Philippe Pirotte: „Man muss die Dinge verkomplizieren“

Philippe Pirotte über eine aus seiner Sicht allzu beschränkte Documenta-Debatte, in der nicht genügend differenziert wird
Herr Pirotte, Sie kennen Ruangrupa seit 20 Jahren und haben vor fünf Jahren bei der Jakarta-Biennale eng mit dem Kollektiv zusammengearbeitet. Wie war das?
Sehr offen und konstruktiv. Ruangrupa hatte damals schon die vergangenen drei Jakarta-Biennalen geleitet, sie waren für die Organisation zuständig. Ruangrupa betreute ein gigantisches Gebäude, Gudang Sarinah, als Ort für kulturelle Events. Dort haben sie ein „Ecosystem“ aufgebaut, eine hierarchiefreie Zusammenarbeit von Kollektiven. In einer nebeneinander organisierten Struktur wurde viel diskutiert über Probleme, Antagonismen, Strategien. Entscheidungen wurden ähnlich wie in einer Basisdemokratie getroffen. Man fand Lösungen, während man eigentlich über etwas anderes sprach. „Nongkrong“ heißt diese Methode, die auch auf der documenta fifteen wichtig ist. Allerdings ist diese Herangehensweise für viele deutsche Organisationsstrukturen eine Herausforderung und kaum vorstellbar.
Lag darin ein Problem zwischen Ruangrupa und der Verwaltung der Documenta?
Ich denke, dass mögliche Missverständnisse vor allem damit zu tun haben, dass eine Organisationsart angewendet wurde, die eigentlich in Deutschland nicht akzeptiert ist. Man kann sich hier kaum ein anderes gesellschaftliches Modell vorstellen als das eigene. Diese lockere Organisation, stark basierend auf gegenseitigem Vertrauen, wird als skandalös erfahren.
Also geht es Ihrer Meinung gar nicht um Antisemitismus?
In vielen Artikeln in der Presse wurde über Kontrollverlust, Aufarbeitung, usw. geschrieben; das sind Termini einer typischen deutschen Verwaltungskultur. Als Ruangrupa für die Künstlerische Leitung der Documenta ernannt worden ist, war die Angst groß. Die Einladung haben Ruangrupa mit einer Art Gegeneinladung beantwortet: „Will die Documenta Ruangrupa werden? Ist die Documenta bereit so zu arbeiten wie wir arbeiten?“ Ruangrupa sind nicht mit einem Konzept oder Thema gekommen, sondern mit einer Arbeitsweise. Sie wollten ein Kulturereignis organisieren, das ohne Ausbeutung, ohne finanzielle Spekulation auskommt, das nachhaltig funktioniert und außerhalb des kapitalistischen System stattfindet. Lange Zeit gab es Stimmen, die sagten: „Das ist eine Nummer zu groß, das kriegen die nicht hin.“ Und dann stand mit einem Mal der Antisemitismus-Vorwurf im Raum. Ich glaube, dass es teilweise auch eine Instrumentalisierung war, um das Projekt zu diskreditieren. Eigentlich ging es nämlich darum, dass Ruangrupas Vision von einer Gesellschaft und von der Organisation eines Kunstevents nicht gewünscht war von konservativen Meinungsmachern. Mit der Antisemitismuskarte entstand sofort eine Loose-loose-Situation. Da kam man nicht mehr weiter.
Wer wollte auf diese Art die Documenta sabotieren?
Sabotieren ist zu viel gesagt. Aber hinter dem Vorwurf stehen Kräfte, die eine alte, weiße, modernistisch organisierte Gemeinschaft wollen, deren Strukturen gefügig gefolgt wird. Es geht ja nicht nur um die Documenta, sondern um Vorwürfe gegenüber unterschiedliche progressiven Kulturinstituten und Kulturleuten; unter anderen dem Haus der Kulturen der Welt und dem Goethe-Institut. Es geht wahnsinnig schnell, dass man sich mit einem Vorwurf konfrontiert sieht. Staatsministerin Claudia Roth, die anfangs den BDS-Beschluss nicht unterschreiben wollte, musste unter Druck ihre Haltung ändern. Der Bundespräsident sprach bei der Eröffnung der Documenta in einer anderen Art, als er noch vor ein paar Jahren in einem Vorwort zu einer Ausstellung schrieb, die Okwui Enwezor im Münchener Haus der Kunst kuratiert hatte. Wir hatten gehofft, dass er das Projekt der documenta fifteen stärker unterstützen würde.
Wie sind die antisemitischen Motive Ihrer Meinung nach auf der Documenta gelandet? Woher kamen sie?
