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Wenn das traditionelle Modell zur Hölle wird

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Von: Alexander Graeff

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Vater, Mutter, Kind Familie Piktogramm in der Tiefgarage für einen „Familienparkplatz“. Foto: Imago Images
Vater, Mutter, Kind Familie Piktogramm in der Tiefgarage für einen „Familienparkplatz“. © imago images/Rolf Poss

Muttertag? Es gibt genug Belege: Die kleinbürgerliche Familie ist kein sicherer Ort, trotzdem halten sich die idealisierten Bilder hartnäckig. Hin und wieder kämpft die Literatur dagegen an.

Hör zu, Bea, was das Wichtigste ist und das Schlimmste, am schwierigsten zu verstehen und, wenn du’s trotzdem irgendwie schaffst, zugleich das Wertvollste: dass es keine Eindeutigkeit gibt. Das muss ich hier, ganz am Anfang, schon mal loswerden – weil ich es immer wieder vergesse. Und vermutlich vergesse ich es deshalb, weil meine Sehnsucht nach Eindeutigkeit so groß ist und die Einsicht, dass es keine gibt, mich so schmerzt. Aber gleichzeitig ist sie auch tröstlich.“

Mit diesen Worten beginnt Anke Stellings Roman „Schäfchen im Trockenen“ (2018). Sie werden von der Schriftstellerin Resi an ihre Tochter Bea gerichtet. Resi zweifelt am „Gefängnis der Ehe“ ebenso wie am Mythos „Mittelstandsfamilie“, jenem Maschinenraum des Privaten. In diesem, und anderen Romanen schreibt Anke Stelling über den „Wahnsinn des Familienlebens“ und gegen das soziale Milieu eines bürgerlichen Idylls mit seinen Sicherheits- und Eindeutigkeitsillusionen an. Die Sujets ihrer soziologisch grundierten Literatur sind Geschlecht, Klasse, Ehe und Elternschaft. Aber nicht nur traditionelle Vorstellungen von Familie und Ehe sind durchdrungen von diesen Illusionen, viele soziale Normen versprechen Einheitlichkeit und Eindeutigkeit. Das beste Beispiel ist nach wie vor die cis-heteronormative Geschlechterbinarität bestehend aus „Mann“ und „Frau“ mit vermeintlich klaren Grenzen und zugewiesenen Ordnungen des Denkens, Handelns und Fühlens. Soziale Normen sind dennoch vielfältig, eins teilen sie oft: das radikale Ausklammern der Empirie, und damit ihrer eigenen Wirksamkeit. Denn trotz empirischer Belege für die Dysfunktionalität bestimmter Normen, halten sich die idealisierten Bilder und mythischen Narrative hartnäckig.

Nur ein paar Zahlen aus dem Coronajahr 2020: Eine von drei Ehen, die in Deutschland geschlossen werden, wird geschieden. 44 Prozent der insgesamt 1153 Fälle von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Familie gehen vom Vater (36 Prozent) und von der Mutter (8 Prozent) aus. Von 146 655 Gewaltdelikten in Partnerschaften werden 37,9 Prozent von ehemaligen Partner:innen verübt, 32,3 Prozent von Ehepartner:innen und 29,4 Prozent von Partner:innen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft (vgl. „Studie Sexuelle Gewalt in der Familie sowie Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung“). Die traditionelle Familie ist entgegen ihres Rufs kein sicherer Ort. Immer noch werden Denk- und Empfindungsweisen aktualisiert, die die Familie und Ehe als Ziele eines „gelungenen Lebens“ propagieren. Sie reproduzieren damit Trugbilder, verkleistern die sozialen Realitäten mit schönem Schein und romantisierenden Idealen, die vorgeben, vor Unsicherheit und Uneindeutigkeit schützen zu können. Das Perfide daran ist, dass durch diese Verhältnisse „Frau“, „Mann“, „Kind“, „Identität“, „Sein“, „Kultur“ und viele andere mächtige Konzepte in einen unabänderlichen Modus des Realen gesetzt werden. Dass diese Konzepte nicht nur symbolisch aktualisiert, sondern gewaltsam verteidigt werden, können wir mit Putins Krieg in der Ukraine dieser Tage kaum schmerzhafter gewahr werden.

