Philosophin Susan Neiman: „Das Pogrom in Hawara ist ein Wendepunkt“

Die jüdische Philosophin Susan Neiman über die fehlende moralische Klarheit der Deutschen im Umgang mit Israels Palästina-Politik.
Professor Neiman, Sie sind durch das Buch „Das Böse denken“ in Deutschland bekannt geworden. Wie steht es um das Böse angesichts des Erdbebens in der Türkei und Syrien, das ja an das Erdbeben von Lissabon 1755 erinnert, und Putins Einfall in der Ukraine? Hilft uns die Kategorie des Bösen heute noch weiter?
Ja, aber nicht in Bezug auf Erdbeben. Das Lissaboner Erdbeben war eine Zäsur in der Ideengeschichte. Man versteht Erdbeben, Tsunamis oder Krankheiten heute nicht mehr als etwas Böses, sondern einfach nur als Naturereignisse, die man bekämpfen oder verhindern kann, aber nicht mehr als Zeichen von irgendetwas. Nach dem Lissabonner Erdbeben, bis auf einige Fundamentalisten aller Religionsrichtungen, galt der Diskurs allein der Frage, was Menschen anderen Menschen antun. Heute rät man eher, in Erdbebengebieten nicht mangelhaft zu bauen. Das jetzige Erdbeben in der Türkei und Syrien wird mehr Leben kosten als das in Lissabon, aber es wird nicht ähnlich wie damals bewertet, wir haben heute andere Probleme. Interessanterweise wird mit der Klimakatastrophe die Trennung von menschlicher und natürlicher Gegebenheit aufgehoben.
Früher machte man den Gott verantwortlich, heute ist es der Mensch.
Die Menschen, die durch die Aufklärung geprägt wurden, machten schon damals Gott für das Lissaboner Erdbeben nicht verantwortlich. Die Religiösen und Orthodoxen haben im damaligen Diskurs verloren, die Säkularen gewonnen. Denn es wurde vorrangig über die physischen Ursachen des Bebens öffentlich diskutiert und nicht über Gottes Rolle; der portugiesische Jesuit, der das Erdbeben als Zeichen von Gottes Zorn deutete, wurden in einem Autodafé verbrannt. Das hatte fortan keine Bedeutung mehr in der Philosophie und wenig im öffentlichen Leben. Allerdings kommt die Tendenz, Naturkatastrophen als Zeichen zu deuten, immer wieder auf. So war das beim Tsunami von 2004 in Asien, Fundamentalisten aller religiöser Spielarten meinten, es sei die Schuld unbekleideter Menschen an den Stränden, das behaupteten zumindest die Islamisten, oder die Buddhisten meinten, zu viele Menschen hätten Fleisch gegessen – es war ja einen Tag nach Weihnachten. Die Christen hielten sich auch nicht zurück und erklärten, dass der Hurrikan Katrina New Orleans getroffen habe, weil dort so gesündigt worden sei. Das Muster kehrt immer wieder: Menschen wollen irgendeine Erklärung haben, und sind nicht bereit, die Kontingenz der Ereignisse zu akzeptieren.
Sie haben das Buch „Moralische Klarheit“ nach dem durch George W. Bush geführten Irak-Krieg 2003 geschrieben. Viele sind heute uneins, was die Reaktion auf Putins Krieg in der Ukraine angeht. Wir wünschen moralische Klarheit, aber sie fehlt uns. Warum?
Weil wir Klarheit mit Einfachheit verwechseln. Und wir hoffen, Regeln zu haben, die uns alles erklären: das ist böse, das ist schlecht. Ich werde immer wieder gefragt, warum ich keine Regeln angeben kann. Ich kann hier nur Kant zitieren. Kant hat in der „Kritik der reinen Vernunft“ die Urteilskraft thematisiert. Sie ist dafür zuständig, allgemeine Regeln auf Einzelfälle anzuwenden, das kann man lernen, aber nicht lehren, wie er sagt. Wer es nicht hat, der wird als dumm bezeichnet. Wenn man lernt, bestimmte Ereignisse zu analysieren, kann man Klarheit finden, aber nicht automatisch, es ist harte Arbeit.
Dann kommen wir vom Allgemeinen zum Konkreten: Wie war es mit dem Irak-Krieg 2003?
