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Ukraine-Krieg: Ein Land, das Subjekt sein will

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Von: Sylvia Staude

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Maria Didovets, 82, steht nahe Demydiv im Wasser, weil Russland einen Damm zerstört hat.
Maria Didovets, 82, steht nahe Demydiv im Wasser, weil Russland einen Damm zerstört hat. © AFP

Die 51. Römerberggespräche verhandeln vielfältig und bewegend den „Ukraine-Krieg und die neue Welt-Unordnung“.

Als die Jubiläums-Römerberggespräche vor einem halben Jahr nach „Sprache. Macht. Gerechtigkeit“ fragten und in so klugen wie leidenschaftlichen Podien danach, wer wie reden darf, konnte man nicht ahnen, dass Gendersternchen und ähnliches zum Zeitpunkt der 51. Gespräche bereits als Luxusproblem erscheinen würden. Denn seit dem 24. Februar beherrscht, zurecht, Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine die Medien, die öffentliche Debatte wie sicher auch viele private Unterhaltungen. Die 51. Römerberggespräche, moderiert erneut von Hadija Haruna-Oelker und Alf Mentzer, Hessischer Rundfunk, fragten also am Samstag im Chagallsaal der Städtischen Bühnen nach dem Ukraine-Krieg und ob „Nie wieder Frieden?“ sein würde in dieser „neuen Welt-Unordnung“. Trotz der Kürze der Vorbereitungszeit war man außergewöhnlich gut sortiert und hatte mit dem Historiker Karl Schlögel, der uns, der dem Westen zu Beginn eindrucksvoll die Leviten las, und Nicole Deitelhoff, seit 2016 Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, die in klaren Worten die Fakten noch einmal zurechtrückte und den Blick auf das nun Entscheidende richtete, eine ideale Klammer für den Tag gefunden.

Wehrhaft und weltläufig

Von „Friedensverwöhnten“ sprach Karl Schlögel, für die Gewalt vor dem 24. Februar etwas war, „das sich in den Fernsehnachrichten abspielte“ – aber immerhin seien hierzulande die „Reflexe der Solidarität intakt geblieben“. Um von diesem Krieg, der uns jetzt so fassungslos macht, nicht komplett überrascht worden zu sein, hätte man „nur genau hinsehen“ müssen, so der Historiker. Und eine Ukraine wahrnehmen, die längst schon nicht mehr der Hinterhof des russischen Reiches war, die, selbstbewusst, wehrhaft und weltläufig, „Qualitäten eines Tigerstaats“ besaß. Die ihr Schicksal selbst bestimmen wollte.

Warum das in Deutschland, im Westen, nicht so wahrgenommen wurde? Schlögel sprach von einer Herablassung der Ukraine gegenüber, auf der anderen Seite von verbreiteter Russland-Faszination, ja von „Russenkitsch“, er sprach von einer „Aufmerksamkeit und Verständnisinnigkeit“ für Russland, die nie für die Ukraine und Belarus gegolten hätten. Der „Hype der postcolonial studies“ habe Russland nie wirklich erreicht – doch laut Schlögel ist eben der Ukraine-Krieg als kolonialer zu verstehen.

Dies bestätigte und bekräftigte im Anschluss der aus dem ukrainischen Lemberg, Lwiw, zugeschaltete Germanist, Autor, Übersetzer und Psychoanalytiker Jurko Prochasko: „Natürlich“ sei das „auch ein klassischer Kolonialkrieg, ein Befreiungs- und Sezessionskrieg“. Seit 2014, Jahr der Proteste auf dem Maidan, sei die Ukraine in einem „kontinuierlichen emanzipatorischen Prozess“ gewesen. Auf der anderen Seite sei „unterm Mäntelchen des Kommunismus“ der russische Imperialismus „rübergerettet“ worden ins 20. und 21. Jahrhundert, so Prochasko. Nun gehe der Kampf darum, was zukunftsfähiger sei, die Demokratie oder die Autokratie.

