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Erste Schwulendemo in Deutschland: „Das Selbstverständlichste wird in Frage gestellt“

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Von: Arno Widmann

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Ohne seinen Film, wäre die Demonstration kaum vorstellbar gewesen: Rosa von Praunheim in „Der fröhliche Serienmörder“. Foto: Rosa von Praunheim
Ohne seinen Film, wäre die Demonstration kaum vorstellbar gewesen: Rosa von Praunheim in „Der fröhliche Serienmörder“. © Rosa von Praunheim

Vor fünfzig Jahren demonstrierten in Münster Schwule und Lesben – zum ersten Mal in Deutschland. Die Geschichte einer historischen Veranstaltung.

Münster – Am 29. April 1972 fand in Münster die erste deutsche Schwulen- und Lesbendemo statt. So steht es heute in Wikipedia und in jedem besseren Geschichtsbuch. Wer sich aber vorstellt, Teilnehmer und Teilnehmerinnen sei die historische Dimension der Veranstaltung klar gewesen, der täuscht sich. Viele von ihnen waren schon seit Jahren auf allen möglichen Demonstrationen gewesen. Gegen Vietnamkrieg und Notstandsgesetze, gegen das Franco-Regime und den Paragraphen 218, gegen Fahrpreiserhöhungen und Berufsverbote, gegen die Ordinarienuniversität und Mietwucher, gegen die Todesurteile für Linksradikale in der Türkei, gegen das Vorgehen der britischen Truppen in Nordirland. Häuser, Schulen und Universitäten wurden besetzt, Fabriken bestreikt. Wer in einer Universitätsstadt wohnte, konnte während des Semesters jede Woche mindestens auf eine Demonstration gehen.

Es gab Dutzende von Organisationen, die darum stritten, was wichtig und was nicht ganz so wichtig, was die richtige Forderung gegen Fahrpreiserhöhungen oder zur Lage in Chile oder Angola war. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine alarmierende Studie „Die Grenzen des Wachstums“. Im Jahr zuvor hatte – von Alice Schwarzer organisiert – der Stern seine Titelgeschichte „Wir haben abgetrieben“ veröffentlicht. Immer mehr Gruppen der bundesrepublikanischen Gesellschaft meldeten sich zu Wort und protestierten gegen ihre Stellung darin. Manche Gruppen wurden sich erst in diesen Protesten bewusst, eine Gruppe zu sein.

1971 zeigte Rosa von Praunheim seinen Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“. Der Titel ist großartig. Auch weil er das damalige Modewort „Gesellschaft“ vermeidet, sondern von der „Situation“ spricht. Das Soziologendeutsch, das damals die Kritik wie ein Schmutzfilm überzog, war weg. Rosa von Praunheims Film machte Epoche. 1972 war er auf der Documenta in Kassel. Er wurde in den USA ausgezeichnet. Und im September 1971 strahlte der WDR ihn aus. Die anderen Sendeanstalten der ARD machten nicht mit…

Erste Schwulendemo in Münster: „Wir müssen uns organisieren“

Aber in diesem Artikel soll doch an die Demonstration in Münster erinnert werden. Sie ist undenkbar ohne Praunheims Film und die öffentliche Erregung um ihn. Der Film forderte Schwule und Lesben auf, aus ihren Verstecken herauszukommen. „Wir schwulen Säue wollen endlich Menschen werden und wie Menschen behandelt werden. Und wir müssen selbst darum kämpfen. Wir wollen nicht nur toleriert, wir wollen akzeptiert werden. Es geht nicht nur um eine Anerkennung von Seiten der Bevölkerung, sondern es geht um unser Verhalten unter uns. Wir wollen eine gemeinsame Aktion, damit wir uns kennenlernen und uns gemeinsam im Kampf für unsere Probleme näherkommen und uns lieben lernen. Wir müssen uns organisieren.“

Dieser Ruf wurde gehört. Wikipedia schreibt: „Zwischen 1971 und 1973 kam es zur Gründung von insgesamt 70 Gruppen bzw. Vereinen und anderen Einrichtungen, davon 55 mit einem allgemeinen Vertretungsanspruch, viele davon mit direktem Bezug zum Film.“ Ich glaube nicht, dass irgendein anderer Film, ein anderes Kunstwerk jemals einen vergleichbaren Effekt hatte. Kunst kann die Gesellschaft verändern. Sie kann jedenfalls einen massiven Beitrag dazu leisten.

Die Demonstration in Münster zeigt, wie schwierig jeder einzelne Schritt ist, den man tut, um an die Öffentlichkeit zu gehen.

