Mobilität: Von der Freiheit jenseits des Autos

Der Straßenraum war nicht immer so ungleich verteilt, und dass Menschen den Verkehrsfluss stören, ist unlogisch. Denken wir also über die nahe Zukunft unserer Mobilität nach.
Frankfurt am Main - In ihrer Rede, die Hannah Arendt anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises 1959 in Hamburg hielt, findet sich ein bemerkenswerter Satz: „Von allen spezifischen Freiheiten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungsfreiheit nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung war.“
Heute, so darf man konstatieren, ist die uneingeschränkte Mobilität zu einem Wesensmerkmal des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats geworden. Aber zugleich wurde die freie Verkehrsmittelwahl zu ihrem Dogma. Sagt Benedikt Weibel, der viele Jahre lang Chef der Schweizerischen Bundesbahn SBB war und dennoch ein Freigeist geblieben ist, dem eine ideologische Sicht auf die Verkehrswende fremd ist. So profund wie facettenreich setzt er sich nun in einem aktuellen Buch damit auseinander (Benedikt Weibel: „Wir Mobilitätsmenschen. Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr“.) Was wiederum Anlass bietet, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie wir uns im Raum bewegen.
Das Auto spielt eine Hauptrolle
Versteht man Mobilität als Grundbedingung für den Wohlstand, dann wird zwar nachvollziehbar, dass sie permanent zunimmt. Zugleich aber verursacht sie ein Viertel des globalen CO2-Ausstoßes. Mit anderen Worten: Die Bewältigung künftiger Mobilitätsströme ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Und dabei spielt das Auto eine Hauptrolle.
1960 existierte in Deutschland noch weniger als ein Zehntel der heutigen Fahrzeugmenge: 4,49 Millionen PKWs. Ähnlich ist die Entwicklung in Frankreich, der Schweiz und anderen europäischen Ländern. Das Problem dabei ist, dass das heutige Straßennetz vor allem der Großstädte just in den Jahren um 1960 geschaffen wurde, als Autos „modern“, aber gemessen am heutigen Niveau selten waren. Sie wurden zum Schlüsselvehikel einer Stadtplanung, die Wohnen, Arbeiten und Konsum erst räumlich trennte und anschließend durch ein neues Netz aus Autobahnen, mehrspurigen Stadtringen und breiten Straßen wieder zusammenband. Auf ihm sollte das Auto den Menschen einen reibungsfreien Alltag sichern.
„Über die Hälfte aller Autoetappen sind kürzer als zehn Kilometer“
Doch so breit man die Straßen auch plante, der rasanten Zunahme des Autoverkehrs konnten sie nicht standhalten. Was indirekt offenbart, dass die Frage nach dem städtischen Autoverkehr sich nicht allein als eine nach dem sinnvollsten oder praktikabelsten Fortbewegungsmittel stellt. Gegen die nüchternen Zahlen der Statistiken stehen Vorstellungen und Bilder vom Auto, an denen nicht nur die Automobilindustrie seit den 1960er Jahren mit ihrer Werbung arbeitet.
Das Auto in der Großstadt ist für Weibel das Paradebeispiel: „Über die Hälfte aller Autoetappen sind kürzer als zehn Kilometer. Es mag gute Gründe für Kurzdistanzfahrten mit dem Auto geben, was aber einen derart hohen Anteil nicht rechtfertigt. Die gute Nachricht: Hier besteht ein großes und leicht umsetzbares Optimierungspotenzial. Der wesensgerechte Einsatz eines Verkehrsmittels kann durch technologische Entwicklungen verändert werden. Den größten Sprung machte in der jüngeren Vergangenheit das Fahrrad. Mit dem E-Bike wurden Reichweite und Geschwindigkeit in einer Weise verbessert, dass der Privatwagen im urbanen Verkehr seinen Vorteil sogar bei der Geschwindigkeit verloren hat.“
Die Stadt wird ein Netzwerk von Bewegungen im Raum
Aktuelle Untersuchungen belegen, dass eine Pkw-Fahrt von Zuhause zur Arbeit neunzigmal mehr Raum beansprucht, als dieselbe Fahrt mit Bus oder Straßenbahn, und beträchtlich mehr, als wenn ein Fahrrad benutzt worden wäre. Selbst in Kopenhagen, einer der Fahrradhauptstädte der Welt, sind 66 Prozent des Straßenraumes den Autos vorbehalten, während nur neun Prozent der Fahrten mit diesem Verkehrsmittel unternommen werden.