Anke Stelling betreibt mit „Schäfchen im Trockenen“ eine literarische Selbstvergewisserung dieser Diskrepanzen. Ort der Handlung ihres Romans ist der Prenzlauer Berg. Die Figuren des Milieus sind Resi und ihr Ehemann Sven, der Künstler ist, sowie ein mit Bildung und Einkommen gut ausgestatteter Bekanntenkreis, Architekten, Ärzte und – Ehefrauen. Alle Figuren sind in den 1970er Jahren geboren, stammen aus Süddeutschland und hatten spätestens nach dem Abitur die homogene CDU-Welt ihrer Eltern über. Viele aus dieser Alterskohorte gingen in den späten neunziger oder frühen nuller Jahren nach Berlin, insbesondere in den Prenzlauer Berg. Und so hat sich seit Anfang der 90er Jahre die Zahl der Menschen mit Abitur und Hochschulabschluss im Prenzlauer Berg verdoppelt, bei leicht steigender Einwohner:innenzahl. Die Zugezogenen denken anders als ihre Eltern. Über die Gesellschaft, über die Zukunft des Planeten und über Politik. Sie wählen urbane Lebensumfelder jenseits provinzieller Neubaugebiete und eher alternative, religiöse Überzeugungen.

Die Handlung des Romans setzt zum Zeitpunkt ein, an dem die Figuren ihre unsteten Selbstständigkeiten längst hinter sich gelassen und vermeintlich sichere Arbeits- und Familienverhältnisse geschaffen haben. Denn trotz ihres Protestbewusstseins, wie es Mitte Zwanzig noch vorherrschend war, sind sie doch geprägt von der bürgerlichen Leistungsmentalität ihrer Eltern und Großeltern. Und nachdem die progressive Zeit als junge Erwachsene zu Ende gegangen ist, der heteronormative Reflex nach Reproduktion einsetzte, klotzen sie ran wie es ihnen ihre Väter und Mütter vorgelebt haben.

Vor allem die kleinbürgerliche Elterngeneration war um Klassenaufstieg bemüht. Ich selbst bin in einem solchen Umfeld aufgewachsen. Das Ziel unserer Eltern war es, die Verhältnisse zu verbessern oder sogar verlassen zu können. Eifrig bastelten sie an einer Zukunft, die die Familie intergenerational mit ausreichend ökonomischem Kapital ausstatten sollte. Kulturelles und symbolisches Kapital häuften erst wir, die Kinder, an. Wir trauten uns dann auch, nach Berlin zu gehen und Berufe jenseits konventioneller Angestellten- und Arbeiter:innenverhältnisse zu wählen. Bei den Figuren Stellings ist die bundesrepublikanische Mentalität des „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ also keinesfalls verschwunden, sie pausierte bloß und brach spätestens ab Mitte 30 gnadenlos heraus. Das zumindest teile ich nicht mit Resi, Sven und ihrem Umfeld. Und doch finde ich in „Schäfchen im Trockenen“ zahlreiche Parallelen zu meinem eigenen Leben. Auch ich lebte zwischen 2003 und 2013 im Prenzlauer Berg. Auch ich kenne die klassistischen Inszenierungen des deutschen Literaturbetriebs, über die Stelling schreibt.

Anke Stelling hat nicht nur zahlreiche Preise gewonnen, auch die Wissenschaft zeigt mittlerweile Interesse an ihren klassenkritischen Romanen. Allein die Literaturkritik fremdelt noch. Die Protagonist:innen des konservativen, Tschuldigung!, „Literarischen Quartetts“ etwa taten sich schwer mit dem politischen Blick in „Schäfchen im Trockenen“ und kämpften erbittert für die Aufrechterhaltung exakt jener Mythen, die Stelling gerade zu dekonstruieren sucht. Hierzu zählt insbesondere das sozialpolitische Programm einer vermeintlich von Klassen befreiten Gesellschaft mit einer „starken Mitte“.

Was macht den Roman politisch? Ich lese „Schäfchen im Trockenen“ als eine Literatur, welche die als unvereinbar geltenden Felder aktueller politischer Kämpfe miteinander verschränkt. Das betrifft vor allem die Sektionen „Geschlecht“ und „Klasse“. Konsequent ist der feministische Blick im Schreiben Stellings, der sich intersektional begreift, denn er weiß Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Klasse und Kapitalismuskritik zu verbinden, um sogleich auch gender- und identitätspolitische Fragen aufzurufen. Die beschriebene bürgerliche Idylle ist dabei nicht nur ein zentrales „Projekt“ der kapitalistischen Spätmoderne, sondern ebenso durchdrungen vom hartnäckigen System der Heteronormativität. Eindrücklich zeigt Stelling die Enge der kulturell überformten Heterosexualität mit ihren Paarbildungs- und Reproduktionszwängen. Die Normalform wird zur Hölle.

