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Theodor W. Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“: Schwülstigkeit als Symptom

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Der Jargon bringt ein heimeliges Gefühl in entfremdete Prozesse: Theodor W. Adorno.
Der Jargon bringt ein heimeliges Gefühl in entfremdete Prozesse: Theodor W. Adorno. © Imago

Vor 60 Jahren trägt Theodor W. Adorno erstmals öffentlich über den „Jargon der Eigentlichkeit“ vor. Ist seine Sprachkritik noch aktuell?

Als Theodor W. Adorno am 9. April 1963 im Hessischen Rundfunk einen seiner damals zahlreichen Radiovorträge hielt, war er ein vielgefragter öffentlicher Redner und Diskussionspartner, der maßgeblich die intellektuellen Debatten der jungen Bundesrepublik bestimmte. Der Titel seiner rund einstündigen Ausführungen zählt zu den bekanntesten Sentenzen aus dem Bereich der Kritischen Theorie und weckt bis heute allerlei Assoziationen: „Der Jargon der Eigentlichkeit“. Während der Titel schnell Karriere machte, indem er bis heute in allerlei Kontexten herbeizitiert wird und als Lehnwort reüssiert („Jargon der…“), blieben Inhalt und Anspruch von Adornos Ausführungen vergleichsweise unbekannt.

Der Vortrag ist ein Ausschnitt aus dem anderthalb Jahre später bei Suhrkamp erschienenen Essay „Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie“. Dieser wurde im Vergleich zu jenem sprachlich stark überarbeitet und vor allem um ausführlichere Bemerkungen zu Martin Heidegger ergänzt. Der ursprüngliche Vortrag von 1963 erwähnt Heidegger nur beiläufig und analysiert den Jargon als breites gesellschaftliches Phänomen. Das hinderte die Mehrheit der Rezipienten jedoch nicht daran, die Schrift, vermittelt durch die titelgebende und für Heideggers Philosophie zentrale „Eigentlichkeit“, auf eine Abrechnung mit der Sprache der Existenzphilosophie Freiburger Prägung zu verkürzen.

Bis heute erfreut sich zudem die Methode großer Beliebtheit, die im Titel der Schrift formulierte Diagnose eines Jargons auf ihren Verfasser zurückzuspiegeln. So führten unterschiedliche Autoren wie Jean Améry („Jargon der Dialektik“), Peter Handke („Jargon streitet wider Jargon“) oder auch Matthias Matussek („ausgerechnet Adorno“) die angeblich gespreizte Ausdrucksweise Adornos beziehungsweise seiner Schülerschaft gegen den Verfasser selbst ins Feld. Ein Jargonkritiker, der selbst einen Jargon kultiviere, sei kein überzeugender Kritiker und solle sich in Demut üben, so die Botschaft.

Der diffizile und historisch voraussetzungsreiche Inhalt von Adornos Ausführungen, der sich auf eine Reihe unterschiedlicher sprachlicher Phänomene von den 1920er Jahren bis in die 1960er Jahre hinein bezieht, geriet so in der breiten Wahrnehmung schnell in Vergessenheit. Dabei lässt sich der Inhalt weder auf eine griffige Formulierung bringen, noch durch die Diagnose einer Gegnerschaft zwischen Adorno und Heidegger abhaken, auch wenn die Abgrenzung zu dessen Sprache in der Version von 1964 tatsächlich eine zentrale Rolle spielt und mitunter etwas langatmig abgehandelt wird.

In dem dicht komponierten und anspielungsreichen Vortrag werden Wörter und Redewendungen als Symptom falscher gesellschaftlicher Verhältnisse in den Blick genommen. Adorno analysiert ästhetische Momente der Sprache, deutet diese soziologisch und befragt sie auf ihre zugrundeliegenden philosophischen Annahmen hin. Sprache wird von ihm nicht als ein von der Gesellschaft unabhängiges und dieser vorgängiges Zeichensystem verstanden, sondern als Ausdruck gesellschaftlicher Wirklichkeit und als Medium der Kritik.

Adorno rückt eine spezifische Sprechweise erhabener Prätention ins Zentrum, die im Dunstkreis zerfallener Religion entstanden ist. Worte, „sakral ohne sakralen Gehalt“, die einen Überschuss an Bedeutung suggerieren, ohne dieses „Mehr“ tatsächlich einzuholen. Eigentliche Sprechweisen finden sich exemplarisch in der Philosophie („Geborgenheit“), der Werbung („Klosterfrau“) oder in der religiös geprägten Öffentlichkeit („Haus der Begegnung“). Die Funktion des Jargons wird bei der Rede vom „Auftrag“ deutlich, die als weltlicher Bestellauftrag ihre Berechtigung hat, in der politischen oder philosophischen Sphäre aber zum Jargon mutiert, wenn beispielsweise vom Auftrag des Volkes die Rede ist. „Gewiß wäre keiner Firma das Wort Auftrag vorzurechnen, wo ihr einer erteilt wird“, bemerkt Adorno. Der Jargon bringt als „Wurlitzer-Orgel des Geistes“ ein heimeliges Gefühl in entfremdete Prozesse, die durchaus breit registriert, nicht aber auf ihre wahren Ursachen hin analysiert werden.

