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Ukrainische Künstlerin Olia Fedorova in Charkiw: „Wir haben keine Zeit für Panik“

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Olia Fedorova im Keller in Charkiw. Foto: Olia Fedorova
Olia Fedorova im Keller in Charkiw. © Olia Fedorova

Die Künstlerin Olia Fedorova berichtet von der ukrainischen Gegenwehr aus Charkiw und dem Wunsch, kein Teil von „Putins Welt“ zu werden.

Olia Fedorova, wie ist die Situation in Charkiw?

Die russische Führung hat erwartet, dass Charkiw sich schnell ergeben wird, weil wir uns geografisch und historisch nah sind. Viele Menschen hier haben Verwandte und Freunde in Russland und sprechen sowohl Ukrainisch als auch Russisch. Aber die russischen Truppen sind auf sehr starken Widerstand gestoßen, nicht nur von unseren Soldaten, sondern auch von der Zivilbevölkerung, die kein Teil von „Putins Welt“ werden will.

Wie sehen die Angriffe aus?

Wir haben keine russischen Truppen in Charkiw, aber wir sind unter permanentem Beschuss aus der Luft. Sie greifen uns mit Artillerie und Kampfflugzeugen an und zielen auf Wohnhäuser, Fernsehtürme, Kraftwerke, Krankenhäuser, Schulen und Trans-portdepots. Wir haben etwa ein Dutzend Mal am Tag Alarm und hören ständig Explosionen. Viele Menschen wurden bereits getötet und die Zerstörung ist groß.

Wie versuchen Menschen in Charkiw ihre Stadt zu verteidigen?

Jeder hat an die Armee gespendet, so viel er konnte. Das ist eigentlich das Einzige, was wir von hier aus tun können. Außerdem verbreite ich Informationen über Spendenkonten über soziale Medien. Es gibt die Möglichkeit, sich Zivilschutztruppen anzuschließen, und mein Freund wollte das auch unbedingt. Aber es hat nicht geklappt, weil der Beschuss losging und die Zivilschutztruppenführung gemeldet hat, dass sie mehr Freiwillige haben, als sie brauchen. Sie haben nicht genug Waffen, um alle auszustatten, die sich anschließen wollten.

Was haben Sie vor den Angriffen gemacht?

Ich bin Performance-Künstlerin und habe von zu Hause aus an einer Ausstellung in Lemberg gearbeitet. Außerdem arbeite ich als Webdesignerin in einem internationalen Team für ein Unternehmen in Israel. Mein Freund ist Designer, wir wohnen mit unseren zwei Katzen in einer gemieteten Wohnung des Hauses, in dem wir jetzt auch sind.

Wie haben Sie sich auf die Situation eingestellt?

Die ersten Tage waren schwierig, weil wir nicht wussten, was passiert, wir aber schnell Entscheidungen treffen mussten. Inzwischen haben wir uns einige Routinen erarbeitet. Wir versuchen in unseren Wohnungen zu schlafen und wenn wir Explosionen in der Nähe hören, verstecken wir uns im Keller. Dort haben wir Strom, wir haben Heizungen und warme Decken und wir haben so etwas wie Möbel zum Schlafen gebaut.

Was machen Sie tagsüber?

Wir sind sehr beschäftigt mit Arbeiten wie Barrikaden bauen, Molotow-Cocktails zubereiten, Eingänge zu unserem Haus befestigen. Ich verbringe viel Zeit damit, Menschen darüber zu informieren, was hier vor sich geht, auch über Medien wie „The Guardian“ und BBC. Wir haben also keine Zeit für Panik, obwohl wir sehr nervös sind, wie es unseren Familien und Freunden in anderen Teilen der Stadt und in anderen Städten geht. Mittlerweile versuchen wir auch, Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn wegzubringen – aus gefährlicheren Gegenden der Stadt zuerst in unsere Unterkunft und dann zum Bahnhof, damit sie Richtung Westen fahren können.