Genau so lassen sich Resis Konfrontationen mit dem heteronormativen und bürgerlichen System, in dem sie lebt, beschreiben. Stelling konzipiert ihre Protagonistin allerdings nicht nur als Gegenpart zu den anderen Figuren ihrer Clique, sondern schafft es, die Absurdität des fiktionalen Milieus, das den gesellschaftlichen Normen eines bestimmten Milieus im Prenzlauer Berg entspricht, von innen heraus zu zeigen. Der Roman stülpt den kritischen Blick somit nicht von außen über. Er schafft vielmehr Identifikations- und Handlungsanlässe, dasselbe zu tun wie Resi. Die mythischen Konstruktionen von Ehe, Mutterrolle und heteronormativer Familie eigenmächtig zu reflektieren und die sozialen Mechanismen zu dekonstruieren.

So homogen die Clique auf den ersten Blick wirkt, Resi deckt mit ihrem Schreiben die „feinen Unterschiede“ auf, die sich bald schon als Klassenunterschiede entschleiern. Dass diese Unterschiede zugunsten der kapitalistischen Selbstoptimierungspraxis mit ihren selbstverständlich gewordenen Angeboten wie Work-Life-Balance-Coaching, Baby-Yoga oder schamanischem Familienstellen verschleiert wurden, liegt für Resi an den alten und neuen Erzählungen, die über Familie, Karriere, Elternschaft sowie ein Leben-in-Berlin-mit-Kind kursieren. Einige aus Resis Clique können mit dem Erbe der Eltern Eigentumswohnungen kaufen, während andere sich die horrend steigenden Mieten im Prenzlauer Berg nicht mehr leisten können.

Das heteronormative Umfeld soll durch die verschleiernden Erzählungen intergenerational aktualisiert werden. Es ist dadurch zugleich auch Maß für die Richtigkeit der Biografie einer „liebenden Mutter“ und eines „berufstätigen Vaters“, jener „richtigen Familie“, die im Sinne der kapitalistischen Ordnung mit ihrem Narrativ der freien Entscheidung Klassenunterschiede und gesellschaftliches Unrecht nur privatisiert. „Indem ihr schweigt, schluckt und verschleiert, schont ihr uns nicht, sondern haltet uns in Unwissenheit. Privatisiert außerdem gesellschaftliches Unrecht – denn dass es euch nicht gut geht, bemerken wir, glauben aber, das habe rein persönliche Gründe.“

Allen voran ist es Resi, die diesen Erzählungen selbst aufgesessen ist, aber mithilfe ihres kritischen Schreibens den sozialen Code des Programmes knackt. Aus der Clique ist kein Rückhalt für dieses Vorgehen zu erwarten. Im Gegenteil, Resi erfährt Widerstand seitens der sie umgebenden Vertreter:innen bürgerlicher Ideale und Normen. Die befreundeten Paare kämpfen hart für ihren heiligen Kosmos und den felsenfesten Bund zwischen Heteronormativität und „Mitte“-Mythos.

Diese Abgrenzungs- und Abschottungspraxis wurde dem „Bürgertum“ bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein besonderes Anliegen. Seine Geschichte ist ambivalent, trug sie auf der einen Seite zu gesellschaftlichen Liberalisierungsprozessen bei, war sie auf der anderen Seite durch die historisch bedingte Abgrenzung vom Adel nach oben stets um Distinktion bedacht, die sich hervorragend nach unten weiterreichen ließ. Zu diesem sozialen Mechanismus gesellten sich die Instrumente der Literatur, Kunst und Bildung. So wurde gerade nicht ein breites und mittleres Milieu zum entscheidenden Kulturträger, sondern vorrangig ein „gebildetes und gehobenes Bürgertum“, das seine systemtragenden Normen als einziges Deutungsmuster für Kunst und Gesellschaft implementierte. Teil dieser Norm war, dass – ähnlich wie Familie und Ehe – auch Kunst und Literatur als „sichere“ Orte der ästhetischen Einkehr und des Rückzugs von der Welt inszeniert wurden, die wiederum von der mühseligen Abgrenzungspraxis der bürgerlichen Leistungsgesellschaft entlasten sollten. Diese Deutung politisiert Literatur flächendeckend, denn entweder dient sie der Aktualisierung besagter Normen oder ihrer kritischen Dekonstruktion, wie es der Soziologe Urs Jaeggi in „Literatur und Politik“ bereits 1972 beschrieben hat. Literatur ist in dem Sinne nie neutral. Sozialisation, Klasse, Geschlecht und Einkommensverhältnisse schreiben immer mit.

