„Es war unsere Schwäche, die Putin motiviert hat“
Die US-amerikanische Historikerin und Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum über die Frage, wie der russische Krieg in der Ukraine enden könnte und ob er vermeidbar gewesen ist.
Mrs. Applebaum, der Krieg gegen die Ukraine geht bald ins zweite Jahr, Hunderte Dörfer und Städte wurden zerstört, Zehntausende Menschen getötet oder verletzt. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie dieser Krieg enden könnte?
Es gibt nur einen Weg, wie dieser Krieg enden kann, und ich meine für immer, nicht nur für ein paar Monate. Das russische Regime muss begreifen, dass die Invasion ein Fehler war. Genau wie die Briten in Irland zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder die Franzosen in Algerien müssen sie zu dem Schluss kommen, dass eine imperiale Expansion nicht nur für die Ukraine (und ihre Nachbarstaaten), sondern auch für sie selbst katastrophal ist. Jede andere Lösung – ein vorausgehender Waffenstillstand oder ein Abkommen über die Abtretung von Gebieten – birgt das Risiko, dass Russland einige Monate oder Jahre abwartet und dann die Invasion von Neuem beginnt. Und natürlich wird der russische Staat weiterhin Ukrainerinnen und Ukrainer in den besetzen Gebieten verhaften oder ermorden, und der Widerstand wird weitergehen, so dass weiterhin Menschen sterben werden.
Wenn Sie heute ein Friedensabkommen aushandeln müssten, wie würden Sie dann vorgehen?
Es wird nicht möglich sein, ein Friedensabkommen auszuhandeln, solange das russische Regime nicht einsieht, dass der Krieg ein Fehler war, und seine Truppen abzieht. Im Moment glaubt Putin immer noch, dass er die ganze Ukraine erobern wird. Er hat seine grundsätzlichen Kriegsziele überhaupt nicht geändert. Die endgültigen Grenzen der Ukraine werden durch den militärischen Konflikt bestimmt, und der dauert noch an.
Die Falken in Washington argumentieren, dass jeder Kompromiss, der Putin Teile der Ukraine überlässt, ihn nur ermutigen wird, sein Projekt zur Wiederherstellung des Sowjetreiches voranzutreiben. Haben sie recht?
Ja, natürlich. Genau das ist 2014 passiert. Aber diese Ansicht sollte man nicht den „Falken“ zuschreiben, sondern eher den wahren Realisten.
Die USA und Deutschland haben vereinbart, nun schwere Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Ist dies ein Wendepunkt?
Ich glaube nicht, dass es ein Wendepunkt ist, sondern nur die Erkenntnis, dass der Krieg weitergehen wird und dass wir Russland eine klare Botschaft senden müssen, dass wir die Ukraine weiterhin unterstützen werden.
Wie beurteilen Sie die Politik von Bundeskanzler Olaf Scholz gegenüber der Ukraine? Ist er ein Stratege, wie er selbst vermutet, oder ein Zauderer?
Ich finde seine Haltung sehr schwer zu verstehen. Zu Beginn des Krieges hat er eine sehr mutige Rede gehalten, er schien zu erkennen, dass der Krieg die Sicherheitslage in Europa verändert und dass sehr dramatische Veränderungen vorgenommen werden müssen. Aber dann hat er sie nicht vorgenommen oder zumindest nicht alle. Deutschland begann, Waffen an die Ukraine zu liefern, aber sehr langsam und widerstrebend. Deutschland hat auch sein eigenes Militär nicht verändert.
Panzerlieferungen von Deutschland an Ukraine: „Weigerung peinlich als auch schädlich“
Ist der Panzerdeal denn ein Erfolg für Scholz? Konnte er die Regierung Biden dazu bewegen, ebenfalls Kampfpanzer zu liefern?
Es ist sehr gut, dass Scholz die Panzer endlich geliefert hat, aber seine lange Weigerung ist sowohl peinlich als auch schädlich. Hätte Scholz die Panzer schon vor sechs Monaten geliefert, würde er jetzt in Europa als führend gelten, und wir könnten ernsthaft über einen europäischen Pfeiler der Nato und eine europäische Verteidigung sprechen. Stattdessen hat er Deutschland in die totale Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten gebracht.

