Stadtplanung – Immer nur werden, niemals sein?

Ein Organismus lässt sich nicht planen, ein Haus nicht flugs wieder abreißen, und was zu Fuß überzeugt, ist vom Auto aus oft keine Lösung: Ein Plädoyer für einen weniger verkrampften Umgang mit dem vertrackten Problem der Stadtentwicklung.
Die wahrscheinlich berühmteste urbanistische Aussage über Berlin – es sei „dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein“ – ist zwar schon ein gutes Jahrhundert alt, hat aber durchaus aktuelle Implikationen. Auch auf andere Städte. Denn Karl Scheffler hat in seiner so treffsicheren wie polemischen Analyse „Berlin. Ein Stadtschicksal“ eine Art Entwicklungsgesetz der Stadt abgeleitet, demzufolge diese sich fortan immer unter Schwierigkeiten aller Art und zur Hälfte künstlich entwickeln musste und sich ungünstigen Verhältnissen anzupassen hatte.
Doch wenn Schefflers Halbsatz zitiert wird, dann meist mit einer Konnotation der Trauer über einen (städte)baulichen Verlust. Dem hätte er nicht zugestimmt. Denn seine Herleitung ist eine andere: Aufgrund der steten Unzufriedenheit der Menschen mit dem tatsächlich unbefriedigenden Zustand der Stadt wird immer wieder ein neuer Wille zur Umgestaltung laut. Jedem Gewordenen liegt ein Wollen zugrunde und jedes Gewordene wird immer wieder zum Auslöser für Ablehnung und die Erfindung eines neuen Gewollten. Scheffler geht möglichst objektiv und unvoreingenommen an die Betrachtung eines Ortes heran.
Die Frage, ob ein soziales System wie die Stadt sich selbst planen kann und mit welchen Problemen man rechnen muss, wenn dieses versucht wird, hat auch den Soziologen Niklas Luhmann beschäftigt. Er beantwortete sie nicht mit der trivialen Feststellung, dass alle Planung unzulänglich sei. Nicht dass sie ihre Ziele verfehlte oder hinter ihnen zurückblieb, nicht ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen standen zur Debatte, das eigentliche Problem war vielmehr, „dass Planung Betroffene erzeugt – sei es, dass sie Benachteiligte werden, sei es, dass nicht alle ihre Wünsche erfüllt werden. Die Betroffenen werden wissen wollen und sie werden freie Kapazitäten im System nutzen wollen, um zu erfahren und möglichst zu ändern, was geplant wird.“ Bei jeder Planung, bei jeder städtebaulichen Entscheidung seien irgendwelche Interessen übergangen, mögliche Folgen nicht beachtet, Risiken falsch eingeschätzt und vor allem: andere Prioritäten zurückgesetzt worden.
Nicht jeder wird das so kompliziert ausdrücken, aber jeder kennt das, was damit gemeint ist: Der seinerzeit an der HfG Ulm lehrende Wissens- und Designtheoretiker Horst Rittel hat einmal sehr schön dargelegt, dass man zeitgenössische Planung in erster Linie als Umgang mit „wicked problems“ begreifen müsse, also mit vertrackten, ja bösartigen Problemen. Will man etwa einen benachteiligten Stadtteil aufwerten, stellt sich zunächst die Frage, um was es im Kern geht: Ist es die nicht sanierte Bausubstanz, ist es die soziale Benachteiligung der Bewohner und Bewohnerinnen oder die im Stadtteil fehlende Wirtschaftsstruktur?
Es erstaunt nicht, dass auch die Suche nach Zielen und Maßnahmen „wicked“ ist: Es gibt keine richtigen und falschen Lösungen für Planungsprobleme, sondern nur gute bzw. schlechte Lösungen, die immer eine normative Wertung enthalten. Was für den einen die Lösung eines Problems darstellt, generiert Probleme für andere. Die Aufwertung eines Stadtteils kann zur Verdrängung der angestammten Bevölkerung führen.
Hinzu kommt ein weiterer Wesenszug von Planung: Sie wirkt langfristig und das „Trial-and-Error“-Prinzip ist nicht gültig: So existiert ein zur Revitalisierung einer Brachfläche neu errichtetes Gebäude für lange Zeit. Hinterher lässt sich nicht mehr ausprobieren, ob anstelle des neuen Einkaufszentrums vielleicht Wohnbebauung die attraktivere Lösung gewesen wäre oder man nicht besser einen Park dort angelegt hätte. Stadtplanung beschäftigt sich mit Problemen, die in der Regel weder eindeutig definierbar noch vollständig lösbar sind.
