Ukrainer Mstyslav Chernov fotografiert „Gesichter des Krieges“ – Der Trost, dass sie noch lebt

„Gesichter des Krieges“: Das fotografische Requiem des Ukrainers Mstyslav Chernov in der Berliner Gedächtnis-Kirche.
Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.“ Dieser zweieinhalbtausend Jahre alte Satz stammt von Platon. Nach philosophischen Worten ist es Mstyslav Chernov freilich nicht zumute, als er in den Bunkern und in einer bombardierten Geburtsklinik von Mariupol, in den verwüsteten Straßen, den zerschossenen Wohnquartieren auch in seiner Geburtsstadt Charkiw, den leichenübersäten Straßen von Butscha fotografiert.
Der 38-jährige Fotograf, Filmemacher und Autor ist bekannt für seine Berichterstattung schon über die Maidan-Revolution, die Kriege im Irak und in Syrien, Putins Okkupation des Donbass sowie der Krim 2014. Aber seit dem 24. Februar 2022 wird seine Kamera das Auge des Krieges Putins in der Ukraine. Seine Bilder wurden auf CNN, BBC, in der „New York Times“ und in der „Washington Post“ veröffentlicht. Seine Dokumentation „20 Days in Mariupol“ bekam den Publikumspreis auf dem Sundance-Film-Festival 2023 in Utah.
26 seiner Motive durchziehen nun auf Aufstellern das abgedunkelte Halbrund des Kirchenschiffes der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit ihren friedensblauen Glasfenster-Wänden, den Kruzifixen und dem Ruinenturm seit Kriegsende 1945. Chernovs Aufnahmen, gezeigt an diesem Mahnmal-Ort, formieren sich zu einem fotografischen. Die Bilder ergeben gleichsam ein Kriegstagebuch: Am 24. Februar 2022 greift das russische Militär die Ukraine von Norden, Osten und Süden an. In den ersten Kriegswochen konzentrierten sich die Kämpfe auf Mariupol. Als Hafenstadt am Asowschen Meer und zugleich Landverbindung von Donezk und Luhansk zur annektierten Krim ist die Stadt ein strategisch wichtiger Ort. Rasch wird Mariupol zum Symbol für den Widerstandwillen der ukrainischen Nation, aber auch für die Zerstörungswut und Grausamkeit der russischen Kriegsführung.
Am 9. März bombardieren russische Truppen eine Kinder- und Geburtsklinik, obwohl der Vorplatz deutlich mit dem russischen Wort „Kinder“ markiert ist. Tage später fallen Bomben aufs Stadt-Theater, in das sich die Zivilbevölkerung geflüchtet hat. Mstyslav Chernov sah, wie er erzählt, „so viel Tod, dass ich fast nur noch filmte, ohne es zu bemerken.“ Er tat es automatisch, solange er noch Saft im Akku hatte. Die Gesichter, die Blicke der Menschen, Zivilisten wie Soldaten, brennen sich einem förmlich ein: Die hochschwangere junge blonde Mariana hat vor der Geburtsklinik Mariupol die Hände in ihrer Bettdecke verkrampft, ihr Blick starr. Auf dem Zettel unter dem Bild tröstet der Fotograf: Sie hat überlebt und ihr Baby, ein Mädchen, dann dank der Evakuierung in letzter Minute in einer anderen Stadt bekommen. Chernov hat sie später noch telefonisch gesprochen: Mutter und Kind seien gesund. Aber eine die andere Hochschwangere auf einer Trage, schwer verletzt von einem russischen Geschoss, von verzweifelten und selber verwundeten Männern über den Klinikhof geschleppt, habe nicht gerettet werden können. Und das Ungeborene sei mit ihr gestorben.
Genau diese Fotos hat Putins Propaganda-Maschinerie als „inszenierte Fakes“ stigmatisiert. Chernov wurde massiv bedroht. Er, der AP-Reporter, ist auch Präsident der Ukrainian Association of Professional Photographers. Er dokumentierte weiter, während er unter Artillerie- und Maschinengewehrfeuer, Granateinschlägen und inmitten schreiender Menschen Schockwellen ertrug, bis er und sein Kollege Yevhen Maloletka unter Lebensgefahr das kaum mehr existente Mariupol verlassen mussten. Chernov kann es nicht aussprechen, aber er hat es aufgeschrieben: „Ich fühlte mich so elend, weil ich all diese Leute zurücklassen musste.“ Doch er und sein Gefährte haben den Schrecken des Krieges für immer auf Filme gebannt: Schutt, Asche, Ruinen, tote Leiber auf Straßen und Plätzen, Frauen, Männer, Kinder. Die Körper scheinen mit der Erde verwachsen zu sein.
Die Bilder verdeutlichen die Wucht des Krieges, die Apokalypse der einst blühenden Städte, das Entsetzen in den Augen der Frauen, Kinder, Männer, den Schmerz und die Trauer von Müttern und Vätern, die ihre getöteten Kinder beweinen. Diese Bilder sind ein wichtiges Zeugnis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber gleichzeitig auch ein Appell, die Ukraine weiterhin zu unterstützen. Dafür organisierte die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde zusammen mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der Bundeszentrale für politische Bildung diese erschütternde Ausstellung.
Unter den Motiven des Entsetzens und der Trauer gibt es eines aus einem dunklen Bunker: Ein junges Paar hält sich an Händen fest, darin eine Öllampe. Eine Szene wie die „Heilige Nacht“ des Alten Meisters Correggio (das Bild hängt in der Dresdner Gemäldegalerie). Auf Chernovs Foto ist es der einzige helle Schein, aber er lässt uns die Liebe in den Gesichtern des Paares sehen und im Bild daneben sogar lesende Kinder. Es ist die Hoffnung, die nicht sterben darf.
Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche am Berliner Breitscheidplatz: bis 5. April.