Vor 800 Jahren wurde Nichiren geboren: Du bist Buddha geworden

Zu seinem 800. Geburtstag eine Erinnerung an den Erneuerer des Buddhismus, Nichiren.
Am 30. März 1222 wurde Nichiren geboren, einer der bedeutendsten Lehrer des Buddhismus. Als Zwölfjähriger hat er zwar nicht wie Jesus im Tempel gepredigt, aber vor einer Buddhastatue darum gebetet, der „weiseste Mann Japans“ zu werden. Sein „Bergpredigt-Moment“ war, als er am Morgen des 28. April 1253 das erste Mal das Mantra „Namu Myoho Renge Kyo“ sprach, sich in Nichiren umbenannte und damit begann, seine Lehre zu verkünden.
Das Mantra ist der japanische Titel des Lotos-Sutra, also „Lehrrede von der Lotosblume des wunderbaren Gesetzes“. Das vorangestellte „Namu“ bedeutet soviel wie „Ich widme mich“. Wer einmal in Indien war, der kennt „namu“ als „namaste“. Damit begrüßt und verabschiedet man sich. Das deutsche Äquivalent ist „Gott befohlen“.
Das Lotos-Sutra hat 28 Kapitel, die zu sehr unterschiedlichen Zeiten verfasst wurden. Jedes Kapitel endet mit einer Vers-Zusammenfassung der vorangegangenen Prosarede. Nichiren stellte das Lotos-Sutra über alle anderen buddhistischen Texte. Er widmete sein Leben dieser Botschaft.
Es war die Botschaft von der Möglichkeit, schon jetzt, zu Lebzeiten, erlöst zu werden. Wer den Lehren des Lotos-Sutra und den von ihm empfohlenen Praktiken folgte, konnte jetzt schon ausbrechen aus der Kette der immer neuen Wiedergeburten. Jeder Einzelne musste den richtigen Weg finden. Die Botschaft war: Jeder konnte ihn finden. Auch Verbrecher konnten sich bekehren und wer sich bekehrte, der wurde erlöst.
Nichiren lebte in einer konfliktreichen Zeit. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts hatten die Kaiser von Japan nichts mehr zu sagen. Es war die Zeit der „Klosterkaiser“. Um die Macht im Land stritten verschiedene Clans. Von 1192 bis 1333 regierte – immer wieder auch heftig bekämpft – eine Samurai-Familie aus der Provinz Kamakura. Sie hatte das erbliche Shogunat errungen.
Mit diesen innenpolitischen Schwierigkeiten gingen einher Naturkatastrophen und Hungersnöte. Dazu kam die immer massiver werdende Gefahr einer Invasion durch die Mongolen. Sie hatten 1234 sich die Jin-Dynastie in Nordchina unterworfen, eroberten die südchinesische Song-Dynastie, drangen nach Korea vor. In China lernten sie Explosivstoffe kennen und als Waffen einzusetzen. 1271 rief Dschingis Khans Enkel Kublai Khan – uns auch aus den Berichten Marco Polos bekannt – die Yuan-Dynastie aus. Kublai Khan war Buddhist, und er machte den Buddhismus zur mongolischen Staatsreligion. Man wird Nichiren und seine Lesart des Buddhismus nicht verstehen, wenn man sie nicht auch aus dieser Konfrontation heraus begreift.
Es sei auch daran erinnert, dass Vettern Kublai Khans zur selben Zeit weit im Westen sich die russischen Fürstentümer bis nach Kiew unterworfen hatten. Nun standen die Mongolen vor den japanischen Inseln und bereiteten sich auf deren Eroberung vor.
Nichiren hatte schon früh in der Haltung der herrschenden buddhistischen Lehren einen Hauptgrund für die miserable Lage seines Landes gesehen. Sie vertrösteten die Menschen auf ein Jenseits, statt sie zu ermuntern, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und so ihre und die Lage ihres Landes zu verbessern. Nichirens Buddha meditierte nicht nur. Er war auch ein tätiger Buddha.
Das Lotos-Sutra hatte ihm und seiner Anhängerschaft die Augen geöffnet. Da war es nur konsequent, dass er als der „weiseste Mann Japans“ sich nun an den mächtigsten Mann Japans wandte. Auch er sollte erleuchtet oder wie wir – dieselbe Metapher nutzend – sagen: aufgeklärt werden. Am 16. Juli 1260 hatte Nichiren ihm eine Schrift mit dem Titel „Über die Sicherung des Friedens im Lande durch die Verbreitung des Wahren Gesetzes“ vorgelegt. Gerettet werden könne Japan nur, wenn das Land den von Nichiren gepredigten Lehren des Lotos-Sutra folgte. Tat es das nicht, blieb nur der Untergang. Der Mächtige folgte den Ratschlägen Nichirens nicht, sondern ließ ihn und seine Anhänger verfolgen. Nichiren wurde mehrmals verbannt.