Es ist keine neue Erscheinung, dass sich bürgerliche Milieus der vermeintlichen „Mitte“ gegen Klassenkampf, das Aufzeigen von Privilegien und das Aufdecken ihrer ambivalenten Privatsphären zur Wehr setzen. Lange schon tobt der Kampf in den Gesellschaften Europas. Die Literatur hat ihn von Anfang an begleitet und befeuert. So fanden John Heartfield und George Grosz bereits 1920 deutliche Worte für die Auseinandersetzung mit dem „bürgerlichen Erbe“ in der Literatur. Ihr berühmtes Manifest „Der Kunstlump“ beginnt mit der Behauptung, die „Bourgeoisie“ und das nach Aufstieg strebende „Kleinbürgertum“ habe sich „gegen das aufbäumende Proletariat“ mit „Kultur gepanzert“.

Jenseits des Sendungsbedürfnisses sogenannter Avantgardisten, die zu Heroen der Literatur- und Kunstgeschichte stilisiert wurden, gab es auch Stimmen, die aufgrund der Verhältnisse unsichtbar geblieben sind. Gertrud Alexander gehört eine dieser Stimmen. Alexander schrieb für die „Rote Fahne“, das damalige Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands. 1921 stieg sie in die Debatte ein. Die Positionierung zur bürgerlichen Kunst seitens der arbeitenden Klasse sei, so Alexander, notwendig. Denn nur so könne „über die Ideologie des Bürgertums aufgeklärt“ werden. 1922 wird die Kritikerin noch deutlicher: „Der bürgerliche Roman hat auf seiner Taktik der Ablenkung ein ganzes Gebäude literarischer Technik und Ausdrucksmittel errichtet, das zu den raffiniertesten ideologischen Herrschaftsinstrumenten gehört. Da steht ein Held im Mittelpunkt; um ihn kreisen die Schilderungen von fremden Städten und Gesellschaftsschichten, und damit eine Plattform da ist, die allen Lesern gemeinsam sein soll, wird in dieses Ganze ein Liebesabenteuer neben dem andern gesteckt. Denn die Liebe, so denkt der Autor, interessiert alle.“

Gertrud Alexanders Texte machen darüber hinaus deutlich, dass die Kritik an bürgerlichen Kulturbegriffen nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es nicht zuletzt um einen basalen ökonomischen Verteilungskampf geht. Ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital sollten als Konzepte für Analyse und Kritik einander durchdringen und nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das könnte aktueller nicht sein!

Die Geschichte dieser Kämpfe bildet sich heute kulturpolitisch ab. Zwar hat man mittlerweile erkannt, dass auch bürgerliche Kulturinstitutionen, wollen sie ein zeitgemäßes, heterogenes Publikum ansprechen, nicht mehr völlig ohne Anbindung an sozial- und identitätspolitische, und damit soziokulturelle Bezüge auskommen. Jenseits der Fragen nach Anerkennung, rücken heute aber gerade Verteilungsfragen in den Vordergrund. Mitnichten zeigte sich nämlich ein „Entschichtungsvorgang“, wie ihn der Nachkriegssoziologe Helmut Schelsky noch beschworen hatte. Vielmehr ist auch heute ein ungerechter „Verteilungsmodus“ (Urs Jaeggi) state of the art. Umverteilungsproblematik und -notwendigkeit bleiben damit bestehen. Nirgendwo wird deutlicher, was über Jahrzehnte aktualisierte und gegen Kritik imprägnierte Strukturen anrichten können, als am Status Quo der Kulturpolitik, ihrer Förderinstrumente und ihrer hyperbürokratischen Verwaltung. Hier wird offenkundig, dass sich Denk- und Empfindungsweisen, aber auch Institutionen, bei genauerer Betrachtung gar nicht pluralisiert haben, das blieb Rhetorik. Genauso wie die trendigen Begriffe „Partizipation“ oder „Inklusion“ oft nur Rhetorik bleiben. In einem solchen Milieu drohen am Ende die so wichtigen Konzepte wie Diversität, Nachhaltigkeit und Inklusion zu werbemäßigen Tokens zu verkommen, die der bürgerlichen Kultur bloß einen pinkfarbenen oder grünen Fassadenanstrich verpasst.

Die Illusionsmaschine rattert gleichmäßiger denn je. „Wir sind am Ziel unserer Träume, haben unsere Fronten und Fassaden, Katzen und Kinder; wir sind Meisterinnen des schönen Scheins“. So bringt es Resi auf den Punkt.

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