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Weltbilder und Weltordnung

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Eine Frau in Charkiw sucht Schutz. Foto: DIMITAR DILKOFF / AFP
Eine Frau in Charkiw sucht Schutz. © afp

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine in der Theorie der internationalen Beziehungen. Von Gert Krell.

Wie in anderen Wissenschaften gibt es auch im Fachgebiet Internationale Beziehungen verschiedene Theorietraditionen, die man auch als Denkweisen oder Weltbilder bezeichnen kann. Diese Weltbilder setzen unterschiedliche Schwerpunkte und entwickeln ihre eigenen Deutungen der Wirklichkeit; sie stehen untereinander im Wettbewerb und ergänzen sich zugleich. Das wohl bekannteste dieser Weltbilder ist der „Realismus“, für den Machtpolitik im Zentrum der internationalen Beziehungen steht; allerdings auch Sicherheit. Abstrakte Rechte wie Selbstbestimmung seien weitgehend ohne Bedeutung, wenn mächtige Staaten mit schwächeren in Konflikt gerieten: „The sad truth is that might often makes right when great-power politics are at play“, schrieb John Mearsheimer, ein bekannter zeitgenössischer Realist, 2014 in einem Artikel in „Foreign Affairs“ zu den Spannungen zwischen der Nato und Russland.

Ganz ähnlich hat sich kürzlich Henry Kissinger auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Russlands Krieg gegen die Ukraine geäußert. Offensiver Macht begegnet man dem realistischen Weltbild zufolge mit Abschreckung und Gleichgewichtspolitik, zur Not und wenn man stark genug ist auch mit Gegengewalt. Eine Komplikation in dieser Programmatik ist dabei freilich das Sicherheitsdilemma: Selbst zwei defensiv orientierte Mächte, die militärische Vorsorge für ihre Sicherheit treffen, können in eine am Ende nicht mehr kontrollierbare Eskalationsspirale geraten. Hinzu kommt, dass sich Staaten oft nicht sicher sind, ob sie sich in einem reinen Sicherheits- oder doch in einem realen Machtkonflikt befinden.

So stehen sich schon im Realismus selbst zwei Argumentationslinien zu Russlands Krieg ge-genüber. Die eine betont, der Westen hätte gewarnt sein können, habe sich aber leichtfertig in seiner Friedensdividende und in seinem mit russischen fossilen Brennstoffen abgesicherten Wohlstand eingerichtet. Die andere Position hält dagegen, die Nato habe seit der deutschen Wiedervereinigung ihre Macht immer weiter nach Osten verschoben und sich dabei fahrlässig über russische Sicherheitsbedenken hinweggesetzt.

Sorgen um die eigene Sicherheit gab es freilich auf beiden Seiten; vor allem bei den Völkern in Osteuropa, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen und wegen der russischen Probleme im Demokratisierungsprozess und der gewaltsamen Nationalitätenkonflikte Sicherheit eher vor als mit Russland suchten. Die grundsätzliche Legitimität der Osterweiterungen braucht man also nicht infrage zu stellen. Aber der Westen hätte der „Partnerschaft für den Frieden“, die noch keine Sicherheitsgarantien der Nato enthielt, sondern auf Sicherheitskooperation setzte und Russland einschloss, mehr Chancen geben und sich vor allem nicht aus Verträgen und laufenden Verhandlungen über Rüstungskontrolle ausklinken sollen – was nicht erst unter Donald Trump passierte, sondern schon Mitte der 90er Jahre unter dem Druck der republikanischen Partei begann.

Das Weltbild des Liberalismus nimmt die inneren Verhältnisse in den staatlich verfassten Gesellschaften in den Blick. Hier liegen nach seiner Auffassung die entscheidenden Beweggründe für Außenpolitik und damit auch für die internationalen Beziehungen. So hatte schon Immanuel Kant argumentiert, die Mitbestimmung der Bürger bei den Regierungsgeschäften werde zu mehr Frieden führen, weil diese im Gegensatz zu den Fürsten und Königen kein Interesse am Krieg hätten.