Der Verkehr, sagt der Lausanner Kunsthistoriker René Berger, habe ein eigenes Milieu hervorgebracht, mit eigenen, streng genormten Signalen und Zeichen. Sie sind dreieckig, kreisrund oder rechteckig, ihre Farben rot (aufpassen!) und blau (bitte!), weiß und gelb (dort entlang!). Sie bestimmen mit militärischer Rigorosität, wie wir unsere Rolle als Verkehrsteilnehmer im Stadtdrama zu spielen haben – damit wir niemanden gefährden, damit wir uns zurechtfinden. „In diesem System erhält jedoch das motorisierte ,Ich‘ einen privilegierten Platz. Damit hört die Stadt auf, als das zu existieren, was sie jahrhundertelang war, nämlich als ein Wohnort für Menschen, ein Ort ständiger Beziehung zwischen ihren Bürgern. Sie wird ein Netzwerk von Bewegungen im Raum.“ Die Zeichensprache ersetzt dabei die Wörtersprache als Mittel der Verständigung.
Die Rolle des Autos wird abnehmen
Die Mobilität in der Stadt wird künftig von einer Mischung aus langsamen und schnellen Bewegungen geprägt sein, mit ganz unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern und -mitteln im selben Raum. Die Rolle des Autos wird abnehmen, die Bedeutung der Geschwindigkeit wird sich verändern. Nicht mehr schneller und weiter weg, sondern langsamer und nicht so weit fahren. Nicht mit dem Auto oder der Schnellbahn, sondern zu Fuß und mit dem Fahrrad werden sich die Menschen in Zukunft in der Stadt bewegen. So lautet zumindest eine nachvollziehbare Vision. Die typische deutsche Antwort auf diese Herausforderung lautet: „Das müssen wir organisieren und dann verordnen.“ Dass genau das oft nicht klappt, hat man indes nicht auf dem Zettel. Könnte nicht auch das Gegenteil zum Erfolg führen? Unorganisiert und nicht verordnet? In Holland hat man deshalb das Konzept Shared Space entwickelt. Verkürzt gesagt ist das so etwas wie der sich selbst erklärende Raum. In ihm weiß jeder – egal ob Fußgänger, Auto- oder Radfahrerin – wie er sich verhalten muss, um anderen nicht zu schaden oder sich nicht selbst zu gefährden.
Wir müssen die Menschen von der Straße weghalten
In diesem Zusammenhang hat der Potsdamer Verkehrsforscher Dirk Schneidemesser darauf hingewiesen, dass sich bereits in unserer Sprache eine problematische Einstellung zum Verkehr widerspiegelt: „Wir haben seit fast einem Jahrhundert über die Sprache die Daseinsberechtigung des Autos verinnerlicht und tief in uns verankert. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Straße ein Ort, wo Kinder gespielt haben, wo man seinen Nachbarn begegnet ist, wo man auch Handel getrieben hat. Es gab Verkehr, aber das war eine von vielen Aktivitäten. Heutzutage haben wir die Vorstellung, die Straße ist da für einen einzigen Zweck: den motorisierten Verkehr. Daraus folgte die Überzeugung: Wir müssen die Menschen von der Straße weghalten, damit der Autoverkehr nicht gestört wird.“
Straßen müssen wieder zu Lebensräumen selbstbestimmter Menschen werden
Dem Shared Space liegen drei Paradigmen zugrunde: Erstens die Umgebung, die durch ihre bauliche und landschaftliche Gestaltung erkennen lässt, dass man sich unter Menschen befindet; zweitens der psychologische Aspekt, wonach weniger Regeln Unsicherheit erzeugen, was wiederum mehr Eigenverantwortung verlangt, die zu mehr Sicherheit führt; und drittens die Partizipation der Planenden, der Politik und Bürgerschaft bei der Entstehung solcher Projekte.
Nun sollte man dieses Konzept nicht überhöhen – zumal zu vermuten ist, dass es nur in Dörfern und Kleinstädten funktioniert, wohl kaum in der Großstadt, die viel zu sehr von Konkurrenzen und komplexen Überlagerungen im Raum geprägt ist. Es spielt jedoch an auf eine Verlusterfahrung: Dass nämlich der einst belebte öffentliche Raum unter parkenden Fahrzeugen und bewegten Maschinen begraben wurde. Und dass es ein wichtiges Ziel sein könnte, Straßen wieder stärker zu Lebensräumen selbstbestimmter Menschen werden zu lassen.
Natürlich: Wenn man auf selbstfahrende Autos, Drohnentaxis und Hyperloops hofft, scheint es langweilig, über Parkregeln und Radwege zu diskutieren. Aber das sind eben die „tiefhängenden Früchte“, die die Städte heute ernten können, um positive Resultate in naher Zukunft zu erhalten. Und Antworten auf die Mobilitätsfrage wird man eher in einem Mentalitätswandel finden als im neuesten Prospekt eines Autoherstellers. (Robert Kaltenbrunner)