Im Fall von George W. Bush war es sonnenklar, als er nicht eine, sondern mehrere Ausreden auf den Tisch legte. Es war eindeutig, dass es keine Beweise für Massenvernichtungswaffen des Irak gibt. Es ging um Geld, Macht, Herrschaft im Nahen Osten. Übrigens bin ich nicht weniger böse auf George W. Bush, nur weil Donald Trump, der unerträglich war, später Präsident wurde. Vielen erscheint Bush im Vergleich als jemand, der sich einfach nur geirrt hat. Er hat sich aber nicht geirrt, der Krieg wurde mit vollem Wissen über die fehlenden Gründe geführt. Die Frage ist, wie der Nahe Osten heute ohne die Folgen dieser US-Invasion aussehen würde, wir können sie überall in dieser Region sehen.
Die Gründungsväter der amerikanischen Verfassung schrieben, dass man aufgrund der Verfassungskonstruktion niemals einen populistischen Präsidenten haben könne. Wie man sich doch irren kann…
Populist ist ein leeres Wort. Ich weiß nicht, was es heißt. Trump wird in den USA als Rechtspopulist bezeichnet, während man Bernie Sanders Linkspopulist nennt. Deshalb benutze ich das Wort gar nicht. Trump ist ein Faschist, ein gescheiterter Faschist allerdings. Es war völlig klar, dass er in jeder Hinsicht ein Faschist ist, dafür muss man nicht erst zum Massenmörder werden.
Es ist sonnenklar, was Bush gemacht hat, ist es auch sonnenklar, was Putin gemacht hat?
Leider, ja. Wenn Henry Kissinger sagt, dass die Nato-Osterweiterung ein Fehler war, muss man denken, Mensch, wenn der das schon sagt! Es war in den 1990er Jahren ein Fehler, ja. Es ist aber keine Rechtfertigung für diesen Angriffskrieg, der ohne jede Provokation erfolgte. Putin hat seine Chance gesehen, gegen den Westen, den er als gescheitert ansieht, nach dem desaströsen Abzug aus Afghanistan vorzugehen. So traurig es ist und so sehr ich es wünsche, dass der Westen anders gehandelt hätte mit der Nato-Osterweiterung, liegen die Menschen falsch, die sagen, man solle keine Waffen an die Ukraine liefern. Das ist ungefähr so falsch wie die damalige Haltung, keine Waffen an die Republikaner während dem Spanischen Bürgerkrieg zu liefern. Putin ist klar für diesen Krieg verantwortlich, und man muss die Ukraine militärisch unterstützen.
Es gibt immer mehr autoritäre Systeme auf der Welt. Liegt das an der Verwechslung von Klarheit und Einfachheit?
Auf jeden Fall! Es fehlt an Klarheit, die Autoritären bieten Einfachheit. Was viele vergessen: Wir haben moralische Bedürfnisse, wir sind nicht nur interessengeleitet. Wir wollen nach einem moralischen Kompass agieren. Natürlich können wir korrupt sein und Eigeninteressen über alles andere stellen, aber wir haben auch Scham und handeln eben auch nicht aus Eigeninteressen, sondern nach moralischen Normen. Das Schrecklichste an Trump war, dass der mächtigste Mann der Welt überhaupt keinen Begriff von Moral oder Normen hat. Doch die meisten von uns wollen moralische Klarheit. Viele fortschrittliche Demokraten sind unsicher darüber, ob wir überhaupt nach Werten handeln, wie auch über die Frage, wie Moral begründet wird. Doch wenn wir unsere Werte nicht verteidigen, werden die Autoritären kommen. Man kann tatsächlich vieles mit moralischer Klarheit entscheiden, mehr als uns vielleicht bewusst ist. Wenn Menschen sagen, es gibt keine Werte, es gibt zwischen den Kulturen nur Unterschiede, dann kann ich nur auf die Studien verweisen, die zeigen, wie viele Gemeinsamkeiten wir mit anderen Kulturen haben. Es ist eine wichtige Waffe gegen die Autoritären.
Auch Israel ist betroffen von dem autoritären Wandel, wie Polen oder Ungarn. Ist Israel also auch nur ein normaler Staat, der sich diesem Wandel ausgesetzt sieht?
Ich bin Jüdin und israelische Staatsbürgerin. Ich bekomme gerade Nachrichten von israelischen Freunden, die versuchen, nach Hawara zu kommen, um Solidarität mit den dortigen Palästinensern zu zeigen, wo letzte Woche ein Pogrom stattfand. Wir reden nicht über Orbán oder Polen. Teile der israelischen Regierung sind Faschisten, und sie bezeichnen sich auch als solche. Das wird in den deutschen Medien viel zu wenig und selten dargestellt. Die einzigen, die Mut haben, das in der deutschen Presse zu schreiben, sind Israelis. Vergleiche mit Orbán bringen nichts.
