Corona-Impfdebatte und Neid in der Pandemie: „Ist das gerecht so?“

Das Wettrennen um die Impfreihenfolge ist in vollem Gange. Ein Gespräch mit dem Soziologen Sighard Neckel über Groll, Neid und Wut.
Herr Neckel, Sie sind Mitte 60, sind Sie schon geimpft?
Ja, seit vierzehn Tagen, als in Hamburg die Hausärzte mit der Impfung begannen. Voraussetzung war, dass ich bereit wäre, mir Astrazeneca impfen zu lassen. Das war ich.
Was bedeutet es, wenn eine private gesundheitspolitische Entscheidung in den Rang einer gesellschaftspolitischen Frage erhoben wird?
Es gehört zum Wesen einer solchen Pandemie, dass eine private Entscheidung für oder gegen die Impfung auch das Gemeinwesen betrifft – in der Pandemie ist das Private politisch, um einen Satz aus der Geschichte der Neuen Linken zu zitieren. Schließlich hängt von der persönlichen Impfbereitschaft der Aufbau einer allgemeinen Immunisierung ab. Immun ist man niemals alleine.
Sie haben über soziale Gefühle wie Scham, Wut, Gier und Neid geforscht. Was hat es mit dem sogenannten Impfneid auf sich?
Die Sozialwissenschaft kennt ein eingängiges Gleichnis, das den Impfneid erklären kann: den sogenannten „Tunneleffekt“ des Ökonomen Albert O. Hirschman. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Auto durch einen Tunnel mit zwei Spuren in gleicher Richtung und geraten in einen langen Stau. Sie befinden sich auf der rechten Spur und sind deprimiert. Nach einiger Zeit beginnen die Autos auf der linken Spur wieder zu rollen. Ihre Stimmung steigt, weil der Stau sich aufzulösen beginnt, und Sie erwarten, dass es auch auf der rechten Spur gleich losgehen wird. Das Vorwärtskommen der anderen empfinden Sie als Aussicht auf eine Verbesserung auch der eigenen Lage. Was aber, wenn uns die linke Spur davonfährt, und wir nach wie vor nicht von der Stelle kommen?
Dann wird aus der freudigen Erwartung eifersüchtiger Neid auf die Vorteile der Schnelleren?
So scheinen es heute bei der Impfreihenfolge viele zu empfinden. Am Anfang waren alle froh, dass es mit der Impfung endlich losgeht, zunächst bei den Risikogruppen, und haben sich in Geduld geübt. Jetzt scheinen die Geimpften diejenigen auf der linken Spur im Tunnel zu sein: sie kommen voran in der Rückkehr zur Normalität, während die anderen weiterhin darauf warten müssen. Und dann kommen die typischen Zweifel auf, die den Neid befeuern: Geht es hier eigentlich mit rechten Dingen zu? Ist das gerecht so? Wer sorgt dafür, dass ich mich in die linke Spur einfädeln kann?
Zur Person
Sighard Neckel, geb. 1956 in Gifhorn, ist Professor für Gesellschaftsanalyse an der Universität Hamburg. Er hatte nach dem Studium der Soziologie, Rechtswissenschaften und Philosophie in Bielefeld und an der FU Berlin Professuren in Siegen, Wuppertal, Gießen, Wien und Frankfurt.
Unter seinen jüngsten Büchern sind die 2020 von ihm mitherausgegebenen Bände „Gesellschaftstheorie im Anthropozän“ und „Imaginationen von Nachhaltigkeit. Katastrophe. Krise. Normalisierung“ (beide bei Campus). Der im Gespräch erwähnte Aufsatz „Eingesperrt: der Groll“ erschien in der Mai-Nummer der Zeitschrift „Merkur“, 75. Jg., Heft 5, Nr. 864.
Neid ist eine anthropologische Konstante, wie wir seit Kain und Abel wissen. War es eine Illusion zu glauben, dass Neid in einer offenen Gesellschaft keine dominante Rolle einnehmen kann?
Die offene Gesellschaft, wie Sie es nennen, schafft im Gegenteil besonders günstige Voraussetzungen für den Neid. Neid beruht ja auf dem Vergleich und dem Gefühl des „Wenigerseins“, wie Max Scheler dies ausgedrückt hat. Die moderne Gesellschaft ist insofern sehr offen für Neid, weil sie zahllose Vergleichsmöglichkeiten zulässt, und damit auch unzählige Anlässe, sich in einer schlechteren Position zu sehen und neidisch auf die Vorzüge anderer zu sein.
Wie kann, wie sollte die Politik darauf reagieren?
Dort, wo der Neid nicht unberechtigt ist, wenn einige einseitige Vorteile haben und es keine fairen Chancen gibt, ist es sicher nicht falsch, dass sich die Politik grundsätzlich im Sinne der Chancengleichheit und des sozialen Ausgleichs versteht. Aber manch‘ öffentliche Klage über den Neid funktioniert ja auch nach dem Prinzip „Haltet den Dieb!“ – dann werden denjenigen Neid und Missgunst unterstellt, die sich mit guten Gründen über Ungerechtigkeiten beschweren. Wenn etwa, wie jetzt in der Pandemie, der Einzelhandel und Solo-Selbständige darüber klagen, dass sie in den wirtschaftlichen Ruin getrieben werden, während die Giganten des Onlinehandels weiterhin immense Steuervorteile genießen, dann hat das nichts mit Neid und Missgunst zu tun.
