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Philosophin fordert einen politisch klugen Pazifismus

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Von: Olivia Mitscherlich-Schönherr

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Demonstration gegen den Krieg in Erfurt.
Demonstration gegen den Krieg in Erfurt. © Imago

Zum Manifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer: Deutschland ist längst Kriegspartei und sollte den globalen Süden als Vermittler gewinnen.

Zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine formiert sich hierzulande eine neue Friedensbewegung. Dies ist zu begrüßen. Zu wünschen wäre, dass sie bei der Umsetzung ihres wichtigen Anliegens politisch klug vorgeht: Frieden in der Ukraine ohne Waffen zu schaffen. Ansonsten läuft sie Gefahr missverstanden, missbraucht und schnell beerdigt zu werden.

Politische Klugheit gilt seit Aristoteles als Fähigkeit, das Gute nicht nur zu kennen, sondern es in konkreten Lebenssituationen auch umsetzen zu können. Dafür sind neben Werten auch bestehende Interessen, rechtliche und politische Verpflichtungen, Konsequenzen unterschiedlicher Handlungsoptionen, der rechte Augenblick des Handelns zu berücksichtigen. Ein politisch kluger Pazifismus unterscheidet sich von einem einfachen Gesinnungspazifismus. Er orientiert sich nicht nur an dem Leitwert, das Töten schnellstmöglich zu beenden. Er wägt auch unterschiedliche Wege zu diesem Ziel umsichtig ab, bleibt selbstkritisch, schmiedet Koalitionen und handelt zum richtigen Zeitpunkt.

Von dem Manifest für Frieden aus der Feder von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer hätte sich ein politischer kluger Pazifismus in mehrfacher Hinsicht abzugrenzen. Es reicht nicht, den Tod von über 200 000 Soldaten und 50 000 Zivilistinnen und Zivilisten, Vergewaltigungen und Traumatisierungen anzusprechen. Es muss von Anfang an auch ums Völkerrecht gehen. An erster Stelle ist der russische Bruch des Völkerrechts klar zu benennen. Das eigene Friedensanliegen ist zunächst gegenüber Russland vorzubringen und von Russland zu fordern, die Angriffe auf die Ukraine unverzüglich einzustellen.

Zugleich kommt eine kluge pazifistische Position aber auch nicht umhin, selbstkritisch das Vorgehen unseres eigenen Landes zu überprüfen. Unserem Bundeskanzler wird kaum jemand eine pazifistische Grundgesinnung absprechen können. Auch hat Olaf Scholz im Laufe des letzten Jahres nie leichtfertig in Waffenlieferungen eingewilligt. Aber setzt unsere Bundesregierung das pazifistische Wissen, dass Kriege mit Waffengewalt nicht zu beenden sind, auch geschickt um? Die Entwicklungen des letzten Jahres lassen daran zweifeln. Deutschland ist zusammen mit seinen westlichen Partnern Schritt für Schritt in Reaktion auf die russischen Angriffe in Akte der Gegengewalt hineingezogen worden und damit de facto nun selbst Kriegspartei – auch wenn dies in aller Offenheit nur unsere unglückliche Außenministerin ausgesprochen hat. Verstrickt in Spiralen der Gewalt sind wir verantwortlich für Zerstörung, Tod und Leid. Diese moralischen Verantwortlichkeiten lassen sich nicht wegrechnen: weder durch Hinweise auf Deutschlands juristische Neutralität noch durch Hinweise auf Russlands Völkerrechtsverbrechen oder seine Verantwortung für ein viel größeres Ausmaß an Zerstörung, Tod und Leid.

Hinzu kommt: Das westliche Vorgehen ist gemessen am Ziel, Frieden in der Ukraine zu schaffen, nicht effizient. Wie wir wissen, tut sich kaum etwas am Verlauf der Fronten – außer dass getötet und gestorben wird. Aber noch entscheidender ist: Im Westen können wir auch gar nichts anderes wollen. Wir können nicht wollen, dass Russland mit seinem Angriff erfolgreich ist – und unterstützen die Ukraine mit Waffen. Angesichts der oft unverhohlenen russischen Drohungen mit Nuklearwaffen können wir aber auch keinen Sieg über Russland wollen – und überlassen der Ukraine nie die Mengen an Waffen oder gar Soldaten, die ihr zum Sieg verhelfen könnten. Das aktuelle Vorgehen des Westens verheißt einen Dauerkrieg, der die Ukraine zerstören und entvölkern wird. Die Strategie, den Krieg mit Waffen zu stoppen, scheint auf absehbare Zeit nicht aufzugehen.

Fatales Signal an Russland

Trotz der ethischen, politischen und strategischen Fragwürdigkeit des bisherigen Vorgehens sind die Forderungen des Manifests für Frieden nach einem sofortigen Stopp von Waffenlieferungen übereilt. Zu Recht wird dagegen eingewandt, dass dies Verrat an der Ukraine und ein fatales Signal an Russland und andere Autokratien mit imperialen Machtgelüsten wäre. Um verantwortungsvoll aus dem Krieg auszusteigen, müssen zunächst die Bedingungen dafür geschaffen werden. Wenn die Unterstützer der ukrainischen Regierung dabei aber wieder nur an einen ukrainischen Sieg auf dem Feld denken, dann verbleiben sie freilich in der Logik des Krieges.

Um die Bedingungen für Friedensverhandlungen klug voranzutreiben, ist vom Westen eine weitere selbstkritische Einsicht zu verlangen: Da wir de facto längst Kriegspartei geworden sind, können wir nicht mehr als Vermittler agieren. In dieser Situation täte der globale Norden gut daran, endlich seine Arroganz gegenüber den Ländern des globalen Südens aufzugeben. Wir brauchen ihre Hilfe: als wirkliche Schlichter jenseits der eingespielten Konfliktlinien. Hier hätte der Bundeskanzler etwas zu leisten. Geschickt hat er im vergangenen Jahr immer aufs Neue westliche Koalitionen geschmiedet, um der Ukraine deutsche Waffen im Konzert der westlichen Partner zu liefern. Jetzt sollte er globalen Allianzen den Boden ebnen, um die deutschen Waffenlieferungen zu beenden. Dabei könnte der Bundeskanzler den Ball aufnehmen, den der brasilianische Präsident Lula ihm kürzlich zugespielt hat.

Weitere neutrale Mächte wären dazuzubitten: Indien, Südafrika, Israel. Anzustoßen wäre eine globale Allianz, die gegenüber beiden Seiten Gewicht hat. Auf globaler Ebene ließe sich ein rascher Waffenstillstand vorantreiben. Der Ukraine könnte Sicherheit vor weiteren russischen Angriffen jenseits einer Nato-Mitgliedschaft garantiert werden; und es ließen sich Vorschläge für eine Friedensordnung ausarbeiten. Es könnte etwa darum gehen, die Krim unter UN-Aufsicht zu stellen, um dort auf längere Sicht ein international überwachtes Volksbegehren über ihre Zugehörigkeit zur Ukraine oder zu Russland zu organisieren.

Angesichts des eigenen Engagements im Krieg aufseiten der Ukraine könnte Deutschland in all diesen Prozessen keine herausgehobenen Gestaltungsfunktionen übernehmen. Zu gewinnen hätten wir durch eine Initiative zu einer globalen Allianz dennoch viel: einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt und aus unseren furchtbaren Waffenlieferungen.

Olivia Mitscherlich-Schönherr lehrt an der Hochschule für Philosophie in München Philosophische Anthropologie mit Schwerpunkt auf Grenzfragen des Lebens.

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