Vietnam: Ein Krieg geht zu Ende

Vor fünfzig Jahren zogen die USA sich aus Vietnam zurück – eine Erinnerung an eine Zeit, die eine ganze Generation prägt, an Protest und an ausgeblendete Wirklichkeiten.
Am 27. Januar 1973 unterzeichneten in Paris die USA, Nordvietnam und Südvietnam das „Abkommen über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam“. Der Krieg zwischen Nord- und Südvietnam ging weiter. Er wurde erst 1975 beendet, als die Truppen des Nordens den Süden ganz unterworfen hatten.
Der Vietnamkrieg war der Krieg meiner Generation – ich wurde 1946 geboren. Nicht weil wir ihn geführt hätten – US-amerikanische und vietnamesische Altersgenossen waren es, die starben oder verkrüppelt wurden –, wir aber waren mit ihm aufgewachsen und er mit uns. Wir wurden zusammen größer.
Vietnam war weit weg. Saigon ist von Frankfurt mehr als 9600 Kilometer Luftlinie entfernt. Aber es war ein Spiegel, in dem wir uns wiedererkennen konnten. Was wir wiedererkannten und was nicht, frappiert mich heute.
„Klein gegen Groß“ – die größte Macht der Welt führt Krieg gegen ein kleines Land, das schon im von der französischen Kolonialmacht verlorenen achtjährigen Indochinakrieg weitgehend zerstört worden war, mit Hunderttausenden Toten und Geflüchteten. Und der Riese schafft es nicht, den Zwerg niederzuzwingen. Das gefiel mir. Washington ist von Saigon knapp 14500 Kilometer Luftlinie entfernt. Für mich war die Sache klar: Die USA hatten in Vietnam nichts verloren. Selbst wenn in Südvietnam kein Diktator, sondern eine aus freien Wahlen hervorgegangene Führung regiert hätte, wären es doch die Menschen in Vietnam gewesen, die über ihr Schicksal zu entscheiden hatten, nicht die USA.
Vietnam war seit 1954 geteilt. Der Norden wurde von der Sowjetunion und China unterstützt, der Süden – jedes Jahr mehr – von den USA. Die Parallele zu Ost- und Westdeutschland war nicht zu übersehen. Aber genau das tat ich damals. Die Menschen in Vietnam hatten ein Recht auf Wiedervereinigung, die Deutschen hatten es nicht.
Ich skandierte Ende der Sechziger nicht „Frieden für Vietnam“, sondern „Waffen für den Vietcong“. Ich hatte den Kriegsdienst verweigert, aber im fernen Vietnam war ich Kriegspartei. Die buddhistischen Mönche, die sich aus Protest gegen das Regime in Südvietnam öffentlich verbrannten, gingen den falschen Weg. Sie hätten sich der Volksbefreiungsarmee, der FNL, dem Vietcong also, anschließen sollen, befand ich. Das hatte etwas Lächerliches, war mein Hauptaufenthaltsort damals doch der Lesesaal der Universitätsbibliothek.
Ich wusste nichts vom Krieg. Mein Vater erzählte nichts. Ich fand Krieg schrecklich. Also auch schrecklich uninteressant. Aber jetzt lernte ich. Das Fernsehen lieferte jeden Abend Bilder aus dem Krieg und Landkarten, auf denen die Namen immer neuer Ortschaften standen. In der Bibliothek schlug ich auf Landkarten nach, um den Frontverlauf verstehen zu können.
Dazu die Namen der Protagonisten in Vietnam und in den USA. Die meisten Leserinnen und Leser werden nie etwas gehört haben von Vo Nguyen Giap (1911–2013). Dabei besiegten unter seiner Führung vietnamesische Truppen nacheinander Frankreich und die USA. Er veröffentlichte ein Handbuch der Guerillataktik, das ich unter der Büste Horkheimers im Lesesaal las. Daraus lernte ich, wie dumm es war, in einem asymmetrischen Krieg – der Begriff kam erst sehr viel später auf - so starr auf den Frontverlauf zu blicken, wie ich das getan hatte.
1967 veröffentlichte André Glucksmann sein Buch „Le discours de la guerre“. Ich vergrub mich darin, ging seinen Hinweisen auf Clausewitz nach, las die 1963 erschienene „Theorie des Partisanen“ von Carl Schmitt. Ich entdeckte den Krieg. In den Büchern. Und auf der Straße. Unsere Demonstrationen verschafften uns das Gefühl – mitten im Frieden –, doch dabei zu sein im Krieg um die Weiterentwicklung von Welt und Menschheit. Hunderttausende saßen damals in kleinen Gruppen beieinander und lasen Marx und Engels, Lenin und Mao, Castro und Guevara. Wie macht man eine Revolution? Wie stürzt man eine Regierung? Was ist eine Stadtguerilla? Wie gewinnt man dafür die Bevölkerung?
Heute sieht man nur noch die Komik oder den Wahnsinn in diesen Auseinandersetzungen, aber damals führten wir sie im Ernst. Wir sahen, dass nichts so fest gebaut ist, dass es nicht im nächsten Moment einstürzen könnte. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle, ein kampfgewohnter General, war im Mai 1968 vor Dany Cohn-Bendit und seinen Freunden ausgerechnet nach Baden-Baden geflohen. In Vietnam hatte die Tet-Offensive von Nordvietnam und Vietcong gegen Südvietnam und die USA gezeigt, dass der Norden nicht mehr zu schlagen war. Eine wichtige Lektion.