Das Bild von einer Ukraine, in der seit dem sogenannten Zerfall der Sowjetunion „eine ganz andere Gesellschaft“ aufgebaut wurde als in Russland, eines Landes, das aber im Westen (allemal in Deutschland) nicht annähernd angemessen wahrgenommen wurde, zeichnete, hörbar bewegt, auch die Journalistin und Autorin Alice Bota. Oft sei über die Ukraine geredet worden, als sei das Land eine „Verschiebemasse“. Russland habe man in der Krim sogar als Vermittler eingebunden, als sei es nicht dort Kriegspartei.

Bota erzählte von einer Begegnung vor Jahren mit einem Kämpfer namens Wladimir, der dem Asow-Regiment angehörte und ihr auf ihre kritische Nachfrage gesagt habe: Ja, es gebe darin Nazis, „aber es sind unsere Nazis“. Der später (da hatte er das Regiment verlassen), als wieder einmal über die Ukraine gesprochen wurde, als sei sie Objekt und Verhandlungsmasse, weinte und sagte: „Das ist kein Brückenkopf, das ist meine Heimat.“ 2014, bei der Annexion der Krim, sei man in Deutschland kurz erschrocken, habe dann wieder von den „Sicherheitsinteressen Russlands“ gesprochen und „weitergemacht wie bisher“.

Putin, der große Gopnik

Einen „kleinen, niederträchtigen Diktator“ nannte Karl Schlögel Putin. Der russische Schriftsteller Victor Jerofejew schreibt derzeit an einem Roman mit dem Titel „Der große Gopnik“ (Gopnik: Rabauke, krimineller Jugendlicher), der selbstverständlich auf Putin zielt. Jerofejew ist mittlerweile in Brandenburg, auf Schloss Wiepersdorf untergekommen, in Russland war er als einer der prominentesten Systemkritiker nicht mehr sicher. Europa glaube, so der Autor, dass das (weiße) Russland so sei wie es selbst. Putin glaube, dass Europa „mad“, wahnsinnig sei. Dringend warnte er davor, von „den Russen“ zu sprechen, aber auch anzunehmen, dass das russische Volk, ein „collective Gopnik“, befreit, „liberated“ werden wolle.

Einige Male war an diesem Samstag die Rede von Jürgen Habermas’ Wortmeldung zur Ukraine und Schwere-Waffen-Diskussion (SZ vom 29. April), dass der Philosoph die Schrillheit der Diskussion eher noch im Sinne eines Generationenkonflikts befeuert habe. Umso beeindruckender, wie bei den 51. Römerberggesprächen Beobachtungen und Fakten zusammengetragen wurden, auch von der Professorin Charlotte Klonk, die über die Bilder des Krieges sprach, von dem Historiker Jannis Panagiotidis, der die vielfältige „postsowjetische Migration“ erklärte, von Stefan Kadelbach und Adam Tooze, die die Art der Sanktionen gegen Russland und ihre rechtliche Verankerung aufbereiteten.

Und schließlich, sicherlich mit Bedacht ans Ende gestellt, ordnete Nicole Deitelhoff vieles, was zur Sprache gekommen war, aus Sicht einer Konfliktforscherin. Auch sie beklagte den derzeit „schrillen Ton“, mahnte, dass Abschreckung und Kooperation weiterhin eng aufeinander bezogen werden müssten, rückte gerade, dass irgendjemand anderes als Putin die Verantwortung für diesen Krieg tragen könnte. Verflechtungen seien notwendig, aber den Fehler des Westens sieht sie darin, auch zu seinen Ungunsten solche Interdependenzen (vor allem beim Gas) eingegangen zu sein.

Putin habe die Ukraine schlicht deswegen angegriffen, „weil er dachte, dass er damit durchkäme“ beim pandemiezermürbten Westen. Nun müsse der Westen „Zeit kaufen, um die Kosten hochzutreiben“ für Russland. Die Ukraine dürfe wegen der Gefahr eines Atomkriegs nicht gewinnen, aber keinesfalls dürfe sie verlieren, sollen Verhandlungen eine Chance haben.

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