Vom Einfangen der Begriffe

Der Opfer des Holocausts gedenken. Aber wie? Eine Tagung zum Thema.
Ist das nicht rgendwann zum Jahresanfang? Lange wurde der 27. Januar, zu dem im Deutschen Bundestag seit 1996 eine Feierstunde anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz anberaumt wird, als Datum eines ritualisierten Gedenkens abgetan. Ein paar getragene Reden – und dann zurück in die Niederungen von Gesetzgebung und Debatte. Mein persönliches Konversionserlebnis in der Wahrnehmung der Veranstaltung hatte ich 2012 – als Berichterstatter durfte ich dem Vortrag des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki beiwohnen.
Vom Bundespräsidenten Christian Wulff gestützt, hatte er am Rednerpult Platz genommen und suchend zur Kanzlerin aufgeblickt. Beinahe zärtlich gab diese ihm das Zeichen, zu beginnen. „Ich soll hier eine Rede halten“, sagte Marcel Reich-Ranicki und schlug eine Ringmappe auf. Das Sprechen fiel dem 91-Jährigen schwer. Um klare Intonation ringend, berichtete er über wenige Tage aus seinem Leben. Es war der 22. Juli 1942, als die Nazis unter der Leitung des SS-Sturmbannführers Hermann Höfle, einem selbstherrlichen Zyniker, die Deportationen der Juden des Warschauer Ghettos in die Vernichtungslager anordneten.
Marcel Reich-Ranicki hielt keine Rede, er trug einen von ihm geschriebenen Text vor. Jene trotzige Spontaneität, die ihn zu einer populären Fernsehberühmtheit gemacht hatte, schien er sich hier zu verbieten. Es war ein Stück Literatur, das Marcel Reich-Ranicki in den Raum stellte. Er gab Zeugnis davon, wie er als Protokollant und Übersetzer, als der er abgestellt war, zugleich das Todesurteil über die Warschauer Juden aus der Sprache der Täter in jene der Opfer zu übertragen hatte. Vielleicht schon in dem Moment, ganz sicher aber gut ein Jahr später, als sich die Nachricht seines Todes verbreitete, wurde mir bewusst, wie viel ihm dieser Auftritt im deutschen Parlament bedeutet haben musste.
Die Entscheidung, den Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr all jenen zu widmen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verfolgt und ermordet wurden, stellt einen Bruch mit der Tradition dar, Zeitzeugen oder Zeitzeuginnen zu Wort kommen zu lassen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble soll es gewesen sein, der während seiner Amtszeit beharrlich an der Einladung von Überlebenden des Holocausts festgehalten habe. Bedeutet die Fokussierung auf eine Opfergruppe nun einen bewusst herbeigeführten Abschied von der sogenannten Erlebnisgeneration? Oder ist es gar eine intendierte Verschiebung auf das Thema „Opferkonkurrenz“?
Ich war mir nicht sicher, aber Wissenschaft kann helfen. Unter der Worttrias „Wissen, Erinnern, Fragen“ hat der Fischer-Verlag am Donnerstag im Berliner Magnus-Haus, direkt gegenüber der Museumsinsel, eine Tagung organisiert, auf der die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Gegenwart in den Blick genommen wurden. Der Verlag möchte so auch an seine Schwarze Reihe erinnern, die ein publizistischer Meilenstein in der wissenschaftlichen Bearbeitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist.
Die Berliner Rassismusforscherin Manuela Bojadzijew bejahte dabei ganz ausdrücklich das neue Gesicht des Holocaust-Gedenktags. Die Erinnerung an die Opfer sexueller Unterdrückung wollte sie weniger als Hervorhebung einer Opfergruppe verstanden wissen, vielmehr komme es darauf an, die Verbindungen zwischen diesen zu sehen. Die Verfolgung der Juden sei nicht zuletzt über Stereotype der Sexualisierung verlaufen. Das gelte es noch genauer herauszuarbeiten.
Ein auf den verschiedenen Panels wiederkehrendes Thema war die Selbstgewissheit der Deutschen, sich hinreichend mit der Geschichte des Holocaust beschäftigt zu haben. Man habe sich allzu behaglich in einem „Versöhnungstheater“ eingerichtet, lautet der bissig-polemische Vorwurf des Autors Max Czollek, der in anderen Worten auch auf der Tagung seinen Niederschlag fand. In mancherlei Hinsicht, so konstatierte etwa Stefanie Schüler-Springorum, die Leiterin des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, sei die Zeit nach 1945 nicht weniger schrecklich gewesen als die Jahre davor.
Tatsächlich? Erlauben die nun wieder stärker wahrgenommenen Kontinuitäten und Verlängerungen des NS-Staates in die junge Bundesrepublik eine derart affektive Bewertung? Und wird es dem institutionellen und gesellschaftlichen Rahmen gerecht, der durch zivilgesellschaftliches Engagement und Mahnmale, aber auch durch Forschungseinrichtungen und der literarischen Durchdringung von Familiengeschichten geschaffen worden ist? Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, schlug vor, genauer zwischen Gedenkkultur und Erinnerungspolitik zu unterscheiden. Gerade Letztere sei von vielfältigen Interessen überlagert.
Dumm nur, dass begriffliche Disziplin nicht gerade zu den Merkmalen von immer öfter aus dem Ruder laufenden Debatten gehört. Unsere Debattenkultur sei krank, sagte Mendel. „Wir müssen heraus aus dem Modus der Selbstgewissheit, immer schon auf der richtigen Seite zu stehen.“ Beim Lamento über die schlimmen Auswüchse der Gesprächskultur wollte es aber auch niemand belassen. Es sei schon in Ordnung, so steuerte der Historiker Michael Wildt aus dem Publikum bei, wenn beherzt gestritten werde.
Dem deutsch-israelischen Soziologen Natan Sznaider schien der versöhnliche Ton des Nachmittags nicht zu behagen. Man müsse sich, so seine provozierende These, nicht nur mit dem Antisemitismus beschäftigen, sondern auch mit dem Anti-Antisemitismus. Die Juden seien nun einmal anders, auf diesem Bewusstsein beruhe das Empowerment des Zionismus, und es könne nicht angehen, die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden als Reaktion auf Antisemitismus einfach wegzuwischen. Er sei nun einmal, so Sznaiders skeptische Intervention, Teil des Betriebssystems der Moderne.
Wissenschaft, so könnte man vielleicht schließen, ist nicht nur zuständig für sorgfältige Analysen und die Darstellung historischer Fakten. Manchmal kommt es auch auf die Hervorbringung trefflicher Bilder an. Ganz in diesem Sinne sagte Natan Sznaider, er komme sich manchmal vor wie auf einem Pferdehof, auf dem jemand die Stalltür aufgelassen hat. Und seine Aufgabe sei es nun, statt der entlaufenen Pferde die Begriffe einzufangen. Und so trabten an diesem Vortag des Holocaust-Gedenktags Rassismus, Kolonialismus, Antisemitismus, Migration, Xenophobie sowie einige andere bunt und munter durcheinander.