Schwule und Lesben organisieren sich 1972 in Münster

Was ich darüber hier aufschreibe, habe ich einer 2019 erschienenen Dissertation entnommen. Patrick Henze hat „Schwule Emanzipation und ihre Konflikte – Zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre“ im Querverlag (432 Seiten, 18 Euro) veröffentlicht. Für den, der alt genug ist, die damalige Zeit mitbekommen zu haben, ist die Lektüre eine erschütternde Erinnerung. Einerseits die Aufbruchstimmung. Das Gefühl, du kannst dein Leben ändern, breitet sich viral aus. In noch die entferntesten Winkel. Das bis dahin Selbstverständlichste wird in Frage gestellt. Andererseits der Zank. Je sicherer man ist, dass der Erfolg von der Fähigkeit zur Zusammenarbeit abhängt, desto verbissener wird der Kampf geführt um die Durchsetzung der eigenen Auffassung von der Zusammenarbeit.

Eingeladen hatten zum 29. April 1972 die Homosexuelle Studentengruppe Münster (HSM) und die Internationale Homophilen Welt-Organisation (IHWO) zu einer „Aktion-Demonstration-Diskussion-Party“ um 11.30 Uhr auf dem Schlossplatz der Universität Münster. Die beiden Organisationen hatten sich schon vor Praunheims Film gegründet. Dazu kam die 1970 von zwei lesbischen Studentinnen gegründete „Homosexuelle Aktionsgruppe Bochum“ (HAG). In der Einladung hieß es: „Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es bei der Aktion nicht um homosexuelle Selbstdarstellung im Sinne von ‚gay and proud‘, ‚gay ist beautiful‘ usw. geht. Es wird demonstriert und nicht demoliert.“ Das wandte sich gegen die Erfahrung vieler Schwuler und auch des Praunheim-Films, dass die stolze Demonstration des Schwulseins nicht nur das Selbstbewusstsein der Homosexuellen stärkt, sondern – gerade dadurch – auch das öffentliche Bewusstsein über seine Borniertheit aufklärt. Es wird wachgerüttelt. Je näher der Termin rückte, desto mehr Gruppen meldeten sich. Desto unhaltbarer wurden die Einschränkungen der Veranstalter.

Schon das Wort „schwul“ war Programm. Wer sich als schwul bezeichnete, der verkroch sich nicht mehr hinter akademischen Vokabeln, sondern nahm das ihm entgegengeschleuderte Schimpfwort und sagte: Jawohl, ich bin schwul, und ich bin stolz darauf. Man stritt nicht um die politisch korrekte Bezeichnung, sondern man nahm den Kampf auf. Die angereisten Linken, insbesondere die Rote Zelle Schwul (RotZSchwul) aus Frankfurt am Main brachte die Gastgeber ins Schwitzen. Und die Öffentlichkeit gleich mit. Die Verbindung von demonstrativem Schwulsein mit antikapitalistischen Parolen erregte Ärgernis. Vor allem aber Aufmerksamkeit. Ein Erfolg der Politik der Provokation. Also genau das, wogegen die einladenden Organisationen sich gewandt hatten. Sie waren dagegen gewesen, dass Männer in Frauenkleidern mit liefen.

Münster: „Man zeigte sich zum ersten Mal erkennbar als schwul“

RotZSchwul-Mitgründer Martin Dannecker wurde später einer der wichtigsten deutschen Sexualwissenschaftler. Schon 1974 veröffentlichte er zusammen mit dem Psychoanalytiker Reimut Reiche, einem ehemaligen Vorsitzenden des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), die epochemachende Studie „Der gewöhnliche Homosexuelle“. Dannecker erinnert sich an die Auseinandersetzungen um die Demonstration in Münster: „Es kam wirklich so eine Angst auf, dass, wenn wir durch Münster gehen, die Hausfrauen sich zusammenrotten und mit ihren Handtaschen auf die Schwulen eindreschen würden. Aber ich war zutiefst davon überzeugt, dass das nicht so sein würde und sagte: ‚Nein! Das wird nicht stattfinden!‘“

„Im Gegenteil. Das Angepasste hängt ja mit der Vorstellung zusammen, der Andere sei souverän und kann über mich bestimmen. Das bringt einen immer in die abhängige Position… Im Grunde sind Anpassungsfragen in diesem Zusammenhang immer politische Fragen: Was darf man zeigen, was darf man fordern, wie darf man sich darstellen. Und dadurch kam die Erfahrung, dieses Euphorische bei diesem Häuflein der Aufrechten, die in Münster mitgingen – es waren ja nicht furchtbar viele. Für die war das aber natürlich etwas Unglaubliches. Man zeigte sich zum ersten Mal erkennbar als schwul, machte schwule Forderungen – und fühlte sich hinterher besser“. Und verbesserte so die Gesellschaft. Eine wichtige Lektion. (Arno Widmann)

Bis heute gibt es Tabus, die gebrochen werden müssen. Erst vor kurzem bekundeten hunderte Fußballer:innen Solidarität mit schwulen Spieler.

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