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Nach offenem Brief an Olaf Scholz in der „Emma“: Von der Unterzeichneritis

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„Es war ein Fehler“: Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, hier bei einer Lesung in der Berliner Akademie der Künste im Jahr 2019, hat ihre Unterschrift unter den „Emma“-Brief zurückgezogen.
„Es war ein Fehler“: Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, hier bei einer Lesung in der Berliner Akademie der Künste im Jahr 2019, hat ihre Unterschrift unter den „Emma“-Brief zurückgezogen. © Berliner Akademie der Künste/Imago

Offene Briefe sind gerade wieder beliebt. Das sagt vor allem viel über die Bedürfnisse der Beteiligten.

Seit einiger Zeit steht eine Kommunikationsform wieder hoch im Kurs, die auf den ersten Blick ziemlich altmodisch erscheint: Der offene Brief. Gerade sorgte ein Appell in der Zeitschrift „Emma“ für viel Aufmerksamkeit, der direkt an Bundeskanzler Olaf Scholz gerichtet war und in dem eine Reihe bekannter Medienpersonen davor warnte, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern.

Der Brief, den unter anderem Alice Schwarzer, Dieter Nuhr, Lars Eidinger und Juli Zeh unterzeichnet haben, erzeugte rasch ein wildes Diskursereignis und hatte zur Folge, dass die Beteiligten in zahlreiche Medien eingeladen wurden. Dort durften sie sich dann über die Empörung beschweren, die der Appell ausgelöst hatte. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel etwa beklagte im Gespräch zu seiner Unterschrift im Tagesspiegel den „Aufstand der antipluralistischen Moralisten“, der ihm und den anderen Unterzeichnenden entgegengeschlagen sei.

Offene Briefe und der Schrei nach „Cancel Culture“ und Anti-Pluralismus: Allemal vorne dabei

Es ist ein seltsamer performativer Widerspruch, wenn die Protagonistinnen und Protagonisten eines offenen Briefes, der hundertfach in den etablierten Medien multipliziert wird und dessen Unterzeichner und Unterzeichnerinnen sich danach in dutzenden Medien äußern dürfen, über Anti-Pluralismus klagen. Allerdings gehört diese Klage mittlerweile zur festen Choreografie des offenen Briefes, denn damit versichern sich die Unterzeichnenden einerseits ihres Mutes, andererseits ihrer Relevanz. Ein Gegenbrief (in diesem Fall in der Zeit) wiederum verlängert die Debatte und erzeugt weiteren Bedarf an Medienauftritten.

Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, dass offene Briefe für Menschen, die davon leben, in der Öffentlichkeit zu stehen, attraktiv sein können. Wer auf der Liste der Erstunterzeichnenden steht, gehört zum Kanon derjenigen, die im Diskurs ihre Stimme erheben dürfen. Jeder Unterzeichnende bringt sich in die Gesellschaft anderer wichtiger Menschen und partizipiert so an deren kulturellem Kapital. Zudem wird die eigene Sichtbarkeit erhöht, der eigene Name erklingt im öffentlichen Raum und wird dadurch einprägsamer.

Nach offenem Brief in der Zeitschrift „Emma“: Sparsamkeit wäre Wünschenswert

Das mag auch der Grund sein, warum im Offenen-Brief-Business zuweilen eine gewisse Wahllosigkeit zu beobachten ist. Im September 2020 berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ) über den „Appell für freie Debattenräume“, einen offenen Brief, den, wie es im Artikel hieß, „bekannte Köpfe der rechtskonservativen Infosphäre“ initiiert hatten. Unter den Prominenten, die unterzeichneten, befand sich Alexander Kluge, der den Brief aber offenbar mit einem anderen Appell dieser Art verwechselt hatte. Am Telefon sagte er den Autoren der SZ, der Brief sei ihm von einer Mitarbeiterin vorgelegt worden und er wolle seine Unterschrift nun wieder zurückziehen.

Man könnte meinen, dass ein solcher Vorgang, der eine seltsame Sorglosigkeit beim Hergeben des eigenen Namens andeutet, dazu führen würde, erst einmal keine umstrittenen Briefe mehr zu unterschreiben. Aber auch beim „Emma“-Brief war Kluge wieder dabei und er gab auch danach im Deutschlandfunk das obligatorische Interview. Zurückgezogen hat ihre Unterschrift unter den „Emma“-Brief hingegen schon wieder die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, die in der „Süddeutschen Zeitung“ unter dem Titel „Es war ein Fehler“ noch einmal ausgiebig darüber Bericht erstattete, was sie zu ihren Entscheidungen jeweils bewegt habe.

Es wäre zu wünschen, dass diese Ereignisse dazu führen, dass Intellektuelle ihre Unterschriften unter all die offenen Briefe, die zirkulieren, etwas sparsamer setzen würden. Aber so lange man dafür vor allem mit noch mehr Aufmerksamkeit belohnt wird, wird auch die grassierende Unterzeichneritis nicht aufhören. (Johannes Franzen)

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