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Philosoph Ernst Tugendhat: Der Solitär

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Von: Michael Hesse

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Denken und Arbeiten war eins: Der Philosoph Ernst Tugenhat an seiner Schreibmaschine.
Denken und Arbeiten war eins: Der Philosoph Ernst Tugenhat an seiner Schreibmaschine. © dpa

Der Philosoph Ernst Tugendhat ist im Alter von 93 Jahren gestorben.

Die grundlegende Frage der Philosophie fand er in einem Dialog des großen griechischen Denkers Platon. In dessen „Politeia“ stand sie und beschäftigt die Menschen bis heute und wohl auch bis in alle Ewigkeit: „Wie soll ich leben?“ Für Ernst Tugendhat durchzieht die Suche nach einer Antwort auf diese Fundamentalfrage die gesamte Philosophie-Geschichte. Nicht nur die Philosophie von Platon und Sokrates sei von ihr ausgegangen – auch ihre Nachfolger wären durch diese Frage in eine besondere philosophische Unruhe versetzt worden.

Es ist der Sinn des Lebens, nicht der Sinn des Seins, um den es geht, befand er, anders als sein früherer Lehrer, der berühmte Martin Heidegger. Der hatte in „Sein und Zeit“ mit revolutionärem Pathos erklärt: In der Philosophie gehe es zuallererst um den Sinn von Sein.

Tugendhat erzählte dies der FR in einem Interview, das er vor vielen Jahren gab. Damals saß er noch in Tübingen vor seiner Schreibmaschine, die in einer Ecke seines Zimmers auf dem Schreibtisch direkt neben dem Fenster stand. Von dort aus hätte er das Treiben auf dem Holzmarkt beobachten können. Doch Tugendhat war ein hochkonzentrierter Mensch, der sich nicht leicht ablenken ließ. „Denken kann ich nur, wenn ich an meiner Schreibmaschine sitze“, sagte er vor etwas mehr als zehn Jahren. Zu der Zeit war es schon still um den großen Gelehrten geworden. Er klagte über Konzentrationsmängel, die ihn am Schreiben hindern würden und ihn auch bei seinem geliebten Schachspielen bisweilen störten.

Seine letzten Bücher befassten sich mit Religion, mit Mystik, dem Ich – und mit dem Tod. Was ist der Tod? Was bedeutet er für uns? Und was für ihn? Das beschäftigte Tugendhat. Sein Bruder hatte vor vielen Jahren Suizid begangen. Das hatte ihn sehr geprägt. Für sich selbst wollte er das nicht ausschließen. Tugendhat war ein nachdenklicher und tief reflektierter Mensch, der ein bewegtes Leben hinter sich hatte.

Er entstammte einer der reichsten Familien der Tschechoslowakei. Seine Eltern hatten die Villa Tugendhat, ein heutiges Weltkulturerbe, von Mies van der Rohe bauen lassen. Man kann es als Museum besichtigen. 1930 wurde Ernst Tugendhat geboren. Er und seine Familie verbrachten aber nur acht Jahre in dem faszinierenden Bau. Dann musste die jüdische Familie vor den Nationalsozialisten fliehen, die Nazis waren in die Tschechoslowakei eingerückt. Es ging in USA und nach Südamerika. Tugendhat war ein brillanter Schüler und ein herausragender Student. Im Alter von 16 Jahren erhielt er von seiner Mutter ein besonderes Geschenk: Das Buch „Sein und Zeit“ von Heidegger. Tugendhat war sogleich gefesselt von dem Sprachstil und den Gedanken, die der Philosoph darin ausbreitete.

Es schien, als würde eine ganz neue Philosophie mit einer eigenen Sprache alles Alte überflüssig machen. „Danach stand für mich fest, dass ich bei ihm, Heidegger, studieren will“, erzählte Tugendhat. Heidegger redete von einer Fundamental-Ontologie, davon, den Menschen in seinem Sein begreifen zu müssen, bevor man überhaupt einen Schritt weiter machen könne in der Philosophie. Heidegger wirbelte mit Wörtern wie In-der-Welt-sein, Vorhandenheit, Zuhandenheit, Existenzialien, Dasein, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit herum.

