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Radikalenerlass von 1972: Wer hütet die Verfassung?

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Von: Arno Widmann

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Kundgebung Radikalenerlass
Auch vier Jahrzehnte nach dem Radikalenerlass gingen Menschen noch auf die Straße wie hier am 10.12.2014 auf dem Schlossplatz in Stuttgart. © Sebastian Kahnert/dpa

Vor 50 Jahren trat unter der ersten SPD-geführten Bundesregierung der Radikalenerlass in Kraft. Die Gegenwehr blieb nicht aus und hatte einen langen Atem.

Am 28. Januar 1972 trat der „Beschluss der Regierungen des Bundes und der Länder zur Überprüfung von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue“ in Kraft. Das bedeutete, dass von nun an alle Beschäftigten einer staatlichen Einrichtung und alle, die sich auf eine solche Stelle bewarben, darauf überprüft wurden, ob ihr Verhalten verfassungskonform war.

Es gab Organisationen – allen voran die gerade erst zugelassene Deutsche Kommunistische Partei (DKP) –, bei denen Mitglied zu sein einen nun nahezu automatisch aus dem Staatsdienst beförderte. Aber in anderen Fällen genügten auch Unterschriften unter Flugblätter oder die Teilnahme an Demonstrationen. Diesem Beschluss gelang es, die in zig Fraktionen gespaltene Neue Linke wenigstens in dieser Frage zu einen.

Von 1972 bis zur „ab 1985 erfolgten endgültigen Abschaffung der Regelanfrage, zuletzt 1991 in Bayern“, schreibt Wikipedia, wurden bundesweit insgesamt 3,5 Millionen Menschen überprüft. 1250 daraufhin überwiegend als „linksextrem“ eingestufte (Hochschul-)Lehrer und (Hochschul-)Lehrerinnen wurden demnach nicht eingestellt, etwa 260 Personen wurden entlassen.

Mit dem Abstand von 50 Jahren könnte man sagen: Angesichts dieser Zahlen ging es dabei offensichtlich weniger um die Radikalen – in überwältigender Mehrheit Linksradikale – im Öffentlichen Dienst als vielmehr um eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den Verfassungsschutz, dessen Apparat gehörig aufgeblasen werden musste, um den Anforderungen der „Regelanfrage“ nachkommen zu können.

Der Radikalenerlass war auch eine Demonstration

1966 soll der wichtigste Sprecher der radikalen Studentenbewegung, Rudi Dutschke, das erste Mal zum „langen Marsch durch die Institutionen“ aufgerufen haben. Es wurde zu einer der bekanntesten Parolen der 68er. Und zu einer der angenehmsten dazu. Niemand war dazu verdammt, Berufsrevolutionär zu werden. Man konnte einen ganz normalen Beruf ausüben und gleichzeitig – auf die eine oder die andere Weise – am Klassenkampf teilnehmen.

Die 68er hatten begriffen, dass sie auch als Revolutionäre darauf angewiesen waren, in der Gesellschaft zu funktionieren. Die meisten gingen davon aus, dass der Umsturz der bestehenden Verhältnisse nicht auf der Tagesordnung stand, sondern eine Aufgabe war, die sehr langfristig angegangen werden musste. Ein Generationenprojekt. Den Lehrerberuf zu ergreifen, erschien angesichts dieser Sachlage die geschickteste Methode, an der Veränderung des politischen Bewusstseins der bundesrepublikanischen Bevölkerung zu arbeiten. Einigen war das zu bürgerlich. Sie gingen in die Fabriken, andere gingen in den bewaffneten Untergrund.

Allein die marxistisch-leninistischen Gruppen sollen damals – wenn man dem Verfassungsschutz glaubt – 60 000 Mitglieder und „Mitläufer“ gehabt haben. Man wird von mindestens zwei- bis dreihunderttausend Menschen ausgehen können, die sich einsetzten für eine linke Utopie.

1969 war Willy Brandt Bundeskanzler. Seit 1966 war er Außenminister unter dem CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger, einst Mitglied der NSDAP, gewesen. Bei den Bundestagswahlen 1961 hatte Brandt gegen Adenauer verloren, bei den Wahlen 1965 gegen Ludwig Erhard. 1969 gewann das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die SPD Bundestagswahlen. Der Radikalenerlass war auch eine Demonstration. Die SPD zeigte, dass sie bereit war, die Bundesrepublik auch vor Angriffen von links zu schützen.