Sondern?
Sie sind in Israel eher vergleichbar mit dem Ku-Klux-Klan. Es ist nicht Netanjahu, sondern es sind Ben-Gvier und Smotrich, die das Sagen haben in Netanjahus Regierung. Sie haben ein Pogrom angestiftet. Wenn Ben-Gvier für nationale Sicherheit verantwortlich ist und sich in jungen Jahren als Terrorist aufgeführt hat, so dass er nicht einmal in der Armee dienen durfte, in der jeder und jede dient, ist das einzigartig. Er hat sich damals für ein Attentat auf Jitzak Rabin ausgesprochen, nun plädiert er dafür, dass der Rabin-Attentäter aus dem Gefängnis kommen soll. Das sind die Menschen, die die jetzige israelische Regierung anführen.
Es gibt viele Proteste wegen der sogenannten Justizreform.
Man redet immer von Justizreform, das ist aber keine Reform, es ist eine Aushöhlung der Demokratie! Reform ist wirklich ein Euphemismus. Worüber man bis vor einigen Tagen wenig redete, ist die Besetzung Palästinas. Während der Regierung unter Bennett und Lapid sind mehr Palästinenser und Palästinenserinnen in den Palästinenser-Gebieten ermordet worden als in den Jahren davor. Jetzt wird aber sichtbar, was die Welt nicht sehen wollte. Aufrechte Israelis, die versucht haben, in das Dorf Hawara zu gelangen, sind von israelischen Militärs zusammengeschlagen und zu Boden geworfen worden. Die Bilder wurden tausendfach auf Twitter und anderen sozialen Medien geteilt. Einer meiner Freunde war der Präsident des Parlaments, ein Ur-Israeli, der sagt: Ich habe mich nicht geändert, das Land hat sich geändert. Er meint, dass es die Pflicht jedes Israelis sei, in dieses Dorf zu gehen und den Palästinensern beizustehen. Es gab ja den Aufruf, das Dorf niederzureißen. Das kam von Bezalel Smotrich, dem jetzigen Finanzminister, der sich selber Faschist und einen Homophoben nennt. Es kamen dann rund 500 Israelis, um den Palästinensern zu helfen, sie wurden nicht durchgelassen. Ehrwürdige Israelis wurden einfach geschlagen von speziellen Grenztruppen in vollständiger Ausrüstung. Man hatte wohl Angst, dass die normale israelische Armee so etwas nicht mitmachen würde. Das hat eine neue Qualität, und jetzt wird bei den Demonstrationen in Israel nicht nur über die Aushöhlung der israelischen Demokratie, sondern auch über die Besatzung gesprochen.
Zur Person
Susan Neiman , geb. 1955 in Atlanta, ist Direktorin des Einstein Forums. Bevor sie 2000 die Leitung des Einstein Forums übernahm, war sie Professorin für Philosophie an der Yale Universität und der Tel Aviv Universität.
Aus ihrer Feder stammen u.a. die Bücher: „Das Böse denken“, „Moralische Klarheit“, „Von den Deutschen lernen“.
Sie sprechen die Diskussion in Deutschland über die israelische Besatzung an. Vor einigen Jahren schrieben Sie das Buch: Von Deutschen lernen ...
Ich habe seitdem acht Aufsätze auf Deutsch geschrieben, alle auf meiner Website vorhanden, denn Deutschland hat sich verändert, seitdem das Buch veröffentlicht wurde. Das beschäftigt mich natürlich sehr. Das Theaterstück „Vögel“ wurde in München im November 2022 gecancelt, weil es angeblich antisemitisch sei. Als ich gesehen habe, dass die ehrwürdige Historikerin Natalie Zemon Davies, selber eine linke Jüdin, mit an dem Stück gearbeitet hat, war für mich schon ausgeschlossen, dass es antisemitisch sei, es ist eher die Wiederbelebung von „Nathan der Weise“. Nur weil zwei jüdische Studentinnen sich beschwerten, es sei antisemitisch, wurde es gecancelt. Drei Jahre früher spielte das Stück auf 14 deutschen Bühnen, mit hervorragenden Kritiken. Das Beispiel zeigt, wie viel sich in den letzten Jahren geändert hat.