In der Zeitschrift „Merkur“ haben Sie den „Groll“ in der Gesellschaft analysiert und auch die Querdenker-Bewegung erwähnt. Lässt die Pandemie den Groll in der Bevölkerung wachsen?
Groll ist ja eine Art zurückgestauter Unwille, der im Inneren rumort, eine Vorstufe der offenen Wut. Nach den scheinbar endlosen Monaten der Pandemie tragen das viele mit sich herum, die verärgert über die zahlreichen Kehrtwendungen der Corona-Politik und deren Widersprüchlichkeiten sind. Interessant ist, dass man solche Gefühle nicht allein in den Bevölkerungsgruppen beobachten kann, die aufgrund ihrer Soziallage am stärksten unter der Pandemie leiden. Gerade in bürgerlichen Kreisen ist ein Groll auf den Staat gewachsen, der einem jetzt dauernd Vorschriften macht. Das ist man hier nicht gewohnt. Regierungspolitik erfuhr man meist zum eigenen Vorteil, und ansonsten wollte man in seinem Privatleben in Ruhe gelassen werden. Entsprechend geht es dem bürgerlichen Milieu auf den Wecker, dass der Staat sich jetzt überall einmischt. In Kreisen von Rechtsanwälten, Ärzten, Steuerberatern, Universitätsprofessoren und Unternehmern wird das sehr offen kommuniziert. In anderen Milieus hingegen gehörte die Einmischung des Staates schon immer zur Lebensrealität. Jetzt grollt das Bürgertum, weil es sich genauso behandelt sieht wie die Sozialschichten unten. Von offener Wut hält es nur ab, dass man nicht ganz die Contenance verlieren möchte. Im eigenen Milieuzusammenhang überlässt man es bekannten Fernsehschauspielern, den Affekten freien Lauf zu lassen – eine Art beruflicher Arbeitsteilung.
Zu Beginn der Pandemie ist viel über Solidarität gesprochen worden, und dass nicht nur, weil den Pflegekräften von den Balkonen herab applaudiert wurde. Ist die Ressource Solidarität inzwischen aufgebraucht?
Die bisweilen euphorische Rede über die Solidarität in der Seuche war von vorneherein etwas verfehlt. Der Applaus auf den Balkonen kostete nichts, da kann ich leicht solidarisch sein. Nun will ich nicht bezweifeln, dass es ein weitverbreitetes Gefühl in der Bevölkerung gibt, dass man in solchen Zeiten zusammenhalten sollte. Praktisch jedoch werden Bevölkerungsgruppen auseinandergetrieben, wenn die Lasten der Pandemie so ungleich verteilt sind wie dies tatsächlich der Fall ist. Von Hamburg-Harvestehude aus betrachtet ist der armutsbelastete Stadtteil Veddel weit entfernt, obwohl man nur einmal kurz über die Elbe muss. Hier aber liegen die Infektionszahlen sechsmal höher, dafür gibt es aber dort kaum einen Arzt, der die Einwohner impfen kann. Erst jetzt fängt man an, sich darum zu kümmern. Das „social distancing“ ist nicht erst durch das Virus erfunden worden. Viele haben die Lebensrealität der Schlechtergestellten schlichtweg aus den Augen verloren und nur ihre eigenen Kreise im Blick. Eine eigentlich archaische Form der Solidarität, die sich nur auf die eigene Gruppe richtet. Die Pandemie hat eine Tendenz verstärkt, die auch bereits vorher vorhanden war: den sozialen Separatismus, eine Gesellschaft voller innerer Sperrgebiete für jeweils geschlossene Gruppen.
Deutschland befindet sich in einem Wahlkampf, in dem sich die Parteien zuletzt schwertaten, sich voneinander zu unterscheiden. Denken Sie, dass in den nächsten Wochen eine erkennbare Ausdifferenzierung stattfinden wird?
Manche Parteien werden es sich nicht entgehen lassen, auf starke Unterschiedsreize zu setzen. Die AfD etwa wird sich als Freiheitspartei gerieren, die die Bürger vor einer vermeintlichen Öko-Diktatur schützt. Ansonsten spricht im Augenblick vieles dafür, dass die Parteien in den Gegenverkehr des Wahlkampfes nur mit angezogener Handbremse ziehen. Die realistischen Machtoptionen für eine neue Regierung laufen auf einen Mittelklassen-Kompromiss zwischen dem alten Bürgertum der CDU und den aufgestiegenen Wählerschichten der Grünen hinaus. Da wird man immer auch im Blick haben, sich gegenseitig nicht in schwere Unfälle zu verwickeln. Hauptsächlich dürfte es darum gehen, wer mit der Kanzlerschaft voranfahren darf. Das kann zwischenzeitlich zu Hupkonzerten führen, aber am Ende wird man sich gemeinsam am Zielort einfinden wollen. (Interview: Harry Nutt)