Welt stattfand: Menschen wählten statt der Freiheit die Knechtschaft. Es war keine Frage von rechts oder links. Es geschah auf beiden Seiten. Das Führerprinzip eroberte halb Europa, Russland und China, ein paar Länder Lateinamerikas.

In Afrika spielte es keine Rolle. Bis zur Befreiung. Als die afrikanischen Staaten die Kolonialherren hinauswarfen, bekamen auch sie es mit Formen totalitärer Macht, mit Genozid und Führerkult zu tun.

Als Hitler sich vor genau hundert Jahren als Führer feiern ließ, war das der Erfolg einer Verschwörung. Es war ihm gelungen, die Partei zu kapern, die er nicht etwa gegründet hatte, sondern in die er eingetreten war. Er war sehr schnell zum erfolgreichsten Propagandisten der zunächst sich noch Deutsche Arbeiterpartei nennenden Organisation geworden. Die Partei betrachtete er als ein Sprungbrett, das dazu da war, ihn zum Bad in der Menge zu katapultieren. Für die Parteiarbeit, für das Klüngeln in Sitzungen hatte er nur Verachtung. Die Partei, so meinte er, beschäftige sich viel zu sehr mit sich selbst, statt ihre zentralen Anliegen – Kampf gegen die Versailler Verträge, Kampf gegen die Republik, Beseitigung des Judentums – in immer neue Öffentlichkeiten zu tragen.

Der politische Redner Adolf Hitler ist ein Produkt der Reichswehr. Sie beauftragte den mehrfach ausgezeichneten Gefreiten, Vorträge und Reden vor verschiedenen zu demobilisierenden Einheiten zu halten. Es galt, die entlassenen Soldaten propagandistisch gegen marxistische Agitatoren zu impfen. Eine starke Prise Autoritarismus und Antisemitismus erschien der militärischen Führung ein richtiges Rezept. Dass damit die Republik, die neue Staatsform, gleich mit desavouiert wurde, kam ihr gerade recht.

In „Mein Kampf“, erschienen 1925, schrieb Adolf Hitler über diese Erfahrung: „Ich begann mit aller Lust und Liebe. Bot sich mir doch jetzt mit einem Male die Gelegenheit, vor einer größeren Zuhörerschaft zu sprechen; und was ich früher immer, ohne es zu wissen, aus reinem Gefühl heraus einfach angenommen hatte, traf nun ein: Ich konnte ‚reden‘.“

Niemand kennt sich. Solange wir Kinder sind, ist alles Fantasie. Also können wir alles. Erst später lernen wir uns kennen. In den meisten Fällen heißt das: Wir erkennen, was wir nicht können. Hitler erzählt hier eine andere Geschichte. Die vom Traum, der wahr wird. Eine Einbildung, die sich als wahr erweist. Das ist eine mächtige Entdeckung. Gerade für einen, der ein Nichts gewesen war. Einer, der die ihn nicht beachtende Welt dafür hasste und nichts heißer ersehnte, als es ihr endlich zu zeigen. Diesen Hass teilte Hitler mit vielen seiner Landsleute. In diesem Hass erkannten sie sich wieder. Um dieses Hasses willen liebten sie ihn.

Man kann sich den anderen Gedanken Hitlers vorstellen, den er immer wieder vor sich selbst verbarg, dass er nämlich der Retter sei, der Deutschland führen werde aus der Stunde seiner tiefsten Erniedrigung. Es gab eine Zeit, da dachte er, die Lage sei so katastrophal, dass nur ein Genie einen Ausweg finden könnte. Er glaubte damals noch nicht an sich. Er war verzweifelt. Sein Entdecker Hauptmann Karl Mayr sagte über ihn: „Als ich ihn das erste Mal traf, glich er einem müden, streunenden Hund, der nach einem Herrn suchte.“ Bald darauf pochte in Hitler der Gedanke, dass er selbst dieser Herr, dieses von ihm herbeigesehnte Genie sei. Aber vielleicht ist das von mir geschilderte Nacheinander falsch. Im geprügelten Hund wächst die Idee, ein Wolf zu sein. Und der Wolf tarnt sich – vor sich und den anderen – als geprügelter Hund.

Die politische Macht hat sich von jeher religiös gegeben. Die frühen Herrscher – bis zum heutigen japanischen Kaiser Naruhito – waren alles Gottessöhne. Sie forderten Unterwerfung und Anbetung. Die Moderne ist Sturm gelaufen dagegen. Und sie hat im Totalitarismus die Theokratie für sich neu erfunden. Wir wechseln die Kleider. Aber aus unserer Haut kommen wir nicht. Jedenfalls nicht, solange wir der Illusion anhängen, wir hätten sie schon abgelegt.

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