Der Radikalenerlass war allerdings nur der Anfang. Die SPD warf Mitglieder aus der Partei, die die in den Thinktanks der SED ausgearbeitete Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus vertraten. Die darin verbreitete Auffassung, der Staat sei weitgehend ein Anhängsel des Kapitals, widerspreche nicht nur der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, sondern diffamiere auch die demokratischen Institutionen. Eine solche Sicht der Dinge sei mit einer Mitgliedschaft in der SPD nicht vereinbar. Ein paar Jahre später zeigte die Flick-Affäre, in welchem Umfang der Konzern die Parteien finanzierte. „Pflege der politischen Landschaft“ nannte er das.

Demonstration gegen den Radikalenerlass in Stuttgart 1975, organisiert vom „Aktionskreis gegen die Berufsverbote“.
Demonstration gegen den Radikalenerlass in Stuttgart 1975, organisiert vom „Aktionskreis gegen die Berufsverbote“. © dpa

Radikalenerlass: Es entstand ein Klima der Bespitzelung.

Der Radikalenerlass veranlasste Gewerkschaften, Studentengemeinden und Betriebe, Ausschau nach Verfassungsfeinden zu halten. Es entstand ein Klima der Bespitzelung. 1976 veröffentlichte Alfred Andersch in der FAZ ein Gedicht, das in Anspielung an den Artikel 3 des Grundgesetzes „Artikel 3 (3)“ heißt und mit diesen Zeilen endet: „die radikalen sind ausgeschlossen / vom öffentlichen dienst / also eingeschlossen / ins lager / das errichtet wird / für den Gedanken an / die veränderung / öffentlichen dienstes / die gesellschaft / ist wieder geteilt / in wächter / und bewachte / wie gehabt / ein geruch breitet sich aus / der geruch einer maschine / die gas erzeugt“.

Konzentrationslager wurden damals nicht gebaut, und vergast wurde niemand. Aber die Angst davor, dass so etwas wiederkommen könnte, war weit verbreitet. Der Nationalsozialismus war noch nicht als einmaliger Zivilisationsbruch zu den Akten gelegt worden. Von vielen wurde er angesehen als der Moment, in dem der Kapitalismus sein wahres Gesicht gezeigt hatte.

Die 68er lebten in dem Bewusstsein einer Kontinuität. An den Gerichten, die jetzt über die Verfassungsfeindlichkeit linker Demonstranten und Demonstrantinnen zu urteilen hatten, saßen immerhin Menschen, die hier bereits in den Nazijahren Urteile gefällt hatten. Das sollten die Hüter der Verfassung sein? Waren das nicht doch eher die, die sich an den Demonstrationen beteiligten?

Die Notstandsgesetze wurden aus den Schubladen genommen und realisiert. Die radikale Linke fühlte sich nicht nur verfolgt. Sie wurde es. Allerdings war das Gefühl doch deutlich größer als die Verfolgung. Der Staat wollte einmal wieder Schrecken verbreiten – der Staat, der behauptete, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen. Das tat er nicht. Allerdings waren nicht alle Zwei- bis Dreihunderttausend, die die Revolte trugen, eingefleischte Demokraten und Demokratinnen. Viele von ihnen liebäugelten mit autoritären – ein milder Ausdruck – Regimen, mit Befreiungsbewegungen, die keine Sekunde daran dachten, irgendjemanden zu befreien.

Der Radikalenerlass hat den langen Marsch durch die Institutionen nicht verhindert

Zur Humanisierung der Bundesrepublik mögen die 68er einen Anstoß gegeben haben. Oft gegen ihren Willen. Einen entscheidenden Schritt dorthin machte erst die Frauenbewegung. Der Erlass half den Radikalen dabei, neue Wege zu suchen. Er hat nicht unwesentlich zur Verbreitung radikaler Gedanken beigetragen.

Peter Schneider legte 1972 sein Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien ab. 1973 lehnte der Berliner Schulsenator es ab, ihn als Referendar einzustellen. Schneider nutzte die Zeit, die ihn eine Unterrichtsvorbereitung gekostet hätte, und schrieb die Erzählung „Lenz“. Das Buch erschien im Rotbuch-Verlag und machte ihn mit einem Schlag zu einem der bekanntesten Autoren der Bundesrepublik. Er wäre wohl in jedem Fall Schriftsteller geworden, aber es hätte vielleicht länger gedauert. Andere eröffneten Antiquariate, gingen in die Werbung oder lernten Immobilienmakler.

Der Radikalenerlass hat den langen Marsch durch die Institutionen nicht verhindert. Er hat dagegen erheblich zur Ausweitung der Kampfzone beigetragen. Die Menschen wurden in diesen Institutionen verändert. Sie veränderten aber auch die Institutionen. Nur höchst selten so, wie sie sich das gewünscht hatten. Heute dürfte das reichste Prozent der Haushalte in Deutschland rund ein Drittel des Gesamtvermögens besitzen. Dagegen demonstriert noch immer niemand. (Arno Widman)

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