Zum Autor

Gert Krell ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt.

Eine deutlich längere Fassung dieses Artikels unter Berücksichtigung des Marxismus, Feminismus und Konstruktivismus erscheint im Laufe des Sommers in der von Michael Staack herausgegebenen Neuauflage der „Einführung in die internationale Politik: Studienbuch“ (De Gruyter Oldenbourg).

In der Tat hat die demokratische Friedenstheorie zeigen können, dass Demokratien so gut wie nie Krieg gegeneinander führen. Für ein demokratisches Russland hätte es also keinen Grund gegeben, sich von den Osterweiterungen der Nato oder von den Demokratiebewegungen in seinem „nahen Ausland“ bedroht zu fühlen. Aber Demokratien führen durchaus Kriege gegen Autokratien, und zwar nicht nur zur Verteidigung; manchmal sogar in grober Überschätzung vermeintlicher Bedrohungen (z. B. beim Irakkrieg) oder ihrer politischen und militärischen Möglichkeiten (wie beim Afghanistankrieg). So lassen sich in der „liberalen Hegemonie“ der USA durchaus Formen von Machtarroganz gegenüber Russland aufzeigen, die sich nicht nur an der Überlegenheit ihrer Militärpotenziale, sondern auch ihres politischen Systems orientierten.

Nun hat es aber im Westen offenbar nicht nur Machtarroganz, sondern auch „Machtvergessenheit“ gegeben, vor allem eine Unterschätzung bedrohlicher Entwicklungen auf der russischen Seite. Daraus ist eine neue Diskussion über ein mögliches Zuviel an Friedfertigkeit in Demokratien und damit ein Defizit an „Wehrbereitschaft“ entstanden.

Eine gängige Bezugsgröße dafür sind die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts mit der Appeasement-Politik Englands und Frankreichs gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, dessen Zusteuern auf einen großen Eroberungskrieg viele Entscheidungsträger und weite Teile der Bevölkerung im demokratischen Westen viel zu lange nicht wahrhaben wollten. Ähnlich ging die politische Führung in der Bundesrepublik Deutschland sogar dann noch von „gemeinsamen Grundüberzeugungen“ mit Russland aus, als Wladimir Putin sein Land schon weitgehend entdemokratisiert, alle Machtapparate mit Leuten aus dem Geheimdienst und dem Militär besetzt und in verschiedenen Kriegen brutale Machtpolitik demonstriert hatte.

Einfacher zu beurteilen ist der Zusammenhang zwischen Diktatur und Krieg. Die Kombination aus einem Mangel an originären politischen und wirtschaftlichen Leistungen der Herrschenden zugunsten der Beherrschten auf der einen und zunehmender Aggression nach innen zur Unterdrückung von Opposition und zugleich nach außen zur Mobilisierung kompensatorischer Zustimmung ist in Putins Regentschaft mit Händen zu greifen. Anstatt die Wirtschaft voranzubringen, versuche die Regierung das Nationalbewusstsein zu stärken, indem sie die eigene Kultur glorifiziere und für alle Probleme im Lande den Westen verantwortlich mache, sagen Kenner:innen der Materie.

Und so führte der „lupenreine Diktator“ Putin sein Land am Ende in den Krieg gegen die Ukraine. Zu den Gründen für die russische Aggression gehören zweifellos sicherheitspolitische Motive; aber sie werden dominiert von Ängsten über eine Ansteckung durch den demokratischen „Virus“ in Osteuropa, vor allem in den unmittelbar benachbarten neuen selbstständigen Republiken, und von wahnhaften Fantasien über alte und neue Feinde angetrieben. Verknüpft werden sie mit geostrategischem Revisionismus, der großrussisch-nationalistische und imperialistische, ja sogar heilsgeschichtliche Tendenzen integriert.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist auch eine Herausforderung für den Institutionalismus, der sich von der wirtschaftlichen und kommunikativen Globalisierung, den wachsenden transnationalen Aktivitäten gesellschaftlicher Akteure und den damit verbundenen Verregelungen und Verrechtlichungen der internationalen Beziehungen friedensfördernde Wirkungen verspricht. Die Staaten könnten es sich schließlich nicht mehr leisten, die positiven Effekte ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten durch Krieg aufs Spiel zu setzen. Der aktuelle Einbruch in den West-Ost-Beziehungen stellt die institutionalistische Perspektive dramatisch infrage. Schon der Erste Weltkrieg hatte gezeigt, dass wirtschaftlicher Austausch nicht ausreicht, um einen großen Krieg zu verhindern, aber diese Erfahrung wurde im Globalisierungsprozess der letzten fünfzig Jahre verdrängt.

