Skandal beim „Canard enchaîné“: Die Ente quakt nicht mehr, aber sie schnattert

„Le Canard enchaîné“ ist eine Institution des französischen Enthüllungsjournalismus. Jetzt stolpert das Pariser Blatt über eine interne Affäre.
Es kann gefährlich sein, in der eigenen Redaktion ausgefuchste Recherchierjournalisten zu beschäftigen. Vor allem einen wie Christophe Nobili, der in der Pariser Zunft den Spitzennamen „le fouineur“ hat – zu Deutsch: der Schnüffler.
Vor sechs Jahren hatte der 51-jährige Redakteur des „Canard enchainé“ enthüllt, dass der konservative Präsidentschaftsfavorit François Fillon seine eigene Frau und gelegentlich auch zwei seiner Kinder als Parlamentsberaterin bzw. -berater entlohnte, obwohl sie keine entsprechende Arbeit leisteten. 900 000 Euro an öffentlichem Geld soll Fillon mit solchen Scheinjobs zugunsten seiner Familie veruntreut haben.
Die Affäre, die dem mit Abstand führenden Kandidaten der Republikaner später eine mehrjährige Haftstrafe einbrocken sollte, führte in Paris 2017 zu einem Politbeben ersten Grades – und indirekt zur Wahl Emmanuel Macrons. Nobili hat bis heute nicht gesagt, wer ihm die Unterlagen für seine mehrteilige Enthüllungsstory zugespielt hatte.
Seit ein paar Wochen ist er nun vollauf mit einer anderen Affäre beschäftigt. Und sie betrifft nicht wie üblich korrupte Politiker oder Wirtschaftskapitäne – sondern das eigene Blatt. Nobili behauptet, der „Canard enchaîné“ („Die angekettete Ente“) habe selbst einen Scheinjob fabriziert und davon profitiert. Der bekannte Karikaturist André Escaro habe seiner Frau Edith seit 1996 monatliche Einkünfte von 4000 Euro zugeführt, und zwar ohne sichtbare Gegenleistung und ohne dass die Frau je einen Fuß in die Redaktion gesetzt habe. Niemand in der Redaktion habe jemals von einer Arbeit Edith Escaros gesehen oder gehört.
Im Visier sind „Canard“-Chefredakteur Nicolas Brimo (72) und Verleger Michel Gaillard. Sie sollen dem „Schnüffler“ zufolge die fiktive Arbeit veranlasst und gedeckt haben; zu diesem Zweck hätten sie jahrelang die Angaben an die Sozialversicherung gefälscht. Der Umfang der Veruntreuung soll sich auf drei Millionen Euro belaufen. Das wäre mehr als im Fall Fillon, dessen Frau immerhin ein paar magere Arbeitsbelege vorweisen konnte.
Der „Canard enchaîné“ kann das nicht. Nobili sagte in einem Interview mit dem Radiosender France-Inter, er sei fassungslos gewesen: „Es kann doch nicht sein, dass eine Zeitung, die von anderen eine totale Aufrichtigkeit verlangt und ihnen Lektionen in Moral erteilt, selbst solche obskuren Praktiken anwendet.“
Mit ihrer Reaktion auf die Enthüllung macht die Chefredaktion alles nur noch schlimmer. Das Führungsduo verweigert jede Aussage; dagegen schickte es Nobili das Entlassungsschreiben. Der Journalist hatte allerdings vorgesorgt, indem er in der Redaktion eine Sektion der Gewerkschaft CGT gründete – als Betriebsrat kann er nicht einfach auf die Straße gesetzt werden. Zudem reichte er Klage gegen Unbekannt ein. Die Pariser Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen, eine Verfahrenseröffnung könnte laut Insidern noch in diesem Jahr erfolgen. Für die Reputation des „Canard“ wäre das eine Katastrophe.
Trotzdem – oder gerade deshalb – hält die Chefredaktion weiterhin den Mantel des Schweigens über die Affäre. Nobili konnte das Ergebnis seiner Recherchen nur in einem Buch veröffentlichen, „Cher Canard“ heißt es, „Liebe Ente“. Intern versucht die Chefredaktion, ihn als „Denunzianten“ zu isolieren. Es gelingt nicht: An Nobilis Seite stellt sich unter anderem der frühere „Canard“-Chefredakteur Claude Angeli (91). Er ist eine lebende Legende, hatte er doch 1979 die Affäre der Bokassa-Diamanten enthüllt. Das vereitelte vermutlich die Wiederwahl des amtierenden Staatschefs Valéry Giscard d’Estaing und führte 1981 zur Wahl des Sozialisten François Mitterrand.
Auch jüngere Redaktionsmitglieder werden Nobili zufolge „eingeschüchtert und terrorisiert“. In der Zeitung „Le Monde“ äußerte sich ein „Küken“ (interner Jargon) aus Angst vor Repressalien anonym: „Den Schnabel zu öffnen ist verboten.“ Viele schämten sich in der Redaktion, dass ihr nun das gleiche Fehlverhalten wie Fillon vorgeworfen werde. Und das in einem Blatt, das stolz ist auf seinen Ruf und seine Vergangenheit.
Der „Canard enchaîné“ war im Ersten Weltkrieg gegründet worden und musste die Fakten damals sarkastisch verbrämen, um die Staatszensur zu umgehen – daher das Attribut „angekettet“. Nach den Kriegen zitterte die „classe politique“ jeweils dem Dienstagabend entgegen, wenn der „Canard“ an der Pariser Redaktionsadresse – 173 Rue Saint-Honoré – druckfrisch eintraf und den nächsten Skandal ausbreitete. Am liebsten entlarvte die entfesselte Ente die Mächtigsten wie Fillon und Giscard. Von Präsident Nicolas Sarkozy zeigte sie die Speckröllchen an den Hüften, die andere Medien gehorsam wegretouchiert hatten. Unternehmern wie Marcel Dassault wies sie Schummeleien nach, dem Ex-Minister Maurice Papon Judendeportationen im Zweiten Weltkrieg. Bei solchen Scoops verdoppelte sich die Auflage des „Canard“ rasch einmal auf mehr als eine Million.
Jetzt ist das Fest vorbei. Dass die Blattverantwortlichen in eigener Sache starrsinnig schweigen und Angestellten über Anwälte drohen, zeugt vom Niedergang einer medialen Ikone, die über die Landesgrenzen wirkte.
Gewiss, das französische Satireblatt schwimmt weiterhin im Geld; unter anderem verfügt es gleich neben seiner Redaktion über eine teure Immobilie. Doch der Zahn der Zeit nagt generell am „Canard“. Die acht werbefreien Zeitungsseiten mit einem Gemisch aus Palastnews, Kritiken und Karikaturen sind nicht mehr spritzig frech oder politisch explosiv. Seit der Fillon-Affäre hat die Ente keinen größeren Scoop mehr produziert. In die Bresche gesprungen sind Newsportale wie Mediapart oder Faktenchecker wie „Libération“. Die Auflage des „Canard enchaîné“ ist in diesem Jahrzehnt von einer halben Million auf 270 000 gesunken. Sollte das Blatt wegen Veruntreuung verurteilt werden, dürften ihm noch viel mehr Stammleser und -innen untreu werden.