1. Startseite
  2. Kultur
  3. Gesellschaft

Philosoph Martin Seel: Die Gemeinten müssen sich als gemeint erfahren können

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Immer sind auch die Sprachsituation und der Kontext wichtig – selbst wenn es sich um Luftballon-Wörter handelt: hier ein LGBTQI-Marsch.
Immer sind auch die Sprachsituation und der Kontext wichtig – selbst wenn es sich um Luftballon-Wörter handelt: hier ein LGBTQI-Marsch. © AFP

Macht und Gegenmacht der Sprache: Der Philosoph Martin Seel zur Frage „Wer darf wie reden?“

Wer hat wen in der Hand, fragt Wilhelm von Humboldt in seiner Abhandlung über „Die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues“ von 1835: die Sprache die Sprechenden oder die Sprechenden die Sprache? Seine Antwort lautet: weder die eine noch die anderen. Humboldt konstatiert eine wechselseitige Abhängigkeit des Sprechens von der Sprache und der Sprache von den Sprechenden. „In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modificirt, offenbart sich, ihrer im Vorigen dargestellten Macht gegenüber, eine Gewalt des Menschen über sie.“ „Macht“ steht hier für die Prägung sprachfähiger Subjekte durch die grammatischen Formen ihrer jeweiligen Sprache, durch das von ihr bereitgestellte Vokabular und die mit ihnen verbundenen „Weltansichten“. „Gewalt“ steht hier für die Möglichkeit, innerhalb der Vorgaben einer gegebenen Sprache im eigenen Denken und Handeln auf die Sprache einzuwirken. Die Macht, die die Sprache über uns hat, und diejenige, die wir ihr gegenüber haben, sagt Humboldt, gehören zusammen. Hier wie überall können Personen ihre Unabhängigkeit nur in Abhängigkeit von unverfügbaren Prägungen gewinnen. Es ist die Bindung an die innere Dynamik der Sprache, der die Möglichkeit persönlicher und politischer Selbstbestimmung entspringt.

In einem Essay über Johann Gottfried Herder hat der kanadische Philosoph Charles Taylor diesen Gedanken auf eine prägnante Formel gebracht: „In relation to language, we are both makers and made.“ In Herders „Fragmenten über die neuere deutsche Literatur“ von 1768 findet dieser ein suggestives Bild des inneren Widerstreits der Sprache. Herder lässt zwei sprachliche Mächte auftreten, die füreinander Gegenmächte sind: die wildwuchernde dichterische und die nach größtmöglicher Eindeutigkeit strebende Sprache der Philosophie. Diese Formen der Rede werden als zwei Extreme behandelt, die in ihrer Entgegensetzung die Spannweite einer entwickelten Sprache vermessen. Herder warnt eindringlich davor, einer von beiden einen theoretischen und praktischen Vorrang zuzusprechen. Was die menschliche Sprache grundsätzlich ausmacht, bewegt sich zwischen diesen Polen; sie ist eine lebendige Sprache nur dann, wenn nicht eines der Extreme die Herrschaft übernimmt.

Im Original klingt das so: „Immer ein Glück für den Dichter, und ein Unglück für den Weltweisen, daß die ersten Erfinder der Sprache nicht Philosophen und die ersten Ausbilder meistens Dichter gewesen sind. Und eben so ein Glück für den Prosaisten, und ein Unglück für den Weltweisen, daß das Reich einer lebendigen Sprache Demokratie ist; das Volk regiert, und duldet keine Tyrannen: der Sprachgebrauch herrscht und ist schwer zu bändigen.“

Herder hätte seine Freude daran gehabt zu sehen, mit welcher Verve dieser Tage in der Öffentlichkeit über den rechten Gebrauch der deutschen Sprache gestritten wird. Die Ursachen dieser Debatte jedoch sind alles andere als erfreulich. Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Homophobie und Xenophobie schlagen sich dieser Tage in Formen der Rede nieder, mit denen entwürdigendes, demütigendes und anderweitig diskriminierendes Verhalten anderen gegenüber bis hin zur verbalen Gewalt geduldet, gefördert oder vollzogen wird. Eine derartige – in seinen Worten – „Tyrannei“ der Sprache und durch Sprache hatte Herder nicht im Auge (was nicht heißt, dass es sie nicht damals schon gab).