Da gibt es verschiedene Erklärungen. Der Antisemitismus, der auf dem Banner von Taring Padi entdeckt wurde, stammt von einer Israelkritik aus einem Kontext, der weniger vertraut ist mit dem Schicksal der ermordeten Jüdinnen und Juden, wie Prof. Erhard Schüttpelz es in einem Artikel im „Merkur“ beschrieben hat. Dieser Einschätzung würde ich mich anschließen. Und die Israelkritik, die es in der indonesischen Gesellschaft gibt, hat nicht unbedingt etwas mit Judenfeindlichkeit zu tun. Durch die Unabhängigkeitsbewegung ist im indonesischen Grundgesetz festgelegt, dass das Land sich mit allen unterdrückten Bevölkerungen der Welt solidarisiert – und damit auch mit den Palästinensern. Ich weiß, dass man in Deutschland diese Position schwer nachvollziehen kann, und ich bin mir darüber bewusst, dass dieser Grundsatz der Solidarisierung mit den Unterdrückten auch in Indonesien selbst nicht konsequent durchgeführt wird – wie man in Bezug auf die Konfliktsituation mit Papua sehen kann. Diese wird übrigens auch in Arbeiten von Taring Padi thematisiert. Aber die Bereitschaft zu lernen, die Taring Padi und Ruangrupa vorgeschlagen haben, ist in Deutschland ziemlich autoritär beantwortet worden, statt eine Gegenbereitschaft zu m Lernen zu zeigen.
Was hilft es in der Diskussion, Israel als Kolonialmacht darzustellen und antisemitische Klischees zu bedienen?
Das Problem ist, dass wir in eine Situation geraten sind, in der man schon fast nicht mehr miteinander reden kann. Weil alles zu eindeutig gesehen wird. Im Januar war es noch eine eher offene Diskussion, ob Israelkritik antisemitisch sei oder nicht. Jetzt sind wir soweit, dass es fast ein Einverständnis gibt unter bestimmten Meinungsmachern, dass es so ist. Wenn man mir sagt, eine Arbeit von Taring Padi ist eindeutig antisemitisch, dann habe ich als Kunsthistoriker den Reflex: Das ist bestimmt komplexer. Es handelte sich bei den Fragmenten teilweise um eine aus Europa während der Kolonialzeit exportierten Bildsprache, aber diese Ausschnitte beinhalten auch Bildelemente, rote Augen und Vampire-Zähne, aus der Jahrhunderte alten Wayang Kulit, dem traditionellen indonesischen Puppenspiel. Das gesamte Bild bezieht sich auf die Geschichte des Landes Indonesien, das unter der Diktatur von Suharto – und mit Unterstützung von Israel und westlichen Mächten – einen Genozid mit mehr als einer halben Million Todesopfern erleben musste. Um zu erkennen, welche Intention dahintersteckt, muss man verkomplizieren. Nicht vereinfachen. Man müsste sagen: Diese Dinge sind eben nicht eindeutig. Mir stellt sich da die Frage: Soll man ein Bild in seiner Gesamtbedeutung angehen oder darf man es verurteilen wegen eines Ausschnitts? Greift man Fragmente heraus, isoliert sie und macht sie zum Gegenstand einer gesellschaftspolitischen Debatte – oder schaut man sich auch mal den Kontext des ganzes Bildes an?
Wie würde eine faire Debatte Ihrer Meinung nach aussehen?
Es müsste auf Augenhöhe diskutiert werden. Es müsste gleichzeitig auch Kritik in die andere Richtung geben dürfen. Das ist bislang viel zu wenig passiert. Man hat eigentlich nur erwartet, dass Ruangrupa, Taring Padi und andere ein Bekenntnis ablegen. Daran haben bestimmte Medien ganz massiv mitgearbeitet.
Ruangrupa hätte sich von Anfang an dazu in den Medien äußern können. Sie haben ihr erstes Interview ziemlich spät gegeben; es erschien 56 Tage nach Start der Documenta und etwa acht Monate nach dem ersten Antisemitismus-Vorwurf.
Weil andauernd eindeutige Bekenntnisse gefordert wurden, statt einen Dialog zu schaffen. Das eigentliche Problem ist, glaube ich, ein Streit über die Rahmenbedingungen, wie wir diskutieren wollen. Dass man mit gönnerhafter Miene vorschreibt, wie und wo die eingeladen Kurator:innen und Künstler:innen reden dürfen, ist sehr schade.
Viele hätten wahnsinnig gerne gewusst, was Ruangrupa zu sagen hat – ganz abgesehen von ihren Entschuldigungen.
Ruangrupa und das Künstlerisches Team hatten sehr früh, im Januar den Vorschlag zur Gesprächsreihe „We need to talk“ gemacht. Aber es ist auf eine effektive Weise entgegengearbeitet worden, und dann haben Eingeladene wie der israelische Soziologe Natan Sznaider sich zurückgezogen. Idee war es eigentlich gewesen, dass Intellektuelle diskutieren sollten, um einen „Common Ground“ zu finden, und dann weitere Diskussionen zu führen. Als dann später die Bildfragmente im Banner von Taring Padi aufgefallen sind, hat die Documenta GmbH mit einem Podium, auf dem unter anderen der Zentralrat der Juden vertreten war, einen Schnellschuss gemacht – aber wieder wurden die Rahmenbedingungen aufgedrängt.
Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, hatte diese Podiumsdiskussion initiiert mit dem Ziel, einen ersten Dialog möglich zu machen. Bei der „We need to talk“-Reihe hatte sich der Zentralrat der Juden darüber beschwert, dass er als Vertretung der Juden in Deutschland nicht eingeladen gewesen war.
Meron Mendel hat vieles Konstruktives versucht, das wegen eine sehr komplexen Vertrauenssituation gescheitert ist. Der Zentralrat ist für „We need to talk“ konsultiert aber nicht eingeladen worden, weil dann hätte man keine intellektuelle, sondern eine politische Debatte gehabt. Und diese politische Debatte soll auch geführt werden, aber das ist nicht der Auftrag der Documenta. Ich glaube, die Documenta ist eigentlich auch gar nicht das Ziel dieser ganzen Diskussion. Sie ist auch nicht das Objekt. Sie wurde genutzt als Brennpunkt, um eine gesellschaftliche Debatte in Deutschland auszubreiten. Damit bestreite ich sicher nicht, dass es in Deutschland ein Problem mit wachsendem Antisemitismus gibt, aber es gibt auch eines mit Islamophobie, mit wachsendem Rassismus und Homophobie. Man gewinnt den Eindruck, dass diese Probleme neben der Holocaust-Erinnerungskultur unbesprechbar bleiben.
Einige Künstlerinnen und Künstler der Documenta fühlen sich rassistisch angegangen. Dabei gilt die Kritik an der Ausstellung nicht ihrer Hautfarbe oder Religion, sondern der Artikulation von Hass gegen Jüdinnen und Juden. Können Sie das nachvollziehen?
Vielleicht ist es, wie vorher angedeutet, nicht so eindeutig. Was artikuliert wird, sind komplexe geopolitische Verwicklungen, die sich oft in Aktivismus äußern. Die schwierigen Anfänge dieser Documenta mit Bedrohungen, Vandalismus und mit persönlichen Angriffen - das hat die Lumbung-Community der Kollektive und Künstler:innen sehr mitgenommen und auch verletzt. Dafür hatten die Medien verhältnismäßig wenig Interesse. Und dann haben die Künstlerinnen und Künstler bis heute mit ihren Visa zu kämpfen. Sogar von Ruangrupa haben nur einige Mitglieder ein nationales Visum bekommen. Das muss man sich vorstellen: Sie haben ein hochrangiges kulturelles Engagement für eine Ausstellung mit international extrem großer Strahlkraft inne – und sie erhalten noch nicht mal eine Aufenthaltsgenehmigung, damit sie ihrer Arbeit nachgehen können.
Wenn es so viel Gesprächsbedarf gab; warum haben Ruangrupa später keinen Versuch mehr unternommen, eine Diskussion zu starten?
Gespräche finden ständig statt, mit den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung, mit den unterschiedlichsten Communitys in Kassel, wie zum Beispiel auch mit der Jüdischen Gemeinde, aber nicht über die übliche Kanäle wie die Presse. So weit wie möglich sind Ruangrupa und die Lumbung Community ständig ansprechbar „on the ground“, 100 Tagen lang, für alle, ohne Privilegien.
Wenn man eine Ausstellung mit postkolonialen Sichtweisen plant – hätte man da nicht von vorne herein damit rechnen müssen, dass es ein Antisemitismusproblem geben könnte?
Keiner aus der Findungskommission hatte einen Moment lang die Vorstellung, dass das ein Problem geben könnte. Warum auch? Es ist ein problematisches und gefährliches Konstrukt, postkoloniale Sichtweisen pauschal zu diskreditieren wegen ihrer Kritik am Staat Israel. Inzwischen sehen wir, dass das Publikum die Documenta selbst anschauen möchte, dass es eine Meinung bilden will ohne Richtlinien von Feuilletonisten. In Deutschland hat sich die Debatte in kulturellen und intellektuellen Kreisen inzwischen stark nuanciert. Den kulturellen Hintergründen spezifischer Bildmotive, auch der Dekolonisierungsgeschichte, wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt, und viele können sich sogar auf Organisationsarten außerhalb der eigenen Komfortzone einlassen.
Es gab die Hoffnung, dass wir auf der Documenta neue Perspektiven aus bisher nicht groß beachteten Teilen der Welt, von marginalisierten Gruppen kennenlernen. Hat das funktioniert?
Viele Projekte auf der Documenta haben einen starken Bezug zu lokalen Communitys. Sie engagieren sich in ihrer Heimat, aber auch in Kassel. Ein gutes Beispiel ist das Nhà Sàn Collective, ein Kollektiv vietnamesischer Künstlerinnen und Künstler, das in Zusammenarbeit mit der deutschland- und europaweiten Diaspora einen Garten in Kassel angelegt hat, in dem vietnamesische Pflanzen gezüchtet werden. Das hat die Gemeinschaft gestärkt, Netzwerke geschaffen – und diese Minderheit stärker in der Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Viele ähnliche lokale und internationale Netzwerke konnten durch derartige Projekte wachsen. Ich denke, das ist die eigentliche Stärke dieser Documenta.
Interview: Lisa Berins
