„Amerika ist letztendlich ein Energieexporteur“

Wirtschaftshistoriker Adam Tooze über den Zerfall der Republikaner, die Wahlchancen Donald Trumps, Wokeness als US-Export und Wirtschaftsaussichten.
Professor Tooze, wie ist die Stimmung im demokratischen Amerika nach den Midterms?
Sie ist besser, als es noch vor ein, zwei Wochen zu erwarten war. Die Wahlen sind für die Demokraten viel besser ausgegangen, als man es befürchtet hatte. Das verdutzt einen und verunsichert auch ein bisschen, allerdings im guten Sinne. Vielleicht war ich zu pessimistisch vorher.
Inwiefern?
Ich hatte Joe Biden ziemlich abgeschrieben. Man wird allerdings noch sehen müssen, wie gut die Demokraten nun überhaupt werden regieren können; ob sie legislative Initiativen vorantreiben können, erscheint mir sehr unsicher zu sein. Auf der anderen Seite war ich ja stets einer der Tauben in Sachen Inflation. Es ist für mich tief befriedigend zu sehen, dass die Alpträume des Ex-US-Finanzministers Larry Summers & Co. nicht wahr geworden sind in dem Sinne, dass ein Land mit rund acht Prozent Inflation nicht zwingend gegen die eigene Regierung votiert. Die Wähler:innen haben entschieden, dass andere Dinge für sie wichtiger sind als die Inflation. Die Arbeitsmarktsituation ist in den USA zurzeit glänzend. Es ist für die politische Klasse eine erneute Lehre in Bezug auf ihr Verständnis der politischen Prozesse im eigenen Land.
Sind die Amerikaner politisch weniger schräg, als man es gemeinhin angesichts von Trump & Co. angenommen hat?
Das richtige Urteil über die Amerikaner war ja nie, dass sie insgesamt oder im Durchschnitt schräg waren, sondern dass es sich hier um ein extrem polarisiertes Land handelt. Mit bedingt durch die sehr merkwürdigen Verfahrensprozesse der amerikanischen Verfassung, die eine Mehrheit der sogenannten Wahlmänner ermöglichte, die zur Wahl von Donald Trump 2016 geführt hat, und die endlos manipulierten Wahlkreise im Sinne der Republikaner, die ebenfalls massiv übergewichtet worden sind. Diese Mechanismen haben für die konservative Seite keine eindeutige Mehrheit geschaffen. Die Lage ist sehr ausgeglichen.
Die Abtreibungsfrage war ein Thema im Wahlkampf.
Frauen in den USA müssen zu Recht den Eindruck haben, dass ihre fundamentalen Rechte in konservativen Bundesstaaten nicht mehr wahrgenommen werden. Ich würde keiner Freundin, meiner Frau, meiner Tochter empfehlen, erhebliche Zeit in Texas zu verbringen. Unter den gegebenen Umständen ist es unmöglich, dort zu leben oder zu arbeiten. Denn die Abtreibungsregelungen dort sind unmenschlich. Sie sind in aggressiver Form frauenfeindlich.
Die Midterms bringen den USA neue Machtverhältnisse im Kongress. Auch bei den Personalien tut sich einiges. Der News-Ticker.
Interview mit Wirtschaftshistoriker Tooze: „Hegemonie in ihrer sanftesten und gemütlichsten Form“
Amerika war ja immer ein zerrissenes Land, wenn man etwa an den Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert denkt. Dabei war das Amerika der 1950er Jahre ein Ruhepol und Vorbild für die demokratische Welt. Was hat sich verändert?
Das ist die bundesrepublikanische Sichtweise, mit der Sie und ich groß geworden sind. Wenn man im Frankfurter oder Heidelberger Raum lebte, war man ein integraler Teil dieser amerikanischen Hegemonie in ihrer sanftesten und gemütlichsten Form. Wenn Sie in der Zeit in Indonesien, in Korea gelebt hätten oder im zentralamerikanischen Raum wie Kuba wäre Ihnen ein ganz anderes Gesicht Amerikas begegnet. Ganz zu schweigen von der Weiterführung des Kalten Krieges in den 1950er und 1960er Jahren. Und wenn der brasilianische Präsident Lula sich weigert, in die amerikanische Front gegen Putin einzuschwenken, hat das damit zu tun, dass er und Mitglieder seiner Partei mit Folter durch eine von Amerika unterstützte Diktatur verfolgt wurden. Man muss also relativieren.