Zur Person

Olia Fedorova, Jahrgang 1994, ist Künstlerin und arbeitet multimedial mit Video, Fotografie und Text. Sie lebt mit ihrem Freund in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine mit rund 1,5 Millionen Einwohnern, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Seit Tagen versucht die russische Armee die Stadt in der Ostukraine einzunehmen, stößt aber auf großen Widerstand der Armee und der Zivilbevölkerung. Aus dem Keller des Hauses berichtet die 28-Jährige von der Lage.

Wie sehen die Stunden im Keller während der Luftangriffe mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern des Hauses aus?

Die einen schlafen, die anderen surfen im Internet nach Neuigkeiten. Kinder lenken sich mit „Monopoly“ oder Kartenspielen ab. Wir teilen auch Abendessen, Snacks, trinken Tee oder Kaffee zusammen. Und vor einigen Tagen hatte eine Nachbarin Geburtstag. Sie hat eine kleine Party arrangiert, bei der sie Gitarre gespielt und ukrainische Lieder gesungen hat. Wir haben mit ihr gesungen, es war ein sehr nettes kleines Konzert, das sehr gut für unsere Stimmung war.

Wie informieren Sie sich?

Meistens über den Messenger Telegram. Wir haben die offiziellen Regierungskanäle abonniert und folgen vertrauenswürdigen Medien mit doppelt geprüften Informationen, die uns ständig auf dem Laufenden halten. Darüber und über Apps werden wir auch über die Luftalarme informiert.

Fehlt Ihnen etwas?

Eigentlich fehlt uns nichts, nur manche Männer bedauern, dass sie keine Waffen haben, weil sie sich damit ruhiger und geschützter fühlen würden. Wir haben nur Messer, Macheten und Molotows. Kugelsichere Westen und andere militärische Kleidung sind für uns nicht notwendig, weil wir nicht dorthin gehen, wo die Kämpfe stattfinden, und uns geraten wird, zu Hause zu bleiben. Wir sollten ohnehin keine militärischen Sachen tragen, weil sowohl unsere Soldaten als auch der Feind vermuten könnten, dass wir Militärs sind und ohne Fragen auf uns schießen könnten.

Hatten Sie sich auf den Angriff vorbereitet?

Die meisten Menschen haben sich überhaupt nicht vorbereitet, weil nur wenige daran geglaubt haben, dass Putin wirklich angreifen würde. Erst als sich die russische Armee in der Nähe unserer Grenzen versammelte, fingen einige Leute an, Notfallrucksäcke zu packen. Einer von ihnen war mein Freund, er hat Russland nie getraut und sich schon seit November auf eine mögliche Invasion vorbereitet. Dank ihm haben wir jetzt viele Dinge, die andere Menschen nicht haben. Außerdem hat er Pläne für jede Art von Situation entwickelt, die wir jetzt auch umsetzen.

Wie lange reichen Ihre Vorräte?

Wir haben zum Glück viele Vorräte angelegt und konnten noch mehr im Supermarkt kaufen, der weiterhin mehrere Stunden am Tag offen ist. Wir denken, dass wir noch lange normal existieren können, wenn es Strom und Wasser gibt. Aber in vielen Stadtteilen ist die Situation schwieriger. Unsere Stadtverwaltung tut ihr Bestes, um die Menschen mit Brot, Tiefkühlkost, Wasser und anderen Dingen zu versorgen.

Werden Sie von außerhalb der Ukraine unterstützt?

Sehr stark. So viele Leute schreiben mir und fragen, wie sie helfen können und teilen meine Informationen in der ganzen Welt. Viele von ihnen bieten mir ihre Hilfe an, die Ukraine zu verlassen und irgendwo in Europa unterzukommen. Andere bieten mir finanzielle Hilfe an, aber im Moment geht es mir gut und ich brauche sie nicht wirklich. Auch werde ich vorerst nicht gehen, aber ich bin all diesen wunderbaren Menschen für ihre Bemühungen sehr dankbar. Ich verbinde sie mit den Menschen, die bedürftiger sind als ich.

Interview: Katharina Müller-Güldemeister

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