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Narrative und Krisen: Es fühlt sich an wie 1929

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Von: Michael Hesse

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Die Panik steckte andere an. Suppenküche 1929 nach dem Crash an den New Yorker Börsen.
Die Panik steckte andere an. Suppenküche 1929 nach dem Crash an den New Yorker Börsen. © Imago

Narrative lenken das Wirtschaftsgeschehen stärker, als gemeinhin vermutet wird, schreibt Nobelpreisträger Robert Shiller.

Es sind die Nebensächlichkeiten, die für die großen Katastrophen sorgen. So hat die Einführung der Wählscheibentelefone für die Fortdauer der großen Depression der 1930er Jahre gesorgt. Durch die Wahlscheibe war die Vermittlung für das Telefonieren überflüssig geworden. Viele Arbeitsplätze wurden daher abgebaut. Bei den Leuten habe das stark pessimistische Gefühle ausgelöst, sagt der US-Ökonom Robert Shiller. Denn es wuchs der Glaube, dass die Technologisierung eine gigantische Arbeitslosigkeit erzeugen werde. Das sei einer der Gründe für die Dauer der Wirtschaftskrise gewesen, vermutet Shiller. „Sie dachten, früher oder später werde auch ich meinen Job verlieren.“

Shiller hat die Bedeutung von Erzählungen in der Ökonomie in seinem 2019 veröffentlichten Buch „Narrative Wirtschaft“ dargelegt. Darin erklärt er, dass Geschichten oft ansteckend auf die Menschen wirkten. Sie verbreiten sich so rasant, dass das Verhalten der Menschen durch die Erzählungen beeinflusst wird – und das könne im schlechtesten Fall eine große Krise auslösen. Denn Erzählungen hätten eine große Bedeutung für den Lauf der Wirtschaft und die Finanzmärkte.

Mit dem Crash der New Yorker Börse begann 1929 die schlimmste Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts. Millionen Menschen verloren ihr Vermögen, ihren Arbeitsplatz, ihre Rente – und den Glauben an die Marktwirtschaft. Von 1929 bis 1933 gab es eine Börsenkrise, die sich in der Folge direkt auf die Industrie ausweitete. Die Krise des Bankenwesens kam erst zwei Jahre später, also 1931. Die Zeit, als alle europäischen Banken quasi bankrott waren, war 1931/32.

„Die Situation heute fühlt sich ein bisschen so an wie 1929“, sagte Shiller vor kurzem. Er hat nicht nur eine neue Theorie geliefert, er gilt zudem als Finanz-Orakel. So hat er das Platzen der Internetblase im Jahr 2000 richtig vorhergesagt. Es stelle sich die Frage, so Shiller nun, ob nicht nur eine Rezession bevorstehe, sondern „sogar etwas Größeres“. Shiller spricht von einer „seltsamen Situation“.

Die Wirtschaft befände sich auf einer Terra incognita. Auf eine der längsten Expansionsphasen der US-Volkswirtschaft, sie reichte von 2009 bis 2020, folgte 2020 eine der kürzesten Rezessionen aller Zeiten. Anschließend sorgten gigantische Konjunkturprogramme dafür, dass die Ökonomien durch die von der Pandemie verursachte Krise hindurchkommen konnten. Was bleibt, ist eine gigantische Geldschwemme.

Entscheidend sei, ob die Menschen dem Narrativ folgten, dass eine hohe Inflation bleiben werde, das habe mehr Einfluss auf das Geschehen als die Zinspolitik der EZB und der FED.

Erwartungen aufbauen, Geschichten erzählen, Zukunftsszenarien zur Realität erklären – wenn aus der Wirtschaft eine Art großes Illusionstheater wird, geht es oft um Narrative, wie sie Shiller in seinem Buch beschreibt. „Naturgemäß beschreiben Werke der literarischen Fiktion nicht nur beobachtbare Wahrheiten; aber auch Erwartungen für die wirtschaftliche Zukunft beschränken sich nicht auf Tatsachen“, schreibt auch der Kölner Soziologe Jens Beckert in seinem Buch „Imaginierte Zukunft“.

Erstaunlich sei, wie gut das immer wieder funktioniere. Beckert erinnert an die Rede des Ex-EZB-Chefs Mario Draghi, man werde den Euro retten, „whatever it takes“. Die Rede änderte nichts an der objektiven Situation Griechenlands oder Portugals, aber sie beeinflusste die Erwartungen der Investoren, die sich wiederum auf die Wirtschaftslage auswirkten. Eine gute Geschichte kann Gold wert sein.

Allerdings gibt es bereits ein Narrativ, dessen Kraft die Gesellschaften noch gar nicht in Gänze zu spüren bekommen. „Wir kommen zu einem Ende der Zivilisation“, sagte der Wirtschaftsnobelpreisträger Mohammad Yunus bereits vor einigen Jahren. „Die Welt ist bereit für eine neue Zivilisation, aber wir sehen noch nicht so weit in die Zukunft. Wir stellen uns nicht den fundamentalen Fragen.“ Es gehe nicht nur um die Finanz- und Schuldenkrise, sondern auch um die Umwelt- und Energiekrise. Es gehe um die Lebensmittelkrise und die Armut auf der Welt. „Sie alle haben ihre Ursache letztlich im Grundkonzept des Systems. Man versucht es zu reparieren, ohne seine Funktionsmechanismen verstanden zu haben.“ Yunus könnte recht behalten und das Ende der Zivilisation auf uns warten. Folgt man Shiller, ist es das Narrativ von der zerstörerischen Kraft des Klimawandels, das eine Wirtschaftskrise hervorrufen könnte.

Welche Macht Erzählungen haben können, wurde in den Wirtschaftswissenschaften lange ignoriert. Man setzte lieber auf das Bild des Homo oeconomicus und Computermodelle. Doch das Narrative beschreibt die Realität oft besser als die hochrationalen Modelle der Mathematik.

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