Wo Sie vollkommen recht haben, ist, dass Amerika in den 1950er und 1960er Jahren als Machtstaat und geschlossener Machtapparat funktionierte wie bis zu diesem Zeitpunkt kein anderes Land in der Welt. Sogar ein Vergleich mit dem britischen Empire verbietet sich. Das amerikanische Vorgehen war viel anspruchsvoller und erreichte viel größere Dimensionen. Das britische Empire hat nie versucht, einen Marshall-Plan oder eine Nato oder Ähnliches zusammenzubringen. Der einzige Versuch nach dem Ersten Weltkrieg scheiterte kläglich. Das britische Empire hat die Globalisierung im 19. Jahrhundert zwar gestaltet, aber mit den Mitteln der Zeit, also mit leichter Hand. Das Amerika der 1950er und 1960er Jahre hatte eine andere Dimension. Das hatte innenpolitische und innersoziale Fundamente, die aber wiederum extrem verquer waren. Die Spannungen der Verbindungen der Gegensätze der 1950er entluden sich dann in der Civil-Rights-Bewegung der späten 1950er und 1960er Jahre. Dennoch hielt sich die hegemoniale Position der Demokraten bis in die 1980er Jahre hinein, als sie eine massive Dominanz im Kongress hatten, noch als Reagan Präsident war.
Warum war das so?
Der Grund war, dass die reichsten Wähler der Südstaaten ihr Leben lang die Demokraten gewählt haben, weil sie die Partei war, der nicht Abraham Lincoln angehört hatte. Die Demokraten, die im Norden eine liberale Partei und die Partei der Gewerkschaften waren, die Partei des New Deals, waren zugleich im Süden die Partei der Rassendiskriminierung des Ku-Klux-Klans. Durch die Civil-Rights-Bewegung zerplatzte diese Koalition. Die innergesellschaftlichen Fundamente des New Deals und des globalen Machtapparates, der in den Kalten Krieg hinein entstanden ist, beruht also auf dem Teufelspakt zwischen dem liberalen Norden und Jim Crow, dem ultrarassistischen Apartheits-Süden. Der Deal war, dass sie in beiden Teilen Amerikas, Norden und Süden, demokratisch wählen, aber aus ganz anderen Gründen. Zusammen hatten sie einen Machtapparat, der aber durch diese innere Spannung limitiert war.
Man hatte zwar eine Sozialversicherung im Zuge des New Deal, aber keine Arbeitslosenversicherung und keine Gesundheitsversicherung, das hätte ja impliziert, dass man für Schwarze in den Südstaaten wohlfahrtsstaatliche Dienstleistungen hätte gewähren müssen, die für die südstaatlichen Weißen überhaupt nicht infrage kamen. Niemand in Georgia oder Florida, Mississippi oder Alabama würde jemals für europäische Wohlfahrtseinrichtungen optieren, denn das würde ja heißen, weiße Steuerzahler würden Geld an Schwarze zahlen. Das aber wurde durch die Civil-Rights-Bewegung angestrebt. Und als dies politisch umgesetzt werden sollte, explodierte dieser Kompromiss förmlich. Die Republikaner profitierten davon, indem sie sich zur Partei des weißen rassistischen Ressentiments machten. Die Umrisse der heutigen gesellschaftlichen Polarisierung waren bereits damals sichtbar.
Was haben Sie da vor Augen?
Man muss ja nur an den Vietnam-Krieg denken, der eine deutliche Zerrissenheit zeigte, die sogar Teile des amerikanischen hegemonialen Bereichs erreichte. Die Bundesrepublik wurde ja mit davon erfasst und keine Städte stärker als Frankfurt und Berlin. Da spiegeln sich die inneren Konflikte der amerikanischen Politik wider, in der Polarisierung zwischen links und rechts in Bezug auf Iran oder Vietnam. Das sind Themen auch in Amerika, die den gesamten Einflussbereich polarisieren. Das ist nach wie vor der Fall. Es gibt in Amerika viele, die viel europäischer, sogar viel woker sind als die Menschen in Europa. Alle Kollegen und Kolleginnen an den US-Universitäten sind viel uniformer in ihrer massiven Liberalität als die an den deutschen Unis. Man begreift sich als eine Art Festung im Kulturkampf gegen rechts.