Welchen Eindruck hinterlässt die deutsche Ukraine-Politik in Osteuropa?
Die Osteuropäer und Osteuropäerinnen waren über die Nord-Stream-Pipelines verärgert, weil sie ein so klares politisches Ziel verfolgten: Sie sollten es Russland ermöglichen, die Ukraine abzuschneiden. Deutschlands Entscheidung, die Pipelines auch nach 2014 zu bauen, war zudem ein klares Zeichen dafür, dass Deutschland seine Beziehungen zu Russland mehr schätzt als seine Beziehungen zu seinen Nachbarn innerhalb der Europäischen Union, obwohl der deutsche Handel mit diesen Ländern größer ist als der Handel mit Russland. Viele Osteuropäer machen Deutschland sogar für den Krieg verantwortlich: Deutschlands „Business as usual“-Haltung gegenüber Russland nach 2014 brachte Putin auf die Idee, dass die Nato nicht gegen seine Invasion in der Ukraine zurückschlagen würde. Deshalb wird jetzt erwartet, dass Deutschland mehr tut, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen.
Hätte dieser Krieg verhindert werden können, wenn der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges mehr Rücksicht auf Moskau genommen hätte?
Der Westen war Moskau gegenüber rücksichtsvoll. Wir haben Russland Milliarden von Dollar geliehen, wir haben in Russland investiert, wir haben Russland eine besondere Beziehung zur Nato und zur westlichen Welt im Allgemeinen angeboten. Wir duldeten die russische Korruption innerhalb unserer Grenzen und ignorierten die russischen Kampagnen zur politischen Beeinflussung, selbst wenn sie dazu beitrugen, störende politische Parteien wie die AfD in Deutschland zu schaffen. Aber Russland wollte etwas, das wir ihm nicht geben konnten: den Status eines Imperiums und die Vorherrschaft über alle ehemaligen Staaten der Sowjetunion und sogar des Warschauer Paktes.
Man könnte argumentieren, dass den Vereinigten Staaten diese Art von imperialer Weltanschauung nicht fremd ist. Präsident John F. Kennedy zum Beispiel wollte nicht akzeptieren, dass Anfang der 1960er Jahre sowjetische Raketen in Kuba, einem souveränen Staat, stationiert wurden.
Zur Person
Anne Applebaum, geboren 1964, stammt aus einer reformierten jüdischen Familie in Washington D.C. Als Journalistin arbeitete sie als Korrespondentin des „Economist“ in Warschau und für die „Washington Post“. Sie ist mit dem ehemaligen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet.
Für ihre Geschichte des sowjetischen Gulag-Systems (auf Deutsch im Siedler Verlag, „Der Gulag“, 2003) wurde sie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Weitere Bücher: „Der Eiserne Vorhang: Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956“, „Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine“ und „Die Verlockung des Autoritären“.
Das ist keine exakte Parallele: In der Ukraine sind keine Atomraketen stationiert. Im Gegenteil: Die USA haben die Ukraine dazu gebracht, ihr Atomprogramm aufzugeben. Die Ukraine hat die russische Sicherheit in keiner Weise bedroht.
Putin beklagt unter anderem, dass die Nato bei ihrer Osterweiterung die Sicherheitsinteressen Russlands nicht berücksichtigt hat.
Die Nato-Erweiterung schuf eine Sicherheitszone um die 60 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Mitteleuropas und ermöglichte dreißig Jahre lang Wachstum, Investitionen und Entwicklung. Wohlstand, auch deutscher Wohlstand, war die Folge. Seit 1991 hat dieses Bündnis zu keinem Zeitpunkt eine aggressive Form angenommen: Die Nato hat nicht die Absicht, in Russland einzumarschieren, und hat dies auch nie getan. Zu einem bestimmten Zeitpunkt zogen die USA alle ihre Panzer aus Europa ab und begannen mit der Schließung von Militärstützpunkten; bis nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Jahr 2014 gab es keine Nato-Übungen in Polen. Putin weiß das alles. Aber er fand es für die Zwecke der Innenpolitik nützlich, die Nato zum Feind zu machen. Als er zu Hause an Unterstützung verlor und Russland zu stagnieren begann, versuchte er, dies durch die Wiederherstellung des russischen Imperiums im Ausland auszugleichen.