Der Jargon wird von Adorno nicht nur in verschiedenen Spielarten der Existenzphilosophie, sondern auch in der Jugendbewegung, evangelischen Akademien, Volkshochschulen und unter Verwaltungsbeamten ausgemacht. Damit spannt er einen Bogen über fünf sehr unterschiedliche Jahrzehnte deutscher Geschichte, die durch eine Sprechweise verbunden scheinen. Zentral ist die These, dass eine bestimmte, in den 1920er Jahren ausgebildete Sprachform dem Nationalsozialismus zuarbeitet (ohne mit der Sprache des Nationalsozialismus identisch zu sein), diesen überdauert und nach der vermeintlichen Stunde Null in der Bundesrepublik weiter ihr Unwesen treibt.

Exemplarisch ist für Adorno die Rede vom Menschen, die seinerzeit nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit zum Feigenblatt wird. Ob der Mensch, der hier und dort „im Mittelpunkt“ steht, tatsächlich menschlich behandelt wird, geht in der schwülstigen Rede unter. Der Jargon suggeriert, durch höhere Mächte verbürgt zu sein. Adorno hingegen sieht darin einen Kitt falscher Verhältnisse, in denen es nicht unbedingt menschlich zugeht. „Der Mensch ist die Ideologie der Entmenschlichung“, heißt es pointiert.

Seit dem Erscheinen von Adornos Ausführungen vor sechs Jahrzehnten hat sich die deutsche Öffentlichkeit stark gewandelt. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Jargonkritik heute noch Aktualität beanspruchen kann. Zunächst fällt auf, dass die Weihe von oben anscheinend größtenteils verzichtbar geworden ist. An den Philosophieinstituten spricht man weniger existenzialontologisch als vielmehr analytisch. Und auch die breitere intellektuelle Öffentlichkeit scheint weniger anfällig für erhabene Sprechweisen, die Adorno kritisch sezierte. Dennoch lassen sich verschiedentlich Sprechweisen beobachten, die ähnlich wie der Jargon der Eigentlichkeit funktionieren.

Inner- wie außerhalb der Universitäten tauchen solche Sprechweisen bisweilen dann auf, wenn beispielsweise von vermeintlich authentischen „Kulturen“ oder unhintergehbaren „Identitäten“ die Rede ist, ohne deren Prägung durch Geschichte und Gesellschaft zu beachten. Mit dem von Adorno kritisierten Jargon teilen diese Sprachformen vor allem die Kaschierung vermittelter Verhältnisse durch bestimmte Sprachformen. Auch neuere Entwicklungen im Bereich Social Media werden von Sprechweisen begleitet, die an Eigentlichkeit erinnern. Die derzeit beliebte App „BeReal“ empfiehlt sich beispielsweise mit dem Slogan „Deine Freunde in echt“ als authentische Alternative zu gängigen sozialen Netzwerken. Dass solche Plattformen allerdings den gleichen Mechanismen unterliegen, und der Gegensatz von gefiltert und echt (was immer das sein mag) in Wahrheit nur ein gradueller ist, geht in der Rede von vermeintlicher Authentizität unter, die zuverlässig das Sprechen über derlei Apps begleitet.

Im Bereich der Wirtschaft werden mit dem Jargon der Eigentlichkeit verwandte Sprachformen immer dort gerne verwendet, wo die Verhältnisse nicht von allein für das richtige menschliche Feeling sorgen. So steht der Mensch auch heute noch in wahrscheinlich jeder zweiten „Unternehmensphilosophie“ im Mittelpunkt. Und auch die Werbung suggeriert zuverlässig, dass es auf den Menschen ankommt. Ein Beispiel ist die sattsam bekannte Goethe-Verdrehung „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“, mit der seit Jahrzehnten eine Drogeriemarktkette wirbt. Besonders anfällig für eigentliche Sprechweisen scheint die Ökoszene zu sein, die gerne auch sprachlich einen natürlichen, von Naturbeherrschung unberührten Zustand beschwört – ein flüchtiger Blick auf die Markennamen von Bioprodukten mag als Beleg genügen.

Auch wenn der Jargon der Eigentlichkeit eines Tages vollständig verschwunden sein mag, bleibt der sprachphysiognomische Ansatz der Sprachkritik dennoch aktuell. Anstatt sich nur über vermeintlich Unverständliches zu mokieren, angeblich unnötig komplizierte Formulierungen abzulehnen oder als Jargon ausgemachte Wörter aus dem Sprachgebrauch zu verbannen, untersucht dieser Sprachformen auf ihren gesellschaftlichen Gehalt. Dieser Ansatz bewährt sich auch an neuen, einflussreichen Sprechweisen, die schon heute nicht mehr unbedingt solche der Eigentlichkeit sind.

Max Beck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Jena. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt die Kritische Theorie von Adorno und Horkheimer.

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