Auch bei dem Widerstand gegen diese missachtenden Formen der Rede geht es um Macht und Gegenmacht innerhalb der Sprache. Anders als in der generellen Polarität des sprachlichen Geschehens, wie sie von Humboldt und Herder metaphorisch gekennzeichnet wird, geht es hier buchstäblich um soziale und politische Machtverhältnisse, wie sie sich in sprachlichen Gebrauchsweisen manifestieren. Dies sind zwar keineswegs allein sprachliche Machtverhältnisse, aber doch solche, die durch sprachliche Praktiken sei es erhalten, sei es konterkariert, sei es aufgebrochen werden. Denen, die sich hierbei den entwürdigenden Tendenzen des Zeitgeists entgegenstellen, geht es um Sprachgerechtigkeit in einem anspruchsvollen Sinn – um ein in moralischer und politischer Hinsicht rücksichtsvolles Sprechen. Ihnen geht es um den Erhalt einer „lebendigen Sprache“, die einer demokratischen, die Diversität aller ihrer Mitglieder respektierenden Gesellschaft angemessen ist oder wäre.

Zur Person:

Martin Seel , Jahrgang 1954, ist Philosoph und mittlerweile Professor emeritus. Seit 2007 war er „Principal Investigator“, das heißt Gründungsmitglied des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ („Normative Orders“) der Frankfurter Goethe-Universität. Innerhalb des Exzellenzclusters arbeitete er zu den Schwerpunkten Quellen moralischer Normativität, Rechtfertigungsnarrative: das Beispiel des gegenwärtigen Kinos und Gewalt und Gesetz im Kino.

Den Vortrag , den wir hier mit freundlicher Genehmigung des Autors in einem Auszug dokumentieren, hielt Seel jüngst bei den Römerberggesprächen zum Thema „Sprache. Macht. Gerechtigkeit.. Wer darf wie reden?“

In dieser Lage gibt es aufseiten derer, die diese Einstellung grundsätzlich teilen, zwei entgegengesetzte Reaktionen. Die einen sagen, die Grammatik der Sprache darf nicht angetastet werden; die anderen sagen, die gängigen Arten der Rede dürfen und müssen revidiert werden, auch und gerade, was ihre grammatischen Konstruktionen betrifft. So unterschiedlich diese Reaktionen sind, beide verstehen sich als Bestrebungen, die „Lebendigkeit“ der Sprache zu bewahren. Dennoch sehen sich beide Parteien von der jeweils anderen dem Vorwurf ausgesetzt, die Sprache – im Namen einer falsch verstandenen Korrektheit – auf eine unzulässige Weise „bändigen“ zu wollen.

Im Für und Wider um eine gendergerechte Sprache findet diese Kontroverse ihren deutlichsten Ausdruck. Immer wieder melden sich Linguistinnen und – vor allem – Linguisten zu Wort, die das sprachliche Gendern mit Argumenten ihrer Disziplin als eine Verfälschung der Sprache zu entlarven versuchen. „Grammatik im Fegefeuer“ lautete der Titel einer entsprechenden Einlassung des Münchner Linguisten Olav Hackstein in der FAZ vom 18. Oktober. „In der Grammatik“, so lautet sein Credo, „hat Sprachkritik nichts zu suchen.“ Zur Begründung wird die Neutralität der grammatischen Kategorien Maskulinum, Femininum und Neutrum gegenüber biologischem Geschlecht und kulturellen Geschlechterrollen angeführt. Hieraus soll folgen: „Das System, die Grammatik, besitzt a priori keine Intention zu diskriminieren. Die Sprachverwendung hingegen kann durchaus diskriminieren, zum Beispiel durch sprachliche Ausgrenzung oder diskriminierende Herabsetzung bis zu demagogischer und Hasssprache.“ Die Grammatik sei „nachweislich rein kommunikationsstützend und somit unschuldig“. Es gelte also „zwischen der Grammatik, die bestimmte Wortbildungen vorsieht, und der Sprachverwendung, die herabwürdigend sein kann, zu unterscheiden“.

Die Krux dieser Argumentation liegt in ihrer säuberlichen Trennung von Sprachstruktur und Sprachgebrauch. Wenn aber der Sprachgebrauch nicht unschuldig ist, kann es die Grammatik auch nicht sein. Das funktionale grammatische Inbegriffensein oder „Mitgemeintsein“ des jeweils anderen Geschlechts ist etwas anderes als eine direkte Anrede derer, die gemeint sind. Man sollte meinen, dies sei die neutralere sprachliche Form. Studentinnen und Studenten – und alle dazwischen – als „Studierende“ anzusprechen, sagt Hackstein, sei „logisch falsch“. Unlogisch jedoch ist an dieser Bezeichnung nichts; die setzt lediglich einen anderen Akzent. Außerdem ist der Sinn für angemessenes Sprachverhalten nicht nur ein logischer, sondern zugleich ein performativer. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass diejenigen, die gemeint sind, nicht nur mitgemeint, sondern gemeint werden – und zwar so gemeint werden, dass die Gemeinten sich als gemeint erfahren können.