So war Ernst-Otto Czempiel, der große Pionier der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, in einem seiner letzten Bücher noch davon ausgegangen, dass der fortschreitende Übergang zur Marktwirtschaft in China als „unvermeidliches Beiwerk“ ein demokratisches Herrschaftssystem erzeugen werde. Und heute sagt Thomas de Maizière, in den Kabinetten von Angela Merkel unter anderem Kanzleramts- und Verteidigungsminister, gerade wir Deutschen als Exportnation hätten immer nach der Maxime gelebt, dass Wirtschaftsbeziehungen und gegenseitige Abhängigkeiten zu mehr Stabilität führten. Jetzt lernten wir, dass auch das eine Illusion gewesen sei.

Hier war die institutionalistische Friedens- und Fortschrittstheorie also in zweifacher Hinsicht zu optimistisch. Nach wie vor ist richtig, dass Handelsbeziehungen tendenziell die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen reduzieren; aber sie sind keine Garantie für Demokratisierung (China und Russland wollen beide Handel, aber keinen Wandel), und sie können zu heiklen Abhängigkeiten führen. Jetzt gibt es eine neue Debatte über die Risiken von Interdependenz, denn in dem Wort steckt ja nicht nur das „inter“, sondern auch die „Dependenz“.

Eine postkolonialistische Standardkritik an den üblichen vom Westen dominierten politischen und politikwissenschaftlichen Weltbildern ist ihr Eurozentrismus. Den Krieg in Europa ächten, aber Kriege im Rest der Welt geschehen lassen. Auf die russische Lügenpropaganda verweisen, aber über den auf Lügen aufgebauten Irakkrieg schweigen. Und dass anderswo für den riesigen Rohstoffbedarf gestorben wird – das sei ja nicht neu, schreibt Stephan Lessenich, der Leiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, in einem Kommentar.

Dass am westlichen Ressourcenhunger Blut klebt, und zwar nicht nur historisch, wird niemand bestreiten wollen. Auch Hinweise darauf, dass die westlichen Demokratien noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts koloniale und andere Kriege geführt haben mit Kriegsverbrechen, für die niemand zur Verantwortung gezogen wurde, sind berechtigt; freilich nicht immer.

So hat die russische Führung wiederholt argumentiert, die Nato habe doch 1999 einen Angriffskrieg gegen Serbien mit Bombenterror gegen Unschuldige geführt, und leitet daraus eine Berechtigung für ihr Vorgehen gegen die Ukraine ab. Das empirische Problem bei diesem Vergleich sind freilich eine Reihe erheblicher Unterschiede. Keine serbische Stadt sah nach den Angriffen auch nur annähernd so aus wie heute Charkiw oder gar Mariupol; in den meisten Fällen hat die Nato sehr genau militärisch relevante Ziele angegriffen. Außerdem ist der völlig andere Rahmen zu bedenken. So hatte es in Bosnien schon gut 100 000 Tote gegeben, und in Srebrenica hatten serbische Truppen mehr als 7000 gefangen gehaltene bosnische Muslime ermordet. Die Sorge, dass serbische Truppen im Kosovo ein neues Srebrenica anrichten würden, war nach den Repressionen und nach den bereits erfolgten Vertreibungen von Kosovo-Albanern nicht unbegründet.

