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Thomas Biebricher zu den Unionsparteien: „In Friedrich Merz spiegelt sich die Sehnsucht nach einer Identifikationsfigur“

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Von: Peter Riesbeck

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Angela Merkel und Annalena Baerbock (l.) 2018 während einer Plenumssitzung des Deutschen Bundestags.
Angela Merkel und Annalena Baerbock (l.) 2018 während einer Plenumssitzung des Deutschen Bundestags. © picture alliance / Kay Nietfeld/

Was bleibt den Unionsparteien, wenn die schwarze Null weg ist? Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher über den heiklen Widerspruch, das Bewahrende und die Modernisierung zusammenbringen zu müssen – und über das unterschiedliche Potenzial von Armin Laschet und Markus Söder

Herr Biebricher, Sie haben sich intensiv mit dem Konservatismus in Deutschland befasst. Eine Ihrer Thesen lautet, der Konservatismus sei erschöpft durch das Regieren ...

Die Selbstvermarktung des christdemokratischen Konservatismus beruht stark auf dem Selbstverständnis und der Selbstinszenierung als Krisenmanager. Dazu muss man regieren. Aber mir geht es um einen anderen Aspekt: die inhaltliche Erschöpfung, die den christdemokratischen Konservatismus auszeichnet. Das letzte konservative Identifikationsmerkmal war die schwarze Null. Die ist mit der Pandemie vorerst Geschichte.

Der Konservatismus sei „gerichtet auf das Vergangene, während das bürgerliche Denken aus dem Neuen lebt“, hat der Soziologie Karl Mannheim im vorigen Jahrhundert geschrieben. Wie lässt sich dieses grundsätzliche Dilemma zwischen Bewahren und Fortschritt aufheben?

Konservatismus setzt gegen die Veränderung auf Bewahrenswertes. Er sucht im Wandel einen Halt und Orientierung in festen Werten. Die Herausforderung der Konservatismen besteht darin, dass auch dieses Bewahrenswerte sich über die Zeit hinweg ändert, sogar ändern muss, wenn der Konservatismus nicht aus der Zeit fallen will. Das heißt, es muss stetig etwas nachwachsen an neuen, konservativen Positionen. Ein neuer konservativer Bestand, von dem sich sagen lässt: Das ist es wert, künftig bewahrt zu werden.

Auch Konservatismus muss sich also erneuern. So wurde nach 1945 der diskreditierte Begriff „Nation“ durch „christliches Abendland“ ersetzt. CSU-Chef Franz Josef Strauß propagierte später mit der Formel von der „Spitze des technischen Fortschritts“ einen technischen Konservatismus.

Daraus ergibt sich eine Schwierigkeit: Die technischen Neuerungen führen dazu, dass bestehende soziale Strukturen in Frage gestellt werden. Gleichzeitig wird wirtschaftspolitisch auf diesen technischen Fortschritt gesetzt, um Wohlstand und Arbeitsplätze zu garantieren. Das erzeugt eine eigene Dynamik.

Wie lässt sich dieser innere Widerspruch auflösen?

Es gibt eine positive und eine negative Beschreibungsmöglichkeit. Man kann das Vertrauen auf technische Neuerung einerseits als Widerspruch ansehen: Es ist schwierig, sich auf Innovationen einzulassen, die noch dazu getrieben sind von den Mechanismen kapitalistischer Märkte. Dann muss man damit rechnen, dass die Neuerungen massive Auswirkungen haben auf Ziele, Bestände und traditionelle Lebensgewohnheiten, die dadurch in Frage gestellt und im Zweifelsfall sogar hinweggefegt werden.

Und die positive Variante wäre demgegenüber?

Die wohlwollende Beschreibung wäre, den Moderator des Fortschritts zu geben, um die Effekte zu neutralisieren. Nach konservativer Denkart: Nur, wenn wir festgefügte Werte und Lebensformen haben, kann eine Gesellschaft diese Dynamik aushalten.

Die Dynamik in Corona-Zeiten ist eine eigene. Das ordnungsstiftende Bild des Staats, ein klassisches konservatives Motiv, hat stark gelitten. Stichwort: Impfmanagement.

Der Eindruck eines Staates, der technisch nicht auf der Höhe der Möglichkeiten agiert, ist in der Tat eine Hypothek für die Regierungsparteien. Das gilt vor allem für konservative Parteien, die sich gern als Krisenmanager präsentieren.