Wie kommt es dazu?
Als Reaktion auf den Einzug der AfD 2017 in den Bundestag waren gute Deutsche erschrocken und haben überlegt, was zu tun sein. Als erstes haben sie das Büro des Antisemitismus-Beauftragten eingerichtet, sowohl auf Bundes- wie auf Länderebene. Berlin hat fünf davon. Keiner der Antisemitismus-Beauftragten ist Jude, bis auf einen, der kürzlich konvertiert ist. Das heißt, da ist sehr wenig Kenntnis vorhanden. An wen wenden sich die Antisemitismus-Beauftragten also, wenn sie etwas wissen wollen? An die Botschaft Israels und den Zentralrat der Juden in Deutschland, eine der konservativsten jüdischen Organisationen der Welt. Das ist das eine Grundproblem.
Und das zweite?
Die AfD war klüger als die anderen Parteien, sie hat eine Lektion von Steve Bannon gelernt. Sie nehmen Trump als Beispiel, man kann so rassistisch sein, wie man will, aber solange man schwört, dass man Israel liebt, und die Politik der israelischen Regierung unterstützt, kann man doch kein Nazi sein. Es war die AfD, die diese unselige BDS-Resolution in den Bundestag gebracht hat, zu einem Zeitpunkt, an dem niemand wusste, was BDS überhaupt ist. Es gab also keine Gefahr für Deutschland. Es war aus ihrer Sicht extrem klug von der AfD, denn keine andere Partei wollte nun weniger philosemitisch sein als die AfD. So haben die anderen Parteien eine abgeschwächte Version der AfD-Resolution verabschiedet, so dass niemand, der BDS-nah sei, in öffentlich geförderten Institutionen auftreten darf. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat festgestellt, dass diese Resolution gegen das Grundgesetz verstößt, deshalb wird es nicht als Gesetz, sondern als politische Meinung eingestuft. Dennoch ist die Wirkung immens. BDS-nah ist ein bewusst vager Begriff, das erste Opfer war Peter Schäfer, Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Die Resolution wird benutzt, um jene zu diskreditieren, die die Besatzung Palästinas kritisieren, es sind Juden, Israelis, am schlimmsten trifft es Muslime. Ich bin der Meinung, das Ganze war ein Fehler, man spielte die Leier der AfD. Es gibt Polizeistatistiken, die zeigen, dass der antisemitische Hass und Hetze zu 93 Prozent von weißen deutschen Rechtsextremen kommt. Man versucht aber, es der Linken unterzujubeln. Es gab vor kurzem einen rechten Putschversuch in Deutschland, das wurde alles als Witz abgetan.
Nicht in der FR. Als Antisemit bezeichnet zu werden, zerstört einen in der Öffentlichkeit. Was machen die Deutschen falsch im Umgang damit? Sind sie zu vorsichtig? Und wo ist die Klarheit zu sagen, das ist ein Antisemit, der aber nicht?
Sie wollen wiederum Regeln haben, eine Definition von Antisemitismus. Ich habe die „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ unterschrieben, aber sie wurde hier in Deutschland kaum diskutiert, sondern als Witz oder antisemitisch verschrien. Die gängige Definition der International Holocaust Remembrance Alliance IHRA ist stark fokussiert auf sogenannten israelbezogenen Antisemitismus, was israelische Politik angeht. Das finde ich extrem problematisch. Natürlich gibt es Menschen, deren Kritik an der israelischen Regierung in Antisemitismus übergeht. Das würde ich als Jüdin nie leugnen. Man reagiert so panisch auf den Vorwurf, dass man gar nicht anfängt, über die Definition nachzudenken. Das muss man noch lernen. Es ist unangenehm. Ich bin antisemitisch genannt worden, ich kann darüber lachen. Ich verstehe aber, dass es Deutschen sehr schwerfällt, mit dem Antisemitismus-Vorwurf umzugehen, es ist das Schlimmste, was man einem Deutschen sagen kann.
Ist Israel ein Apartheidsstaat im Umgang mit den Palästinensern oder ein Kolonialregime, wie einige meinen? Beides wird umgekehrt auch wieder als antisemitische Position deklariert.
