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Volkszählung 1983: Als der Staat seine Schäflein zählen wollte

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Von: Arno Widmann

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Volkszählung 1983 – Plakate mit dem Aufruf zum Boykott der ersten Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland.
Volkszählung 1983 – Plakate mit dem Aufruf zum Boykott der ersten Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland. © Friedrich Stark/Imago

Die 1983 geplante Volkszählung führt zu vielen Protesten, bis sie vom Bundesverfassungsgericht gestoppt und einkassiert wird

Am 13. April 1983 stoppte der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe mit einer einstweiligen Anordnung die für April und Mai vorgesehene Volkszählung. Geplant war eine Totalerhebung für statistische Zwecke, Zehntausende Helfer und Helferinnen standen bereit, um von Haustür zu Haustür, von Wohnung zu Wohnung zu ziehen, um jeden und jede zu befragen und die Ergebnisse auf Millionen Fragebögen festzuhalten.

Dagegen war eine breite Protestbewegung entstanden. Sie wurde aus den unterschiedlichsten Beweggründen gespeist. Die Fraktion „Feuer und Flamme für diesen Staat“ war dagegen, weil sie gegen diesen Staat war. Andere erinnerten an das Konzept der „formierten Gesellschaft“, die Ludwig Erhard in den 60er Jahren gefordert hatte. Die geplante Volkszählung schien ein neuer Versuch, den Staat mit Material zu versorgen, die Gesellschaft von oben durchorganisieren zu können.

Es gab natürlich auch Menschen, die keine Lust hatten, nach ihren illegal gebauten Garagen oder nicht angemeldeten Zweitwohnungen oder Untervermietungen befragt zu werden. Nicht zu vergessen diejenigen, die einfach möglichst wenig Kontakt mit staatlichen Stellen haben wollten. In diesem Spektrum bewegten sich viele, die einen Begriff hervorholten, den sie ein paar Jahre lang nicht mehr benutzt hatten: Faschisierung. Man warf der Bundesrepublik nicht vor, faschistisch zu sein, aber doch faschistoide Züge zu haben und immer wieder der Versuchung zu erliegen, Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Es waren Begriffe wie „Totalerhebung“ die den antitotalitär geeichten Seismographen dieser Gruppen heftig ausschlagen ließen.

Es gab in der Anti-Volkszählungsbewegung auch Menschen, die den Erhebungswahn belächelten und meinten: Je mehr Daten zusammenkamen, desto unwahrscheinlicher sei, dass sich mit ihnen noch sinnvoll umgehen ließe.

Es wäre müßig, heute Vernunft und Unvernunft der einen oder der anderen damaligen Ansicht abwägen zu wollen. Aber es ist wichtig, nie zu vergessen, wie sich dergleichen mischt und wieder auseinander dividiert und wieder neu verbindet.

Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Volkszählung erst einmal zu stoppen, hatte dieser breite öffentliche Protest nichts zu tun. Das Gericht hatte am Vortag drei Stimmen gehört, die gegen das Volkszählungsgesetz Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten. Es sah sich außer Stande, sofort eine Entscheidung zu treffen, erklärte aber, die Einwände seien so fundiert, dass die Volkszählung bis zu einer endgültigen Entscheidung des Verfassungsgerichts erst einmal nicht stattfinden dürfe.

Das zweite Kabinett Kohl – eine Koalition von CDU/CSU und FDP – war 14 Tage zuvor gebildet worden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war ein Schlag ins Gesicht der Regierung – ausgeführt vom CDU-Mitglied und ehemaligen Innenminister Ernst Benda (1925–2009), dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Benda war als Innenminister eines der Hassobjekte der Anti-Notstandsbewegung. Aber er war auch der Abgeordnete, der sich 1965 in einer der großen Parlamentsreden der BRD anders als viele seiner Fraktionskollegen gegen eine Verjährung der NS-Verbrechen ausgesprochen hatte.

Am Mittwoch sprach ich mit Gunther Freiherr von Mirbach. Er ist Rechtsanwalt und stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Adendorf. 1983 war er einer der drei, deren Klagen das Bundesverfassungsgericht zugelassen hatte. Damals war er gerade 27 Jahre alt und stand kurz vor Abschluss seines Studiums.