Zur Person

Thomas Biebricher, Jahrgang 1974, ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie. Heute lehrt er an der Copenhagen Business School, von 2014 bis 2017 lehrte er an der Goethe-Universität in Frankfurt.

Sein Buch „Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ erschien 2018 ( Matthes & Seitz). Anfang 2021 folgte „Die politische Theorie des Neoliberalismus“ (Suhrkamp).

Die nicht gemeisterte Krise wird also zur Last für die Exekutive?

Die aktuelle Situation unter pandemischen Bedingungen und dem Verlust des Austauschs in Person mit anderen Menschen führt zu vielen Verunsicherung. Für Konservative, die auf Verortung und Verwurzelung setzen, bietet das damit durchaus eine Chance.

In der Auseinandersetzung um die Kanzlerkandidatur bediente CSU-Chef Markus Söder eher die konservative Sehnsucht nach einem modernen Krisenmanager. Armin Laschet, Katholik aus Aachen, erweckt in der Krise den Eindruck, er stehe eher für eine Rückkehr zum rheinischen Kapitalismus und Bonner Republik. „Kohl 2.0“, spottete Söder. Zurück in die Zukunft?

Armin Laschet steht für eine traditionelle Christdemokratie: europäische Orientierung, das Versöhnen und ein Hang zum Kompromiss. Söder verkörpert da eher einen autoritären Führungsstil, der aber bei einer Reihe von Menschen gut verfängt. Wobei Söder als Krisenmanager auch die Selbstinszenierung perfekt beherrscht.

Der Politikwissenschaftler. Thomas Biebricher. Foto: Normative Orders
Der Politikwissenschaftler. Thomas Biebricher. © Normative Orders

Hinter der Debatte um Laschet und Söder steckt auch die Frage nach konservativen Identifikationswerten. Was könnten die im 21. Jahrhundert überhaupt ausmachen?

Ein moderner Konservatismus könnte sich positionieren rund um Unverfügbarkeiten, wie ich das nennen möchte. Also beispielsweise ethische Vorbehalte in der Biotechnologie, wenn wir etwa an die jüngsten Berichte über ein Chimären-Wesen aus tierischen und menschlichen Stammzellen denken, über das ein chinesisch-amerikanisches Forscherteam zuletzt berichtet hat.

Das wäre das klassische konservative Bild von der Bewahrung der Schöpfung. Und was bliebe an möglichen Themen darüber hinaus?

Der Umgang mit Technologien wie Künstlicher Intelligenz wäre ein Feld, auf dem sich der Konservatismus bewähren könnte. Um der Zukunft zugewandt zu sein, braucht es eine Verwurzelung in der Vergangenheit. Das ist ein klassisches konservatives Motiv. Das Thema lässt sich aber nicht allzu einfach besetzen, wenn man an kapitalistisch getriebenen Innovationen festhalten will. Denn um Wohlstand und Arbeitsplätze zu sichern, gibt es aus wirtschaftspolitischer Sicht eine große Affinität der Konservativen zu neuen Technologien.

Einfacher scheint es mit dem konservativen Habitus auszusehen: Karl Theodor zu Guttenberg oder Philipp Amthor – spiegelt sich Konservatismus heute vor allem in einem bestimmten Habitus von Breitrip-Cordhose und Goldknopf-Jackett?

Ich würde es anders formulieren: Es gibt auf personeller Ebene eine große Ausgedünntheit an Politikern, die für einen modernen Konservativismus stehen. Guttenberg entstammt dem Adel, das zeigt: Der habituelle Konservatismus hat ein Nachwuchsproblem. So erklärt sich für mich auch die große Anziehungskraft von Friedrich Merz. Er steht zwar eher für einen liberalen Finanz- als für einen konservativen Innenpolitiker. Aber in Merz spiegelt sich die tiefe Sehnsucht nach einer konservativen Identifikationsfigur.

Kommen wir auf den bürgerlichen politischen Wettbewerb. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sagt selbstbewusst, sie stehe für Veränderung. Wie verträgt sich das mit den konservativen Bewahrern von der Union?

Die Grünen dringen auf gewaltige Veränderungen, weil die Klimawende eine gewaltige Herausforderung ist. Da schwelt in der Tat ein Konflikt. Die Union wird sich aber als Moderator des Wandels inszenieren. Das ist ein sehr klassisches konservatives Motiv.

(Interview: Peter Riesbeck)

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