Sarah Chaneys „Bin ich normal?“: Auf Kosten der Anderen

Sarah Chaney untersucht, was wir warum als normal empfinden. Von Klaus Walter
Dass Bücher die Wahrnehmung verändern, ist der Traum von Autorinnen und Autoren. Sarah Chaney gelingt das mit „Bin ich normal?“ Das Buch sensibilisiert die Skepsis gegenüber Normalleuten, die dem angeblich Normalen allzu normal Normalität attestieren. Gegenüber Leuten, die sich als normal inszenieren, denn das Normale ist selten normal im Sinne von natürlich, sondern meistens inszeniert, arrangiert, konstruiert. Die englische Historikerin Chaney dekliniert materialreich zwei gegensätzliche Haltungen gegenüber dem Normalen durch. Hier den guten alten Widerwillen gegen die Diktatur der Angepassten, von der Blumfeld sangen, dort die böse neue Affirmation des Normalen auf Kosten der Anderen, die Normen nicht entsprechen können oder wollen.
Chaney wird nicht müde nachzuweisen, dass das Normale keineswegs das Durchschnittliche ist, nicht bei Körpermaßen, Geschlecht und Hautfarbe, Class und Race. Die Autorin gräbt sich durch (populär-)wissenschaftliche Arbeiten derer, die über Jahrhunderte das Normale definiert haben: Ärzte, Psychiater, Soziologen… „Natürlich (noch so ein n-Verwandter) waren weiße Männer die Norm, mit der Angehörige anderer Ethnien verglichen wurden. In der spätviktorianischen Zeit wurde der weiße Mittelschichtsakademiker zum neuen Durchschnittsmenschen. Er – denn der normale Standard blieb auch weiterhin männlich – war Arzt, Wissenschaftler, Schriftsteller, Bankier, Kaufmann, Anwalt oder Geschäftsmann. Statistisch betrachtet war er nicht unbedingt der am weitesten verbreitete Typus, dennoch galt er als das gesunde Ideal, an dem alle anderen gemessen wurden.“
Beim gesunden Ideal lauern gesunder Menschenverstand wie gesundes Volksempfinden, rund ums N-Wort gesellt sich eine inzestuöse Großfamilie aus Synonymen. „Endlich kann man wieder aus der Perspektive des gesunden Menschenverstands sprechen.“ So kommentiert Thomas Biebricher neurechte Aus-dem-Bauch-Politik in seinem Buch „Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus“. Danach reagiere dieser erst, wenn er getriggert wird, „wenn andere die Verhältnisse revolutionieren. Konservative halten dagegen im Namen des ‚Natürlichen’ oder ,Normalen’.“
Mit der Popkultur blüht nach dem Zweiten Weltkrieg der Nonkonformismus, Anderssein ist cool. „I’m not like everybody else“ singen die Kinks 1966, das identitätspolitische Credo einer Band, die die Normabweichung schon im Namen trägt. Kink heißt Macke, Schrulle, Tick, das Adjektiv kinky ver-rückt das Abnormale ins Sexuelle: Pervers. Aber Chaney mobilisiert auch Allergien gegen neue Adepten des Normalen. Mit „I’m the normal one“ holte sich Jürgen Klopp erste Sympathien als Trainer in Liverpool, Fußball und die Konstruktion des Normalen, das wäre ein eigenes Buch.
Ein ganz normaler Nachmittag im Frühling. Spülmaschine ausräumen. hr-Info berichtet über den Messerangriff auf ein Fitness-Studio in Duisburg. Gesucht wird ein Mann mit südländischem Aussehen, langem schwarzem Bart. Hm, racial profiling im Öffenlich-Rechtlichen? Quatsch, normaler Polizeibericht. Aus Messer, südländisch, Vollbart und Duisburg (Marxloh! Ghetto! Schimanski!) puzzelt sich mein Hirn den ganz normalen Islamisten zusammen. Bevor ich darüber nachdenken kann, folgt ein Report über den angedrohten Bahnstreik, bei dem der Verkehr „lahmgelegt“ werden soll. Wollte nicht auch die „Letzte Generation“ ganz Berlin „lahmlegen“?
Ist das noch normal? Bevor ich darüber nachdenken kann, erzählt der Moderator aufgekratzt von diesem Internet. Ein unendlicher Raum, in dem man sich tagelang verlieren kann! Der aber auch Gefahren birgt! Ein falscher Klick und schon bist du dein Geld los! Vor solchen Gefahren warnt ein Kongress zu Cybersicherheit in… Spülmaschine ausgeräumt, Radio aus. Zehn Minuten normaler Nachmittag.