Er hatte einen völlig anderen Blick auf das Volkszählungsgesetz als dessen bisher erwähnten Gegner. Er hatte nichts gegen eine Totalerhebung. Er hielt sie für notwendig. Ein Staat ist ganz wesentlich zuständig für die Daseinsvorsorge seiner Bürger. Das kann er nur, wenn er über deren Lebensumstände Bescheid weiß. Was also störte ihn? „Der Abgleich mit den Melderegistern. Das Volkszählungsgesetz erlaubte die Weitergabe der erhobenen Daten an andere staatlichen Stellen. Es war also nicht garantiert, dass es ausschließlich statistischen Zwecken diente. Darum reichte ich Verfassungsbeschwerde ein. Mit der vom Gesetz erlaubten Weiterreichung der Daten der statistischen Erhebung an Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden wurden meines Erachtens die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen angegriffen.“

Gunther von Mirbach war und ist CDU- und Junge-Union-Mitglied. Ich stelle mir gerne vor, wie Helmut Kohl (1930–2017) damals in seinem Büro, umgeben von seinen Vasallen, schäumte über Benda, aber wohl auch über von Mirbach. Immerhin hatte nicht nur die Bundesregierung, sondern es hatten auch sämtliche Landesregierungen – mit der einzigen gloriosen Ausnahme der Freien und Hansestadt Hamburg mit dem Ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi – das Gesetz für verfassungskonform erklärt. Und wie er wütend telefoniert haben wird, der Bundeskanzler! Hier geht womöglich meine Fantasie mit mir durch. Von Mirbach machte immerhin, gefördert von Christian Wulff, Karriere in CDU und Junger Union.

„Herr von Mirbach, wann sind Sie geboren?“

„Jetzt wollen Sie meine Daten abfragen.“

„Es gibt keinen Wikipedia-Eintrag über Sie.“

„Am 26. Februar 1956.“

„Es gibt keinen Wikipedia-Eintrag, weil Sie Ihre Daten nicht rausrücken wollen? Sie verteidigen Ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung?“

„Nein, nein, nein. Wikipedia hat es abgelehnt, einen Beitrag über mich zu veröffentlichen. Ich bin denen zu unwichtig.“

Von Mirbach hat wesentlich dazu beigetragen, dass es zu einem der wichtigsten Urteile des Bundesverfassungsgerichts kam. Zum sogenannten Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983. Das erklärte das Bundesgesetz aufgrund zahlreicher gravierender Eingriffe in die Grundrechte des Einzelnen für teilweise verfassungswidrig und also nichtig. Das Urteil prägte einen neuen Begriff und einen neuen Tatbestand: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Das Bundesverfassungsgericht erschloss das aus Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes, also aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde, und aus Artikel 2, Absatz 2, aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts heißt es: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. (...) Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“

Das Verfassungsgericht hat mit seinem Urteil die Einwirkungsmöglichkeiten des Staates eingeschränkt und ist damit in wichtigen Teilen von Mirbachs Antrag entgegengekommen.

„Ist es aber nicht interessant, dass es in Passagen wie diesen ganz ohne den Staat auskommt, sondern von ,Gesellschaft‘ und ,Gemeinwesen‘ spricht? Gibt das nicht eine Handhabe, um gegen die heute bei nahezu jedem Klick im Internet drohenden Verstöße gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht vorzugehen? Wir können doch heute überhaupt nicht mehr wissen, ,wer was wann und bei welcher Gelegenheit‘ über uns etwas weiß. Was meinen Sie, Herr von Mirbach?“

„Die Daten, die wir heute im Internet mit einem Klick freigeben, geben wir freiwillig und zur Erreichung eines konkreten – nicht eines abstrakten – planerischen Vorhabens des Staates – heraus. Wir geben sie einem Vertragspartner. Mit diesem besteht ein Gleichordnungsverhältnis. Wenn wir aber mit dem Staat zu tun haben, besteht ein Über-/Unterordnungsverhältnis, der Staat verlangt etwas vom Individuum, und da geht es eben um die Frage, ob er das darf. Darüber wachen die Grundrechte und schließlich das Bundesverfassungsgericht. Dieses verhilft den Grundrechten als Abwehrrechten gegen die Übermacht eines Staates, wenn die Verhältnismäßigkeit und die Erforderlichkeit des Verlangens nicht hinreichend zu begründen sind. Das Bundesverfassungsgericht tariert das Machtverhältnis so aus, dass wir nicht der Willkür eines allmächtigen Staates wehrlos ausgesetzt sind.“

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