Es ist gut, dass Sie die Fragen so stellen, denn sie werden zu oft vermischt. Israel ist zumindest in den besetzten Gebieten ein Apartheidsstaat. Apartheid ist ein sehr klarer Begriff: zwei verschiedene Rechtssysteme für zwei verschiedene Völker, das kann kein Mensch bestreiten. Auch wenn es für ganz Israel umstritten ist, diesen Begriff anzuwenden, weil die Palästinenser nicht die gleichen Rechte wie Israelis haben, so trifft er doch in den besetzten Gebieten vollständig zu. Dem muss man ins Auge sehen. Unglücklicher finde ich hingegen die Bezeichnung Siedler-Kolonialismus, denn die Geschichte Israels ist wirklich nicht vergleichbar mit der Geschichte Südafrikas oder Algeriens, die aus völlig anderen Gründen Kolonien gegründet haben. Da mache ich einen Unterschied. Man darf aber auch die Gegenwart nicht verleugnen, indem man nur auf die Geschichte schaut. Das ist es, was schiefgelaufen ist in der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung des Holocausts.
In Israel gehen viele Menschen auf die Straße, die sich gegen die Politik der Regierung wenden, allein in Tel Aviv 160 000, enorm viele für so ein kleines Land. Kritik gibt es, weil diese Menschen nicht für die Palästinenser demonstrieren.
Das war bis vor kurzem für die Mehrheit richtig, doch nach dem Pogrom in Hawara hat sich das geändert. Es hat einen Nerv getroffen, denn die Menschen sind ja schon vor dem Holocaust nach Israel ausgewandert, weil ihre Eltern Pogrome in Osteuropa erlebt haben. Es geht jetzt durch die sozialen Medien, etwa: Meine Großeltern haben ein Pogrom erlebt, das mich an die Menschen in Hawara erinnert. Man sieht jetzt einen Wendepunkt als Folge der ungeheuerlichen Gewalttat und der Reaktion der Regierung darauf, die es nicht wirklich verurteilt hat. Für normale Israelis, die sonst für mehr Demokratie demonstriert haben, war das ein Schritt zu viel. Jetzt sagen immer mehr, was zuvor nur einige wenige gesagt haben: Es kann keine Demokratie mit einer Besatzung eines anderen Volkes geben. Man kann nicht immer von der einzigen Demokratie im Nahen Osten reden, wenn die Hälfte der Bevölkerung höchstens Bürger zweiter Klasse sind. In den besetzten Gebieten kann man noch nicht einmal sagen, dass sie Bürger zweiter Klasse sind. Das sind Menschen, die permanent physisch von den Siedlern bedroht werden.
In Deutschland nimmt man Israel als Demokratie wahr, sieht die Regierungen der Palästinenser, Fatah und Hamas, als schlecht für die Menschen an, die eine ist korrupt, die andere repressiv.
Die jetzige israelische Regierung ist nicht besser, sie ist sowohl korrupt als auch repressiv. Im Kabinett sitzen Minister, die wegen Korruption verurteilt worden sind. Netanjahu ist aus diesem Grunde verklagt worden. Ich schüttele den Kopf, nicht weil ich nicht ihre Beschreibung der Regierungen der Palästinenser bezweifele, sondern weil es auf der anderen Seite nicht besser ist.
Was erwarten Sie von den Deutschen?
Es gibt in der Presse eine Wende. Was vor einigen Monaten noch schwer zu drucken gewesen wäre, steht nun in den Zeitungen und Magazinen. Es gibt zwar die Rede von deutscher Staatsräson gegenüber Israel, wobei niemand weiß, was das konkret heißt. Aber wie meine Freundin Eva Illouz neulich im „Spiegel“ sagte, wenn jemand, der dir wichtig ist, besoffen fahren will, nimmst du ihm den Schlüssel weg. Es ist keine Solidarität, einfach dabeizustehen. Wenn ich mit deutschen Politikern und Politikerinnen spreche, fällt mir auf, dass sie doch viel verstehen, sich aber nicht trauen. Sie denken, dass es nichts bringt, wenn die Deutschen etwas sagen. Das stimmt nicht. Wenn Deutschland etwas sagt, ist das für ganz Europa wichtig. Das stärkt auch die liberalen Menschen in den USA. Europa freut sich immer, alles auf Deutschland zu schieben, weil es wegen des Zweiten Weltkriegs ja genug Schuld trägt. Deutschland hat eine Führungsrolle. Eine klare Stellungnahme Deutschlands würde für Israel etwas ändern, davon sind die Israelis überzeugt.
Interview: Michael Hesse