Philosophin Susan Neiman zu Netanjahu-Besuch: Höflichkeit ist kein Ersatz für Wahrheit

Ein Zwischenruf zum Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Deutschland.
Nichts unhöflicher, als eine Einladung zurückzuziehen, ganz gleich, ob es um ein Abendessen oder eine Tagung geht. Als Direktorin des Einstein Forums habe ich meinen Mitarbeitern von Anfang an das Prinzip verkündet: hier werden keine Einladungen zurückgezogen, selbst bei unerwarteten Finanzausfällen finden wir einen Weg.
Diese Beispiele sind banal. Hier geht es um Höflichkeitsregeln und den eigenen Ruf, nicht um Diplomatie oder Weltpolitik – schon gar nicht um die deutsche Erinnerungskultur, die vorschreibt, dass die Verbrechen der deutschen Vergangenheit immer vorrangig im Bewusstsein bleiben – allzu oft auf Kosten der Gegenwart.
Beim Staatsbesuch des israelischen Premierministers wird also alles den üblichen Gang gehen, von Gedenkstätte zu Gedenkstätte, obwohl Netanjahu das Grunewald-Denkmal und das Haus der Wannseekonferenz gewiss bereits mehrfach gesehen hat. Dass die Bundesregierung dem Aufruf von über tausend namhaften Israelis folgen und den Premierminister tatsächlich ausladen würde, war zu keinem Zeitpunkt anzunehmen.
Viele der Unterzeichner sind in Deutschland bekannt, aber Schriftsteller mit Preisen zu ehren ist eben viel leichter, als ihre Worte ernst zu nehmen. Sowohl die Israelis, die den Brief formulierten, wie auch die in Deutschland lebenden linksliberalen Juden, die einen vergleichbaren Aufruf veröffentlichten, werden gewusst haben: eine Ausladung wird nicht erfolgen.
Allerdings gab es höflichere Möglichkeiten. Man könnte sich die Formulierungen ausdenken: „Verehrter, lieber Freund, Sie wissen, dass Deutschland immer solidarisch mit Israel bleibt, auch in schwierigen Zeiten. Wir würden aber verstehen, wenn Sie sich entscheiden würden, Ihren geplanten Staatsbesuch zu verschieben. Sie werden derzeit dringend zuhause gebraucht. Unsere Sicherheitskräfte stehen selbstverständlich auf höchster Stufe bereit. Doch es sind Proteste gegen Ihren Besuch angekündigt, die wir als Demokraten natürlich genehmigen müssen. Unsere Befürchtungen, dass dabei unschöne Bilder entstehen könnten, sind nicht ganz unbegründet, denn viele der Transparente werden auf Hebräisch sein. Sie wissen ja, dass viele Israelis in Berlin leben. Und da die Sicherheit Ihres Staates bekanntlich zu unserer Staatsräson gehört, wäre es auch für Deutschland ein wenig peinlich, wenn große Demonstrationen gegen den israelischen Premier in den Medien laufen, selbst wenn sie friedlich bleiben. Uns sind auch die Reiseschwierigkeiten bekannt, die erst vergangene Woche bei Ihrem Staatsbesuch in Italien entstanden. Kurzum: wir würden gut verstehen, falls Sie Ihren Besuch kurzfristig absagen wollten. Wir werden bald andere Mittel und Wege finden, die deutsch-israelische Freundschaft zu stärken.“
Nun bin ich keine Diplomatin. Eine weiche Ausladung wäre bestimmt anders formuliert gewesen. Mit höflichen Formulierungen hat man hierzulande Erfahrung genug. Wäre ich nur auf deutsche Medien angewiesen, hätte ich keine Ahnung, was derzeit in Israel läuft, so überaus höflich wird hier alles formuliert. Deutsche Medien berichten zwar von „regelmäßigen Großdemonstrationen“. Was nicht berichtet wird: dass tausende Demonstranten die Wege zum Flughafen blockierten, als Netanyahu letzte Woche nach Italien zum Staatsbesuch bei Giorgia Meloni fliegen wollte.
Netanjahu musste per Helikopter zum Flughafen gebracht werden. Allerdings wurde er mit einem Polizeihelikopter geflogen, statt wie üblich mit einem der Luftwaffe. Traute er der Luftwaffe nicht, da viele ihrer Piloten verkündet haben, gar nicht zu fliegen, falls das geplante Justizgesetz verabschiedet wird? Schon davor haben sich die Piloten von El Al, der nationalen Fluggesellschaft, geweigert, ihren eigenen Premierminister zu fliegen; die Manager der Gesellschaft mussten selbst die Kontrolle übernehmen. Sieht das wie eine normale Demonstration aus, egal welcher Größe?
Zur Person
Susan Neiman , geb. 1955 in Atlanta, ist Direktorin des Einstein Forums. Bevor sie 2000 die Leitung des Einstein Forums übernahm, war sie Professorin für Philosophie an der Yale Universität und der Tel Aviv Universität. Die Philosophin besitzt die US-amerikanische und israelische Staatsbürgerschaft.