1274 kam es zu einer ersten Invasion der Mongolen. Sie hatten zunächst große Erfolge, zogen sich dann aber erst einmal wieder zurück. Die schlimmsten Voraussagen Nichirens waren eingetreten. Man hatte nicht auf ihn gehört und so Japans Untergang betrieben. Nichiren zog sich auf den Berg Minobu zurück. Damals schrieb er einem Gefolgsmann: „Ich Nichiren, bin der erste Weise der ganzen Welt. Die gesamte Bevölkerung Japans vom Kaiser an der Staatsspitze bis zu den untersten Volksklassen verachten und beschimpfen mich. Sie schlagen mich mit Schwertern und Stöcken und schicken mich ins Exil. Darum haben der König der Götter Brahma, Indra, Sonne und Mond, wie auch die vier Himmelskönige einem Nachbarland befohlen, Japan anzugreifen. Wenn die Japaner nicht auf mich hören, wird es ganz Japan genauso ergehen wie heute den Regionen Iki und Tsushima.“
Von Nichiren sind einige Schriften überliefert und zahlreiche Briefe. in denen er seinen Anhängern und Anhängerinnen – es sind viele Frauen darunter – für ihre Unterstützung dankt und sie ermutigt, dem Weg des Lotus-Sutra zu folgen. Der Nonne Koninchi zum Beispiel schreibt er im Jahr 1280, sie habe gebrochen mit den drei Gehorsamspflichten der Frau – gegenüber den Eltern, dem Gatten, den Kindern – und sie habe die fünf Hindernisse, die sich einer Frau bei der Buddhawerdung in den Weg stellten, überwunden. „Du bist Buddha geworden mit deinem Körper“, schreibt er ihr.
Am 13. Oktober 1282 starb Nichiren in der Gegend des heutigen Tokio auf dem Weg zu einer Heilquelle. Heute hat Nichiren Millionen Anhänger überall auf der Welt.
Folgen wir noch ein paar Minuten Nichirens Hinweis auf das Lotos-Sutra. Ich schlage das 16. Kapitel auf. Buddha erklärt darin, er sei wirklich und wahrhaftig der Prinz, der den Palast verließ, draußen das Leiden der Kreatur sah und einen Weg fand, dem ein Ende zu machen. Das sei die Geschichte, die er erzähle, und sie sei wahr. Wie so viele andere Geschichten auch, die er über sich erzähle. Er erzähle sie so, damit die Menschen ihn verstehen könnten. Sonst könnten sie den Weg zum Heil nicht finden.
Ich lese das und erinnere mich an die Unterscheidung von Kerygma und Mythos bei dem protestantischen Theologen Rudolf Bultmann. Der unterschied 1926 in seinem Buch „Jesus“ rigoros zwischen der historischen Person und seiner Verkündigung. Nicht anders unterscheidet sich der historische Buddha von dem verkündeten. Und ebenso sind sie gleich. Im Lotos-Sutra erzählt Buddha von sich: „Alle die Welten von Göttern (Devas), Menschen und Asuras, sie alle sagen, dass Buddha Sakyamuni jetzt (zu dieser Zeit) den Palast der Familie Sakya verlassen habe, nicht fern der Stadt Gaya auf dem Platz der Erleuchtung gesessen sei und die höchste vollkommene Erleuchtung erlangt habe. Aber ihr guten Söhne, seitdem ich in Wahrheit Buddha geworden bin, sind unermessliche, unbegrenzte Hunderte von Tausenden und Zehntausenden Kalpas vergangen. (Ein Kalpa ist die Zeit, die das Universum braucht von seiner Entstehung bis zu seiner Auflösung). Angenommen, es gäbe fünfhunderttausend Myriaden Kotis Nayutas Asamkhyeyas des großen Trischiliokosmos und da wäre nun ein Mann, der sie zu winzigen Staubkörnern verriebe, dann ostwärts ginge, durch fünfhunderttausend Myriaden Kotis Nayutas Asamkhyeyas von Ländern, und ein Staubkorn fallen ließe. In gleicher Weise ginge er wieder ostwärts, bis er diese winzigen Staubkörner alle aufgebraucht hätte.“
Ein paar Zeilen weiter wendet sich Buddha, nachdem er die unvorstellbare Weite des Raumes deutlich gemacht hat, der Zeit zu und sagt: „Ein Staubkorn sei so viel wie ein Kalpa. Seit wann ich nun Buddha geworden bin, das übersteigt eine solche Zahl um Hunderte von Zehntausenden von Hunderttausenden Nayutas Asamkhyeya-Kalpas. Von dieser Zeit an bin ich weiterhin beständig hier in der Saha-Welt, predige die Lehre und lehre und verwandle und führe die Lebewesen auf den Weg und lasse ihnen Gnade zuteilwerden.“
Im Buddhismus explodierte das Universum schon sehr früh. Man wusste: Der historische Buddha ist ein Nichts angesichts dessen, dessen Verkündigung er ist. Aber Bultmann ahnte nicht, wie gigantisch sein entmythologisierter kerygmatischer Christus 1926 schon geworden war. Edward Hubble hatte 1925 festgestellt, dass das Universum größer war als unsere Milchstraße. Von den gigantischen Ausmaßen, die wir ihm heute zuschreiben, hatte er freilich noch keine Ahnung. Da war die buddhistische Mythologie näher an der Wirklichkeit.