Auf dem Nato-Gipfel 2008 wollte der damalige US-Präsident George W. Bush einen Aktionsplan für die Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens verabschieden, der den beiden Ländern einen klaren Fahrplan für die Nato-Mitgliedschaft aufzeigen sollte. Angela Merkel, die damalige deutsche Bundeskanzlerin, legte ihr Veto ein. War das die Saat für die Katastrophe, die wir heute erleben?
Wäre die Ukraine in der Nato, wäre Russland nicht einmarschiert.
Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 überließ der damalige US-Präsident Barack Obama die Ukraine-Politik im Wesentlichen Europa und insbesondere Merkel, die Waffenlieferungen an Kiew stets strikt ablehnte. War dies eine Einladung an Putin, den Konflikt noch weiter zu eskalieren?
Sicherlich hat Putin sowohl von Obama als auch von Trump den Eindruck gewonnen, dass sich die USA nicht um die Ukraine kümmern. Auch von Merkel erhielt er den Eindruck, dass die wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu Russland weitaus wichtiger seien als die Ukraine. Die Weigerung des Westens, die Ukraine zu bewaffnen, führte dazu, dass Putin glaubte, er könne einmarschieren, ohne auf Widerstand zu stoßen. Also ja, es war unsere Schwäche, die ihn provoziert hat.
Die USA sind bei weitem der größte Unterstützer der Ukraine. Glauben Sie, dass Europa jemals in der Lage sein wird, für seine eigene Sicherheit zu sorgen?
Im Moment sieht es sehr, sehr unwahrscheinlich aus, aber ich hoffe, dass dieser Krieg zu Veränderungen führen wird. Es gibt keine Garantie, dass die USA immer einen Präsidenten haben werden, der die europäische Sicherheit für wichtig hält.
Die Frage ist nur, wie lange es noch von den USA abhängig sein kann. Wenn man sich ansieht, wie sich die Republikaner verändert haben, wird sich Europa früher oder später auf einen Präsidenten einstellen müssen, der sich nicht mehr für die Nato einsetzt.
Das ist immer möglich. Trump wollte die Nato auflösen, wurde aber von seinen Generälen und seinem Kabinett daran gehindert. Aber er könnte wieder gewinnen, oder jemand wie er könnte wieder gewinnen, und dann wird es mit der Nato zu Ende sein.
Deutschland und Frankreich gehören zu den reichsten Ländern der Welt. Warum sollte, sagen wir, eine Verkäuferin im Mittleren Westen für die Sicherheit der Europäer zahlen wollen?
Das ist eine gute Frage. Ich denke, die meisten Amerikaner verstehen, dass Europa unser wichtigster Wirtschaftspartner ist und dass der amerikanische Wohlstand vom europäischen Wohlstand abhängt. Aber die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten sich gut überlegen, wie sie mit den Menschen in Ohio sprechen.
Wird die Bedrohung durch Russland automatisch abnehmen, wenn seine wirtschaftliche Macht schwindet? Putin hat es versäumt, die Wirtschaft seines Landes zu modernisieren.
Vielleicht in der Zukunft. Aber im Moment hat Putin genug Geld aus den Öl- und Gaseinnahmen, um seine Armee zu bezahlen, und wir sollten uns auf das konzentrieren, was er im Moment tut.
Glauben Sie, dass Putin in der Lage ist, Atomwaffen einzusetzen, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt?
Im Moment halte ich das für unwahrscheinlich – er würde damit ein fast 80 Jahre altes Tabu brechen, und er würde sofort alle Bündnisse verlieren, die er in der Welt hat. Die meiste Zeit sprechen die Russen über Atomwaffen, um uns abzuschrecken. Aber die Möglichkeit ist natürlich immer gegeben. (Interview: Michael Hesse)