Parkraumbewirtschaftung stellt für die, die Auto fahren, sicher ein Ärgernis dar, während sich andere über freie Geh- und Radwege und weniger Autoverkehr freuen. Stadtplanung muss sich offensichtlich von der Vorstellung trennen, perfekte Konzepte, die alle glücklich machen, zu entwickeln und umzusetzen. Eher geht es darum, zwischen unterschiedlichen Interessen zu vermitteln, dabei Interessen, die sich sonst nicht durchsetzen können, im Auge zu behalten und gegebenenfalls zu unterstützen.
Dass Städte Organismen sind, die sich vielfach unkontrolliert entwickeln, dass sie aber zugleich Objekt von Ordnungsfantasien geworden sind: Diesen Widerspruch sollte man sich immer wieder bewusstmachen. Überhaupt wird man sich die Frage stellen müssen, ob Stadtentwicklung nicht etwas mit der Spieltheorie zu tun hat, der zufolge Spielerinnen und Spieler sich entscheiden, ohne die einzelnen Gegebenheiten des Problems zu kennen, von denen einige bekannt sind, andere zufallsbedingt, wieder andere unbestimmbar.
Das bedeutet nun keineswegs, die Daseinsberechtigung von Planung in Zweifel zu ziehen. Will sie aber ihre Rolle als steuernde Instanz zurückerlangen, muss die Improvisation – die im Kleinen durchaus sinnvoll ist – durch ein stabiles Konstrukt gestützt werden. Dabei ist insbesondere die Frage bedeutend, wie dabei immanente, bisher vielleicht kaum beachtete soziale und situative Qualitäten freigesetzt und fruchtbar gemacht werden können.
Das Ganze – die Stadt – zeigt Eigenschaften, die sich nicht allein erklären lassen aus den Funktionen seiner Bestandteile (also des Wohnens, des Verkehrs, des Einzelhandels usw.). Vielmehr hat das Ganze Eigenschaften, die den Teilen fremd sind. Man nennt das Emergenz. Wenn man die Algorithmen der Veränderung kennt, kann man berechnen, welche Muster entstehen werden. Allerdings kennen wir diese nicht, zumindest nicht genau genug.
Doch immerhin gibt es stabilisierende Elemente. Denn das „Spiel der Stadt“ war immer ein sorgfältiges Ausbalancieren zwischen strukturellen Ordnungssystemen, um das Chaotische zu kontrollieren, und der notwendigen Adaption an veränderte Umweltbedingungen. Entsprechendes gilt für das „Spiel der Natur“ oder auch für unsere Sprache: Wir gehen außerordentlich sorgfältig mit der Syntax unserer Sprachen um, mit dem Ziel sicherzustellen, dass wir uns verstehen. Wir erlauben uns aber sehr viel Freiheit bei der Veränderung der einzelnen Wörter. So ist ein „Hamburger“ plötzlich nicht mehr, was er einmal war, und auch Herr Mitterrand konnte den Wortwechsel vom „Ascenseur“ zum „Lift“ weder aufhalten noch juristisch einklagen. In der grammatikalischen Position stehen der Hamburger und der Lift aber seit Jahrhunderten an der gleichen Stelle.
Gewiss, die Frage, wie die Stadt von übermorgen strukturiert sein wird, was sie charakterisiert oder ausmacht, und wie sie aussieht, ist damit nicht beantwortet. Aber! Es wäre ohnehin vermessen – wenn nicht gar fatal –, darauf überhaupt eine klare, eindeutige Antwort zu erwarten. Zum einen helfen ausformulierte, festgefügte Stadtvisionen nicht weiter. Urbane Utopien waren nie als Prozess gedacht, nie beseelt von nichtlinearer Dynamik. Und endeten ohnehin meist in technokratischen Visionen. Welchen Grund gibt es zu glauben, dass dies sich bei den heutigen Projektionen anders verhielte?
Zum anderen, und dem nicht widersprechend, gibt es in der Stadtentwicklung Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekte. Nicht alles, was möglich ist, ist auch realistisch. Nicht alles, was man wahrnimmt, ist unhinterfragbar. Und nicht alles, was machbar ist, ist wünschenswert.