„Bin ich normal?“ fragt Sarah Chaney: „Warum wir alle von dieser Frage besessen sind und wie sie Menschen abwertet und ausgrenzt.“ Wenn Leute „Wir“ sagen, ohne ihr eigenes Verhältnis zu diesem „Wir“ zu erläutern, ist Vorsicht geboten. Oft sprechen sie im Namen eines eingemeindenden, homogenisierenden „Wir“, das Personen(gruppen), die nicht zum „Wir“ gehören, ausgrenzt. Beispiel? „Wir sind das Volk!“ Eine historische Parole, die heute nicht mehr zu haben ist ohne den (mitgedachten) Nachsatz „Und ihr nicht!“ Wenn deutsche Normalos ihre völkische Identität rausposaunen, um gegen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren oder Busse mit Geflüchteten aus Syrien (Vollbärte) zu begrüßen, dann praktizieren sie identitätspolitisches „Othering“, das Markieren des Anderen, das sich jenseits des Normalen befindet.
Das Buch:
Sarah Chaney: Bin ich normal? Aus dem Englischen von Nathalie Lemmens. Goldmann, München 2023. 352 S., 18 Euro.
Die neuen Normalisten propagieren die Normalität des Stillstands. Am Status Quo darf sich nichts ändern, nicht durch den Zuzug Fremder, nicht durch neue Geschlechter, neue Speisen und Getränke, Pronomen und Wörter. Vor allem nicht durch Verbote und Vorschriften, die uns daran hindern, so normal zu leben, wie wir es immer getan haben. „Deutschland – aber normal“, mit diesem Slogan kämpft die AfD gegen die drohende De-Normalisierung unseres Lebens, die Zersetzung unseres Volks(körpers) durch importierte ideologische Konstrukte wie Political Correctness, Cancel Culture, Wokeness.
Aggressiver Normalismus gehört zur Grundausstattung des neurechten Populismus in diesen Kulturkämpfen. Neurechts? Zur anti-woken Gemeinde gehören eben nicht nur ausgewiesene rechte Politikerinnen und Politiker von Söder bis Weidel, sondern öffentliche Figuren, die die Zuschreibung rechts von sich weisen, im Einklang mit ihrem Auditorium.
Der Kolumnist Harald Martenstein unterhält im „Zeit“-Magazin sein akademisches Publikum mit bizarren Anekdoten aus der seltsamen Welt der Woke Warriors. Der Comedian Dieter Nuhr belustigt seine Fans, die so normal performen, dass sie die Bezeichnung Normalo als Kompliment tragen, mit den ewig gleichen Satiraden von der grassierenden Cancel Culture. Dass die Normal-Nuhr-Gucker(innen) darüber lachen, ohne sich zu fragen, warum Nuhr immer mehr Sendezeit bekommt, statt gecancelt zu werden? Ein medialer Treppenwitz. Neulich gab’s sogar „Nuhr im Zweiten“, eine Nuhr-Bashing-Parodie aus dem Hause Böhmermann, die mit ihrer Preaching To the Converted-Selbst- und Siegesgewissheit die Frage aufwarf: Wäre nicht das gute alte „gar nicht erst ignorieren“ der adäquate Umgang mit solchen Leuten? (Ja, auch dieses Textchen stellt sie ins Licht).
Oder Boris Palmer. Der Innerpartei-Dissident der Grünen, noch OB von Tübingen, hat sich über die Jahre mit gratismutigen Wortmeldungen wider die angebliche Diktatur der woken Moral als zuverlässiger Krawallgarant in Talkshows qualifiziert. Wenn die Deutsche Bahn mit Fotos wirbt, auf denen mehrere People Of Color den weißen Durchschnitt ruinieren, fragt Palmer mit seinem Näschen fürs gesunde Volksempfinden, welche Gesellschaft dieses Plakat repräsentieren soll. Selbst spricht Palmer nicht von People Of Color, lieber verwendet er das normale N-Wort, das Otto Normalverbraucher und Erika Mustermann aus dem Kinderlied von den „Zehn kleinen N…“ kennen. Mit dem keck-verschmitzten Palmergrinsen steigert er sich schon mal in eine N-Wort-Tourette-Ekstase, wie neulich an der Frankfurter Uni, wo der kalkulierte Skandal ein bisschen aus dem Ruder lief. Daraufhin trat Palmer aus der Grünen Partei aus, zum Bedauern seines (Ex-)Parteifreunds Winfried Kretschmann.
Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg hatte einst im Kommunistischen Bund Westdeutschlands seine erste Lektionen im Volk-aufs-Maul-schauen gelernt, zunächst noch wenig erfolgreich. Als jovialer Landesvater perfektioniert er seinen Nah-bei-de-Leut-Kommunikationsstil, mit Tipps wie dem, doch mal wieder zum Waschlappen zu greifen, um Wasser zu sparen.
Beim Erkennen und Verstehen des Neo-Normalismus hilft das Buch von Sarah Chaney.