Diese Perspektive derer, die sprachlich adressiert und klassifiziert werden, rückt die Opposition gegen die der grammatischen Traditionalisten mit Recht in den Vordergrund. Sie plädiert für eine Veränderung der kommunikativen Umgangsformen, um sprachliche Ausgrenzungen möglichst eindeutig zu vermeiden. Damit verbunden ist die Mobilisierung einer Gegenmacht gegen die Vorherrschaft nur zum Schein neutraler Konventionen der Rede – und erst recht gegen ein offen diskriminierendes Sprachverhalten. Zugunsten einer gendergerechten Sprache – um bei diesem Beispiel zu bleiben – werden mehr oder weniger reich instrumentierte mündliche und schriftliche Markierungen eingesetzt, die einen Rückfall in patriarchales und anderweitig diversitätsfeindliches Denken und Handeln bereits im klanglichen und grafischen Bild der Sprache blockieren helfen sollen. Dass es hierbei gelegentlich zu Übertreibungen, sprachlichen Verrenkungen und dogmatischen Vorschriften bis hin zu der Forderung nach einem Umschreiben von Texten der Kinder- und Erwachsenenliteratur kommt, ist bekannt. Solche Rigorismen aber sind nur die Kehrseite des ebenso rigiden Verlangens nach einer Reinhaltung der historisch entstandenen Sprachkultur. Beide Extreme engen den Spielraum der Sprache auf Kosten der Freiheit der Rede ein. Der Respekt vor menschlicher Diversität und derjenige für die Diversität der Arten des Sprachgebrauchs gehören zusammen.

Deswegen plädiere ich für einen sprachpolitischen Okkasionalismus. Darunter verstehe ich eine Haltung, die je nach Kontext unterschiedliche Arten der differenzsensiblen Kommunikation sowohl pflegt als auch toleriert. Dieser Okkasionalismus ist kein Opportunismus, der den gerade vorherrschenden Sprachkonventionen nach dem Mund redet. Im Gegenteil, er ist ein Sprachverhalten, das der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Modus der Kommunikation gerecht zu werden versucht. Eine solche Flexibilität ist allein deshalb geboten, weil sich die Anforderungen angemessenen wie ungezwungenen Redens in jeder gegebenen Sprache anders stellen. Erst recht ist sie darum angebracht, weil die unterschiedlichen Genres der mündlichen und schriftlichen Kommunikation durchaus unterschiedliche Spielarten der einbeziehenden Rede ermöglichen und erlauben. Politische Interventionen, Klatschgespräche, Vorträge, Zeitungsartikel, wissenschaftliche Abhandlungen, Stellenausschreibungen und amtliche Dokumente, Romane und Gedichte müssen nicht über einen sprachlichen Kamm geschert werden – obwohl nicht auszuschließen ist, dass Ernst Jandl, würde er noch unter uns weilen, den Glottisschlag für ein sprachliches Klangspiel zu nutzen wüsste.

Unschuldig ist Sprache nie. Sie ist auch nicht jederzeit so „behaglich“, wie es sich Herder für die Alltagssprache gewünscht hat. In jedem Wort, jedem Satz, jeder Äußerung und jedem Text ist vieles mitgesagt und manches mitgemeint, das nicht gleichzeitig zur allseitigen Klarheit in den Vordergrund gestellt werden kann. Auch deswegen gehört ein innerer Widerstreit zu ihrem Naturell. Den Sprachgebrauch nicht „bändigen“ zu wollen, bedeutet deshalb nicht, ihm überall einen beliebigen Lauf zu lassen. Denn der Sprachgebrauch herrscht weder von allein, noch herrscht er unbesehen. Zusammen mit den Veränderungen der Lebensverhältnisse, die er durchwirkt und von denen er durchwirkt ist, befindet er sich ohnehin, wenn auch oft auf leisen Sohlen, in ständiger Bewegung. Er muss aber manchmal, wie in den gegenwärtigen Debatten, in bestimmten Bereichen neu ausgehandelt werden. Prägungen durch die Sprache durch Arten des Sprechens umzuprägen, ist ein legitimer Teil der Gegenmacht, die Sprecherinnen und Sprecher, allein oder gemeinsam, gegen die Macht der Vorgaben des Sprachsystems ausüben können. So viel Demokratie innerhalb der sprachlichen Praxis kann, darf und sollte sein. Nicht umsonst ist die Art der Pluralität und Diversität der Sprache ein Seismograph dessen, wie es um den Respekt gegenüber Pluralität und Diversität in gegebenen Gesellschaftsformen steht. (Amrtin Seel)

Auch interessant

Kommentare