Verstorbener Komponist Ryuichi Sakamoto: Die aufbauenden Beats der Melancholie

Zum Tod des japanischen Komponisten und Pop-Virtuosen Ryuichi Sakamoto.
Das Verhältnis zwischen Musik und Bild ist selten gerecht. Das Ideal von Synästhesie bleibt meist ein Traum, denn wer zuerst da ist, gewinnt – und das ist meist das Bild. Legionen von Filmkomponisten beklagten sich über all die unmusikalischen Regisseure, die ihre Hervorbringungen wahllos zerschnitten oder mit Sprache und Geräuschen übertönten.
Ryuichi Sakamoto muss dieses Kräfteverhältnis gleich bei seinem ersten Auftrag für Nagisa Oshimas Kriegsgefangenendrama „Furyo – Merry Christmas Mr. Lawrence“ durchschaut haben. Der 30-Jährige spielte neben David Bowie selbst eine tragende Rolle, sah blendend aus – aber fand sich fürchterlich. Also übertönte er, wie er gern erzählte, sein Spiel hemmungslos in seiner zweiten Rolle als Filmkomponist, und Oshima hatte offensichtlich nichts dagegen. Sakamotos ganzes Werk – in Pop, zeitgenössischer Konzertmusik und Filmkomposition – sollte sich fortan geltenden Hierarchien widersetzen.
Wie er 2018 in einem Interview mit der iranisch-amerikanischen Regisseurin Shirin Neshat ausführte, das man bei Youtube sehen kann, fand er den Schlüssel für sein Musikverständnis schon als Kind. Wie ungerecht erschien es ihm, dass die linke Hand nur die rechte begleiten sollte. Dann aber entdeckte er Johann Sebastian Bach, und die Töne liefen plötzlich Hand in Hand.
Tatsächlich blieb der Kontrapunkt die Konstante seines Werks. Wohl kein Komponist der Gegenwart – abgesehen vielleicht von Beatles und Quincy Jones – verfügte über eine solche stilistische Bandbreite. „Ich bin einfach schizophren“, fasste er den Umstand zusammen, dass nach einem House-Album eine Hip-Hop-Platte kam, danach etwas für Soloklavier, dann ein Werk für Sinfonieorchester oder eine Filmmusik. Und auch in dieser Gattung konnten es gewaltige Epen sein wie Bertoluccis „Der letzte Kaiser“, der ihm 1988 gemeinsam mit David Byrne den Oscar eintrug oder ein kleiner künstlerischer Film wie Neshats deutsch-österreichisch-französische Koproduktion „Women Without Men“.
War Sakamoto in Japan das Ähnlichste zu einem westlichen Popstar, besetzten westliche Filmproduktionen ihn gern als Brücke für außereuropäische Klangfarben. Tatsächlich konnte sich der Japaner auf eine unorthodoxe Art in die Klänge der Welt einführen. „Ich bin viel auf Reisen, und wo immer ich bin, lausche ich auf das klangliche Ambiente. Am liebsten möchte ich sofort alles aufnehmen.“ Der Schlüssel zu seiner stilistischen Bandbreite war dabei auch in der Filmmusik nicht die Imitation, sondern das Einfühlungsvermögen – mit dem Selbstbewusstsein, sich stets unverkennbar einzubringen. Zu seinen besten Soundtracks zählen so unterschiedliche Werke wie „Himmel über der Wüste“, „Tokio Dekadenz“, „Little Buddha“ oder „The Revenant – Die Rückkehr“.
Sein Studium an der Tokioter Kunst- und Musikhochschule hatte er Anfang der 70er Jahre auf die Schwerpunkte elektronische und ethnische Musik gelegt. Das erste Album, an dem er mitwirkte, ist „Intimate“ des Jazz- und Improvisationskünstlers Keizo Inoue. Sein erstes eigenes Soloalbum, „Thousand Knives of Ryuichi Sakamoto“ (1978) zeugt bereits von enormer Spannbreite – und etablierte zugleich das Star-Image des stilistisch ebenso wagemutigen wie unfehlbaren Dandy-Virtuosen vom Schlage eines David Bowie oder Brian Ferry. Von einem Mao-Gedicht geht es über einen jazzigen Reggae-Track und von dort zu einer zehnminütigen elektronischen Komposition, die Inselgeräusche evoziert. Die frühe Verwendung eines Drum-Computers weist weit in die 80er Jahre voraus, während der Ausklang mit „Der Osten ist rot“ die China-Begeisterung des 26-jährigen dokumentiert.
Festlegen ließ sich der früh Vollendete allerdings auf kaum eine stilistische Präferenz. Umso mehr schien seine besondere kompositorische Begabung durch, besonders im Melodischen, die den Popstar in den Hintergrund treten ließ. Was sich als Konstante durchs ein Werk zieht, ist ein melancholisches Grundgefühl, das paradoxerweise in der Art seines musikalischen Vortrags immer etwas Aufbauendes hat.
Es gab nichts, wofür er sich zu schade war, er konnte den Klang eines Parfüms vertonen oder – schon 1984 – für Suntory-Whisky werben, freilich mit Andy Warhol als Porträtisten. Politisch zählte der Musiker zu den prominentesten Kritikern der Atomkraft und bekämpfte das Aufkommen eines neuen Militarismus und verschärfter Sicherheitsgesetze unter dem konservativen Premierminister Abe.
Erst Sakamotos lebensbedrohliche Krebsdiagnose im Jahr 2014 brachte die immense Produktivität vorübergehend zum Innehalten. Die Suche nach neuen, minimalistischeren Klängen, die seine Rückkehr ins Leben begleitete, wurde vom Dokumentarfilmer Stephen Nomura Schible über fünf Jahre für den Film „Ryuichi Sakamoto – Coda“ begleitet – selbst ein Meisterwerk in seiner Gattung. Sakamotos kurzes zweites Leben führte zu einer eigenen Werkphase höchster emotionaler Wirkungskraft, gekrönt durch sein Album „12“, das im vergangenen Januar erschien und bereits von der Rückkehr der Krankheit gezeichnet ist. Ein Solo-Klavierkonzert ohne Publikum, das am 11. Dezember digital ausgestrahlt wurde, wirkte bereits wie ein Abschied – zerbrechlich und doch von bebender Kraft.
Am 2. April bestätigten Angehörige das auf Sakamotos Twitteraccount bereits vermeldete Todesdatum. Am 28. März ist er 71-jährig in Tokio gestorben.