Aus ihrer Feder stammen unter anderem die Bücher: „Das Böse denken“, „Moralische Klarheit“, „Von den Deutschen lernen“. Foto: Imago Images
Die Proteste, die derzeit in Israel ablaufen, sind historisch einmalig, was die höflichen Formulierungen der deutschen Medien kaum vermitteln. Nach den israelischen Wahlen in November sprachen deutsche Medien von einer „nationalkonservativen Regierung“, auch wenn ein führendes Mitglied der Koalition, jetzt Finanzminister, sich selbst offen „Faschist“ nennt, und ein anderer, jetzt Minister für nationale Sicherheit, von israelischen Gerichten vor Jahren als Terrorist verurteilt wurde. Nun wird in Deutschland von einer „rechts-religiösen Regierung“ gemurmelt, während viele Israelis eine „theokratische Diktatur“ befürchten.
Schon vor zwei Monaten hat Ehud Barak, Israels letzter sozialdemokratischer Premierminister, der neuen Regierung „Zeichen des Faschismus“ vorgeworfen. Deutsche Journalisten erzählen ihren Lesern, dass die Großdemonstrationen gegen eine „Justizreform“ protestieren, benutzen dabei keine Anführungszeichen, obwohl es das mindeste wäre. Dem unwissenden Leser wird erklärt, dass die sogenannte Reform „das Ziel verfolgt, die demokratische Gewaltenteilung in Israel abzuschaffen.“ – Hier spätestens wäre ich eingeschlafen, wenn ich nicht israelische Staatsbürgerin wäre, die die Nachrichten aus Israel gebannt verfolgt. Glücklicherweise habe ich andere Quellen: Israelis reden von einem „juristischen Staatsstreich“ bzw. von einer Revolution.
Vor zwei Wochen haben vierhundert Siedler das palästinensische Dorf Hawara in Brand gesetzt: mehr als hundert Einwohner wurden verletzt, ein Mann getötet, der gerade aus der Türkei zurückgekehrt war, wo er Opfern des Erdbebens geholfen hatte. Bilder der Siedler, die vor den brennenden Gebäuden nicht versäumten, ihre Abendgebete zu vollziehen, gingen um (Teile) der Welt. Deutsche Zeitschriften sprachen – allerdings sehr knapp – von „Ausschreitungen“. Israelis, die noch wissen, warum ihre Großeltern und Urgroßeltern aus Russland und Ukraine flüchteten, haben die Ereignisse beim Namen genannt. Selbst nach der Aussage von Major Yehuda Fuchs, oberster Kommandant der besetzten Gebiete, war Hawara ein Pogrom. Es war zugleich ein Wendepunkt in der jetzigen Krise. Denn auch konservative Israelis haben angefangen, nicht nur gegen die Angriffe auf die Demokratie, die ihr eigenes Leben tangieren, zu protestieren. Die Demonstranten erkennen endlich, dass es keine Demokratie in Israel geben kann, solange die Besatzung besteht.
Dank israelischen und amerikanischen Medien weiß ich, was normale deutsche Leser nicht unbedingt wissen müssen: da Israel kein Verfassung hat, ist das Oberste Gericht dort die letzte Bastion der Demokratie. Mit Netanyahus geplantem neuen Gesetz braucht es nur eine einfache Mehrheit im Parlament, um Entscheidungen des Obersten Gerichts zunichte zu machen. Und da ich Jüdin bin, habe ich keine Angst, laut zu sagen, was Millionen von Israelis wissen: die sogenannte Reform, wie die neue Regierung überhaupt, wird von Netanjahu nur deshalb angestrebt, um die Gefängnisstrafe zu verhindern, die ihm wegen seines laufenden Korruptionsprozesses droht.
Ich verstehe Ihre Ängste: Sie wollen keine antisemitischen Ressentiments schüren, indem Sie darauf hinweisen, dass nicht nur Netanjahu, sondern vier weitere seiner Minister unter Korruptionsverdacht bzw. Verurteilungen stehen. Haben Sie sich überlegt, dass diese Befürchtung selbst einen Hauch von Antisemitismus in sich trägt? Kann man denn nicht einen, auch mehrere Korruptionsfälle als solche benennen, ohne gleich mitzumeinen, dass alle Juden korrupt sind? Kann man nicht umgekehrt problemlos Korruption in Deutschland beschreiben, ohne das ganze Land in Sippenhaft zu nehmen?
Höflichkeit wird oft unterschätzt, aber im besten Fall ist sie nicht Heuchelei, sondern basiert auf dem Respekt, den wir prinzipiell jedem Menschen entgegenbringen sollen, ob wir ihn kennen oder nicht. Wenn wir aber wissen, dass das Gegenüber immer wieder respektlos handelt, sowohl den Menschen gegenüber, die seit 54 Jahren unter einer immer gewalttätigeren Besatzung leben müssen, wie auch inzwischen sein eigenes Volk, wird es Zeit, sehr viel klarer zu reden und zu handeln.
Höflichkeit ist eine Tugend – doch ist sie kein Ersatz für die Wahrheit.