Ernst Tugendhat war so begeistert, dass er beschloss, so schnell wie möglich nach Deutschland aufzubrechen, um unter diesem Meisterdenker das Studium aufzunehmen. Das Studium absolvierte Tugendhat dann noch in Stanford, doch 1949 kehrte er nach Deutschland zurück und besuchte Heideggers Seminare, ohne von dessen Verstrickungen in der NS-Zeit zu wissen. Doch auf den wissensdurstigen Schüler wartete eine Enttäuschung: Der Meister war zunächst gar nicht anzutreffen. „Ich hatte nicht viel Kontakt zu ihm, da er wegen seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus nicht arbeiten durfte.“

Die frühe Rückkehr nach Deutschland wegen Heidegger sollte ihn später reuen. „Dass das ein sehr fragwürdiger Schritt war, ist mir erst sehr viel später bewusst geworden“, erinnert sich der jüdische Denker, weil er dies als eine übereilte Versöhnungsgeste empfand.

Dennoch saß der ehrgeizige Student zunächst auch in den Seminaren des inzwischen rehabilitierten Heidegger. Später waren dessen Veranstaltungen sehr überlaufen. „Er gab über drei Semester dann jeweils nur ein Seminar“, erzählte Tugendhat. „Ich habe damals alles sehr genau mitgeschrieben. Er hat mich schon sehr beeindruckt. Aber, das habe ich dann eigentlich stärker später bei jüngeren Leuten gemerkt, wie merkwürdig seine Jünger seine sehr autoritäre Unterrichtsweise empfunden haben, die aber zu seiner Zeit relativ normal war.“

Die Dissertation Tugendhats war noch tief vom Geiste seines Meisters geprägt. Die Kategorienlehre von Aristoteles wurde im Lichte von dessen Existenzial-Ontologie interpretiert. Tugendhats Habilitationsschrift „Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger“ holte Heidegger dann vom Olymp der Denker herunter. Tugendhat wies Heidegger nach, mit dem Begriff der Entschlossenheit dem Wahrheitsbegriff jeglichen Sinn entzogen und damit eine unhaltbare Theorie aufgestellt zu haben. Heidegger, der große Guru der damaligen Philosophie, sah dies sogar ein, was zu einer selten bei ihm vorkommenden Selbstkritik führte. Tugendhats Name blieb dabei indes unerwähnt. Dieser löste sich schließlich von der Existenzialontologie Heideggers und ging seinen eigenen Weg, fortan war er ein Solitär in Deutschland.

Tugendhat beließ es nicht dabei. Er setzte bei Heidegger mit zahlreichen Aufsätzen nach und destruierte dessen gesamte Theorie. Vom Meisterdenker blieb kein Haar übrig. Auf die Frage, ob er gar nichts entdecken könne, mit dem Heidegger die Philosophie vorangebracht habe, sagte er nur: „Eine gute Frage.“ Nachdem er eine Minute lange schwieg, lautete sein Urteil: „Nein, da kann ich nichts finden“.

Tugendhat zählt zweifellos zu den bedeutenden Philosophen hierzulande. Er hat in den geistigen Kraftzentren Deutschlands gewirkt: in Münster, in Heidelberg oder später in Berlin an der Freien Universität. Mit seinem Freund Jürgen Habermas arbeitete er am Max-Planck-Institut in Starnberg. Besonders drei seiner Bücher haben die philosophische Landschaft nachhaltig geprägt. Seine auf Vorlesungen zurückgehenden Werke über Ethik, das Selbstbewusstsein und die Sprachphilosophie zählen zum Kanon deutscher Geistesgeschichte. Seine im Suhrkamp-Verlag publizierten „Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ wurden zur Pflichtlektüre einer ganzen Studentengeneration, sie ebneten der sonst so verpönten analytischen Philosophie in Deutschland den Weg.

In glasklaren Schritten hat Tugendhat gezeigt, dass die Grundfragen der Philosophie eben nicht nur in den traditionellen Großentwürfen der Metaphysik, der Ontologie oder der Erkenntnistheorie beantwortbar sind. Die Reflexion auf die Strukturen der sprachlichen Verständigung über die Welt ist vielmehr die neue Fundamentalwissenschaft.

Ernst Tugendhat hat nicht nur philosophiert, sondern ebenso sehr politisiert, demonstriert, gestritten. Am Montag ist er im Alter von 93 Jahren in Freiburg gestorben. Mit ihm verliert Deutschland einen seiner großen Denker.

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