Sie ließ uns eine andere beinahe übersehen: die Niederschlagung des Prager Frühlings, der kommunistischen Reformbewegung, durch Truppen des Warschauer Pakts. Prag ist nur etwas mehr als 400 Kilometer von Frankfurt entfernt. Aber das Geschehen dort nahm mich nicht so gefangen wie das im mehr als zwanzig Mal so weit entfernten Vietnam.
Einen Guerillakrieg gegen die Sowjetarmee zu führen, wollte niemand von uns der benachbarten Bevölkerung in der Tschechoslowakei vorschlagen. So widerwärtig wir auch das Vorgehen der Sowjetunion fanden. Die USA senkten den Blick, murmelten ein paar Einwände und fanden am Ende, die Sowjets könnten in ihrem Machtbereich tun, was sie wollten.
Der Krieg in Vietnam ging, so dachten wir 1968, dem Ende entgegen. Das war richtig. Aber es war auch falsch. Der Vietnamkrieg lehrte uns, dass Verhandlungen und Krieg kein Gegensatz sind, sondern sich gegenseitig nähren. Verhandlungen schreien geradezu nach intensiverer Kriegsführung.
Die Stärke der Verhandlungsposition hängt ab von der auf dem Schlachtfeld. Auf den Schlachtfeldern. Die öffentliche Meinung, auch das wurde uns immer bewusster, ist eines von ihnen. In Vietnam intensivierten beide Seiten, je näher das Ende des Krieges rückte, ihre kriegerischen Aktionen. Die USA überfielen Kambodscha mit den bekannten verheerenden Ergebnissen.
Der Vietnamkrieg zeigte uns, dass es lohnt, sich zu wehren. So ganz sicher waren wir uns dessen allerdings nicht. Unsere Sache hatte gesiegt. Aber der Sieg schmeckte uns nicht. Das kommunistische Vietnam – der siegreiche Norden – steckte nach 1975 Hunderttausende in Umerziehungslager. Das Fernsehen zeigte uns unsere ersten „Bootsflüchtlinge“, Menschen, die vor dem neuen Regime in selbst noch die ungeeignetsten Boote flüchteten und mit ihnen übers Meer zu fahren versuchten. Wir wollten auf der richtigen Seite gestanden haben, jetzt aber galt es, die „Boatpeople“ zu unterstützen.
Der Vietnamkrieg belehrte uns über die Unausweichlichkeit der Nebenwirkungen unserer Handlungen. Es half wenig, sich für die vermeintlich richtige Seite zu entscheiden, wenn man sich nicht darauf vorbereitete, auch für die Folgen dieser Entscheidung aufzukommen.
Der Krieg, hatten wir bei Clausewitz gelernt, ist „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Das ließ uns begreifen, dass die nicht das Gegenteil von Krieg ist, sondern auch ein Mittel, ihn zu führen. Wir lernten das damals am Vietnamkrieg und an den Auseinandersetzungen um ihn. Wir lernten es natürlich auch von den vorhin erwähnten sozialistischen Klassikern.
Vor allem aber nahm der Vietnamkrieg uns die Illusion, im Frieden zu leben. So fern er war, wir waren täglich mit ihm beschäftigt. Er war unsere Obsession.
Wir versteckten US-Bürger, die vor der Einberufung flohen. Wir verbrannten US-Fahnen, attackierten US-Niederlassungen. Kaum eine Woche während des Semesters – so meine sicher übertriebene Erinnerung -, in der wir nicht gegen den Krieg, gegen irgendein neues Kriegsverbrechen der USA zu Felde – die Bockenheimer Landstraße, die Zeil entlang – zogen.
Nach vielen Monaten war es uns gelungen, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu einer Diskussion über den Krieg zu bewegen. Ich erinnere mich, wie Adorno leise und wie um Verzeihung bittend zu uns aufgeregten jungen Männern – es waren damals allenfalls ein halbes Dutzend Frauen bei dieser Sitzung dabei – sagte: „Ich werde die USA nicht kritisieren. Sie haben uns das Leben gerettet.“ Unsere Kritik an den USA vergaß nur zu oft, dass wir das Leben, das wir führten, den USA verdankten.
Aber „die USA“ gibt es nicht. Auch das wurde uns während des Vietnamkrieges klar. Es gab die Regierung, die nicht davor zurückschreckte, in allen Ecken der Welt Diktatoren zu unterstützen. In Vietnam etwa hatte der Süden freie Wahlen abgelehnt. Und es gab zugleich eine wachsende Opposition genau gegen diese Praktiken. Heute ist viel davon die Rede, die Gesellschaft der USA sei tief gespalten. Das war sie damals noch mehr. Es gab Bewaffnete auf der äußersten Rechten und auf der Linken. Es gab sie bei Weißen und Schwarzen. Es gab keine Stadt ohne „Rassenunruhen“. Die USA fanden daraus heraus. Für eine Weile. Vietnam brachte uns bei, dass auch ein Krieg zu Ende geht. Wie der Frieden.