Blickt man auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine selbst, dann kommt eine näherliegende „postkoloniale“ Dimension in den Blick. So sprechen nicht nur ukrainische Expert:innen von einer Rekolonisierungsstrategie Putins, die sich zumindest auf den ehemaligen sowjetischen Raum erstrecke. In diesem Zusammenhang wären auch Defizite in der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit zu thematisieren, in der die Opfer und die Zerstörungen in der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges nur wenig eigenes Gewicht hatten und auch der Hitler-Stalin-Pakt verdrängt wurde. Die ehemalige Imperialmacht Deutschland, so der Vorwurf von Timothy Snyder, einem der besten Kenner der Region zwischen Polen und Russland, habe viel zu lange die Klischees der russischen Imperialmacht über die Ukraine übernommen.

Diese Diskussion ließe sich weitertreiben bis zur Geschichte und Aktualität eines innerrussischen Kolonialismus. Auch Russland selbst ist ja ein Vielvölkerstaat, der durch Eroberung und Kolonisierung entstanden ist und – wie die Tschetschenienkriege gezeigt haben – auch heute teilweise nur mit Gewalt zusammengehalten werden kann. Auch Imperien erfänden ihre Traditionen, sie seien keineswegs toleranter und friedliebender als Nationalstaaten; das könne man an den völkermordenden Kaukasuskriegen Russlands schon im 19. Jahrhundert beobachten, merkt der Historiker Schulze-Wessel dazu an.

Der in vielerlei Hinsicht erfolgreiche Versuch, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue europäische Friedens- und Fortschrittsordnung einzurichten, ist am Ende an einem entscheidenden Punkt gescheitert. Machtrivalitäten zwischen dem Westen und Russland haben den Auf- und Umbruch von Anfang an begleitet, aber die Wiederkehr des Systemkonflikts geht auf das Konto der gescheiterten Demokratisierung Russlands und auf das strukturelle Legitimationsdefizit des Putin-Regimes.

In der Ukraine wird der Kampf um die Grundprinzipien der europäischen Ordnung für das weitere 21. Jahrhundert jetzt militärisch ausgefochten. Also mit Sicherheit eine Zeitenwende für Europa. Aber auch für die Welt, denn Russlands Krieg gegen die Ukraine zieht Kreise. Die Wissenschaftler, die die berühmte „Doomsday Clock“ der amerikanischen Zeitschrift „Scientific American“ alle zwei Jahr nachstellen, überlegen schon, wie weit die verbliebenen 100 Sekunden bis Mitternacht (dort stehen die Zeiger seit 2020) schon abgelaufen sind. Die Expert:innen zählen übrigens nicht nur die Nuklearwaffen und die Klimakrise zu den Hauptgefahren, sondern auch „disruptive Technologien“, die für Fake News und Desinformation eingesetzt werden.

Zu fragen ist also nicht nur, wie viele Menschenopfer der Krieg Russlands gegen die Ukraine noch fordern wird, sondern auch, was am Ende von ihm in den Köpfen der Überlebenden zurückbleibt. Es ist ja keineswegs nur Putins Krieg, sondern ein Krieg, der bislang von der Mehrheit der Russ:innen mitgetragen wird, die Putins Ressentiments gegenüber „dem Westen“ und über „die größte geostrategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ teilt, und zwar nicht nur, weil sie über Jahrzehnte gezielt und massiv desinformiert worden ist.

Selbst bei einem Systemwechsel wäre die Aufarbeitung der eigenen Geschichte und die Übernahme von Verantwortung nicht gesichert, vor allem wenn man die umfassende Militarisierung des Landes und die nachhaltige Zerstörung der russischen Zivilgesellschaft in Rechnung stellt. Alexander Solschenizyn hatte schon vor dreißig Jahren die russische Politik und seine Landsleute vergeblich vor Großmachtdenken und imperialen Fantasien gewarnt. Worauf es ankomme, sei der Blick nach innen und eine seelische Erneuerung.

Diese zugleich sowjetische und russische Erblast wird die Weltordnung noch viele Jahre beschäftigen. Nimmt man die anderen aktuellen Krisen und Zeitenwenden hinzu, dann ergeben sich schwierige Voraussetzungen für die dringend erforderliche Neuordnung der globalisierten Welt.

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