Zur Person
Adam Tooze, geboren 1967 in London, ist Professor für Zeitgeschichte und Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Er ist Autor von Studien zur deutschen sowie zur Wirtschaftsgeschichte, seine Arbeiten sind vielfach preisgekrönt.
Auf Deutsch erschienen sind u. a. „Die Ökonomie der Zerstörung“ (2007), „Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben“ (2018, beide bei Siedler) und „Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen“ (2021, C. H. Beck).
Interview mit Wirtschaftshistoriker Tooze: Der „Rap als größtem Export der letzten Zeit“
Verbindet sich mit dem Begriff Wokeness der Einfluss, den Amerika immer noch hat, wie früher bei der Popkultur und Ähnlichem?
Selbstverständlich. Man kann an die Musik denken mit dem Rap als größtem Export der letzten Zeit. Oder an die Tech-Konzerne, einer Fusion kosmopolitischer und technologischer Kategorien in Kalifornien, aber auch in New York. Selbst die ökologische Politik hat ihre Ursprünge in Amerika, auch wenn man es kaum glauben mag. Petra Kelly war nicht umsonst Deutschamerikanerin. Diese Kräfte sind immer noch sehr lebendig.
Wie beurteilen Sie den heutigen Einfluss?
Man sollte reflektiert und im historischen Kontext mit diesen Spannungen umgehen. Ist es angebracht, den institutionellen Rassismus in Deutschland zu problematisieren? Offensichtlich. Ist es angebracht, den Sexismus in Deutschland zum Thema zu machen? Eindeutig. Wenn der Impuls hierfür von außen kommt, sollte man das begrüßen oder nicht? Man muss opportunistisch sein. Man darf es den Leuten, die sich für diese Dinge einsetzen, nicht verübeln, dass sie alles für ihre Sache tun. Es ergeben sich zum Teil recht verquere und hybride Gebilde. Für mich war es zum Beispiel immer beeindruckend, wie türkische Jugendliche in Berlin sich die Attitüde der schwarzen Rapper angeeignet haben, obwohl sie in keiner Hinsicht schwarz sind und Nachkommen eines riesigen Großreiches sind, sich nun aber mit dem Gangster-Rap identifizierten. Das sind Prozesse der Globalisierung.
Interessant ist, dass die Einflüsse auf Amerika zurückwirken. Einer der Momente der 1950er Jahre ist die Abkopplung Amerikas von der restlichen Welt, so dass der Einfluss eine Einbahnstraße war. Amerika ist ein Einwanderungsland und ein Sklavenhalterstaat, das waren die zwei großen Dimensionen. Erst in den 1920er und 1930er Jahren hat sich erst eine eigenständige amerikanische Kultur in Reinform gebildet. Das ist der Moment, in dem die Deutschamerikaner das Deutsche aufgeben und sich nun nur noch als Amerikaner verstehen, das Gleiche gilt in abgeschwächter Form für Iren oder Italiener.
Wie ist es heute?
Was man im Moment sieht, ist die Öffnung der amerikanischen Politik gegenüber Tik Tok und allgemein für asiatische Einflüsse, das ist in Amerika viel ausgeprägter als in Europa. Wenn Sie aus New York kommen, erstaunt es, wie wenig präsent Asien vergleichsweise in Deutschland ist. Wir leben in New York in einer pazifisch orientierten Kultur neben einer nach wie vor stark jüdisch geprägten und nach Europa ausgerichteten Stadtkultur. Die Einflüsse laufen mittlerweile in beide Richtungen. Politisch war Barack Obama vielleicht der letzte amerikanische Politiker, der wirklich weltweit mobilisierte. Er war gleichzeitig cool und mächtig, er war die Inkarnation eines guten Endes im amerikanischen Narrativ. Natürlich hatte Trump weltweit seine Anhänger, aber er verkörpert keine universellen Werte. Eine Szene wie Obama sie im Jahr 2008 an der Berliner Siegessäule veranstaltete, wo er vor einer begeisterten deutschen Menge sprach, noch bevor er Präsident wurde, halte ich nicht mehr für möglich.
Interview mit Wirtschaftshistoriker Tooze: Trump hat „die Skurrilität der Republikaner forciert“
Hat Trump den großen Wahlerfolg der Republikaner zerstört?
Das glaube ich nicht, Abtreibung war nicht sein Thema. Dass er die Skurrilität der Republikaner forciert hat, ist wiederum richtig. Eines seiner Probleme ist, dass die von ihm unterstützten Politiker einfach schwache Figuren sind. Er kommt ja mit DeSantis, der ein riesiges Kräftepotenzial hat, nicht so besonders zurecht. Es ist nicht die Ideologie Trumps, sondern seine Persönlichkeit, die ihn zu einer Hypothek macht, denn Mini-Trumps darf es für ihn im Grunde nicht geben, es kann nur Bedienstete geben oder solche Leute, die in vertrottelter Form seine Ideologie wiederkäuen. Aber ich glaube auch nicht an den Mythos Trump. Gegen Hillary Clinton hat er nur sehr knapp gewonnen, gegen Joe Biden, der nicht sehr kraftstrotzend wirkte, hat er deutlich verloren. Er ist nicht der, der die große Mehrheit Amerikas hinter sich hat.
Deutet der Prozess, den die Republikaner seit längerem durchlaufen mit Tea Party und Sarah Palin, auf ein Ende der GOP hin?
Was ist schon geschehen? Die Republikaner haben ein, zwei Sitze im Senat nicht gewonnen, aber eine knappe Mehrheit im Unterhaus. Es geht hin und her zwischen ihnen und den Demokraten, schon seit Jahrzehnten. Sie sind enttäuscht, aber das ist keine Implosion. Ihr Wahlergebnis ist in keiner Weise so schlecht wie das der Union in Deutschland zuletzt, in keiner Weise. Es ist ihnen nur nicht gelungen, die Verlegenheit Bidens auszunutzen. Dennoch stecken sie tief in einer Krise, nur lässt sich das nicht an der Wahl festmachen. Sie weist eine Art Realitätsleugnung auf, ihre Politik ist so spalterisch, dass sie einen Bürgerkrieg hervorrufen könnte. Doch diese krisengeschüttelte Partei ist immer noch in der Lage, Wahlen zu gewinnen. Das gilt auch für das Jahr 2024. Wenn sie gegen Biden antreten, der Mann wäre da uralt. Ob das längerfristig hält, ist die Frage. Die Großunternehmerschaft ist heimatlos geworden, tendenziell zentristisch und den Demokraten zugewandt. Wenn man 150 000 Beschäftigte hat, kann man nicht eine solche Spaltpolitik vertreten, wie sie die Republikaner praktizieren. Das ist bei den Demokraten anders, da weiß sich die US-Elite gut aufgehoben. Auch wenn ein wenig umverteilt wird, hat ihnen Biden versprochen, dass er ihnen nicht zu viel abfordert.
Wie sieht die wirtschaftliche Lage in den USA aus?
Ich bin ein offensiver Vertreter der Ansicht, dass die Inflationsbewertung übertrieben worden ist. Das Problem der amerikanischen Wirtschaft ist das schnelle Wachstum und der zu enge Arbeitsmarkt, weil es der Wirtschaft zu gut geht. Die Stimmung ist mittlerweile durch den Abschwung der Aktienmärkte getrübt. Die Geldpolitik drückt zudem. Alle machen sich Sorgen, was passiert, da die Hypothekenzinsen sich verdoppelt haben. Der US-Ökonomie geht es nicht schlecht. Das Ziel der US-Zentralbank FED ist es, die Wirtschaft zu entschleunigen, die Arbeitslosigkeit in die Höhe zu treiben. Die Frage ist, ob dabei etwas in die Brüche geht. Aber die Einschätzung ist, dass es zu keiner handfesten Krise kommen wird. Der Immobilienmarkt, der Haupttreiber der Inflation, kühlt ab. Die Fieberkurve scheint gebrochen zu sein.
Sind die USA die Gewinner, wenn man auf die Folgen des Krieges in der Ukraine blickt?
Absolut. Die Amerikaner sind die puren Gewinner. Die amerikanischen Haushalte und Konsumenten, die viel Benzin verbrauchen, litten zunächst etwas wegen der gestiegenen Ölpreise. Die Befürchtung, dass der Ölpreis in schwindelerregende Höhen steigen könnte, hat sich aber nicht bewahrheitet. Amerika ist letztendlich ein Energieexporteur, große Teile der USA profitieren von hohen Energiepreisen. Geopolitisch und strategisch ist die amerikanische Politik risikoreich, aber auch gewinnbringend. Nicht nur, dass Russland geschwächt wird, die Nato und ihre Allianzen in Ostasien haben neue Energie bekommen. Das alles ist ein großer Gewinn für Amerikas Strategie.
(Interview: Michael Hesse)