Navid Kermani in der Paulskirche: „In einer schwarzen Stunde“

In der Paulskirche tagt zum ersten Mal die Global Assembly. Das Publikum erfährt, wer die Hoffnungsträger sind und wo die Gefahren für die Demokratie liegen.
Seid realistisch, fordert das Unmögliche: Der Spruch diente bereits in den 1970er Jahren politischen Bewegungen als eine Art Credo: Und auch auf der Auftaktveranstaltung der Global Assembly in der Frankfurter Paulskirche war er am Sonntag wieder zu vernehmen. Dort waren 45 Menschen aus allen Teilen der Welt zusammengekommen, um drei Tage über die Probleme in ihren Städten und Ländern, über Demokratie und Freiheit, Klima und Verantwortung zu diskutieren. Die Teilnehmenden sollen möglichst mit viel geistigem Gepäck wieder in ihre Länder zurückkehren, um dort Veränderungen herbeizuführen, erklärte Thomas Gebauer, vormals Geschäftsführer von medico international und einer der Initiatoren der Global Assembly. In einem Jahr will man dann wieder zusammenkommen und über die Ergebnisse und Erfahrungen diskutieren, erzählte er der Moderatorin und FR-Autorin Bascha Mika, die mit vielen klugen Fragen durch einen Abend führte, der auf großes Interesse stieß: Die Veranstaltung war bestens besucht. Es ging immerhin um etwas, „das uns alle angeht“, wie der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) erklärte. Er fand, dass die Global Assembly in Frankfurt ohnedies am besten aufgehoben sei, was den multikulturellen Faktor angeht. Schließlich sei das Frankfurter Hauptgericht „Grüne Soße und Falafel“. Die Landesministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn (Grüne), zog als Rednerin nach ihm den Bogen von der Assembly zu den revolutionären Tagen und Wochen vor 175 Jahren.
Denn die Frage der Demokratie und Freiheit ist das große Thema der Paulskirche in dieser Woche. Man erinnert sich an 1848 und die Revolution, die mutigen Männer und Frauen, die ihr Leben für ein freieres und besseres Dasein riskierten und oft auch verloren. Demokratie, das hieß für sie, eine bessere Existenz zu erlangen. Es sollte noch lange dauern, bevor das Volk in Deutschland zum Souverän wurde. Die Frage stellt sich, ob die Demokratie das Versprechen einlösen kann, Menschen eine lebenswürdige Existenz zu sichern.
Die Erfahrungen von fünf der Teilnehmenden an der Global Assembly legten den Schluss nahe, dass hier keine Kausalität bestehen muss. So berichtete Moussa Tchangari aus dem Niger von der Entwicklung in der Sahelzone, dem starken Verlust des Vertrauens in die Demokratie, da die „Menschen viel ärmer geworden seien in den letzten Jahren“, dabei hätten sie nicht nur auf mehr Gleichheit, Freiheit, sondern auch auf materielle Fortschritte gehofft. Das Gegenteil trat ein.
Die Folge sei, dass sich immer mehr Länder wie Mali, Burkina Faso oder der Tschad in Diktaturen verwandeln. Ein düsteres Bild, das Moussa Tchangarie zeichnete. Aber dabei blieb es nicht, ging es ihm doch darum zu zeigen, wie man auch in diesen Ländern zurückfinden kann zur Demokratie. Dafür war er nach Frankfurt gekommen. Und dass ein Scheitern auch ein Ansatz für das spätere Gelingen sein kann, erklärte die ägyptische Journalistin Lina Attalah, die von der harten Zeit der Unterdrückung durch das Militärregime in Ägypten berichtete. „Viele waren in Gefängnissen, mussten untertauchen oder wurden sehr depressiv“, erzählt sie von der Demokratiebewegung des Arabischen Frühlings und den schwierigen Tagen des Militärputsches. Man habe sich am Scheitelpunkt des Scheiterns befunden und sich gefragt, wie es weitergehen könne. Die Lektüre deutscher Philosophen habe ihnen die entscheidenden Impulse gegeben, sagte sie. Durch die Ideen der Frankfurter Schule mit Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno sei ihnen klargeworden, dass auch das Scheitern ein Anfang zu einem Gelingen sei. Das habe sie bestärkt, sagte sie.
Die fünf sprachen stellvertretend für die 45 Teilnehmenden. Sie alle befinden sich im Kampf um politische Rechte, das wurde eindrücklich klar, entweder für Frauenrechte in Peru, für die Rechte der Jugend in Bangladesch oder der Migranten in Georgien. Während sie von ihren Ländern erzählten, drehte sich auf den Bildschirmen im Hintergrund ein Globus – man fühlte sich ein wenig an den griechischen Philosophen Parmenides erinnert: Alles ist eins. Man habe auf dem Globus nur Orte verzeichnet, aus denen die Teilnehmenden kämen, sagte Initiator Gebauer hierzu. Auf Grenzen habe man verzichten wollen, da es um die Welt als Ganze gehe. Da halfen die Klänge des Ensemble Modern, das unter anderem ein Stück von John Cage spielte, perfekt auf die Sprünge.
Die großen Linien dieser einen Welt waren auch das Thema eines von Bascha Mika moderierten Gesprächs zwischen dem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani, und der Sozialanthropologin Shalini Randeria, Präsidentin der Central European University Wien. Kermani machte sogleich eine Einschränkung: Gerade einmal zwölf Prozent aller Nachrichten in den Medien in Deutschland würden 85 Prozent der Weltbevölkerung gewidmet. Das sei eine fatale Verengung des Blicks auf die Welt, konstatierte er. Verantwortlich seien hierfür aber nicht allein Politik oder Medien, sondern eben auch die, die Nachrichten konsumierten. Dabei sei es die internationale Öffentlichkeit, die auch auf Konflikte Einfluss nehmen könne. So etwa in Tigray, wo erst die Berichte über Kriegshandlungen, die jedes Ausmaß der Vorstellungskraft gebrochen hätten, für einen Stopp des Mordens sorgten. „Warum so spät?“, fragte er.
Kermani machte auch auf eine andere Schieflage aufmerksam: Er sei ein starker Unterstützer der Ukraine, aber die Verteilung der Aufmerksamkeit in Deutschland sei angesichts der Opferzahlen in Tigray, wo innerhalb von einigen Monaten bis zu 600 000 Menschen gestorben seien, während in der Ukraine 8500 Zivilisten und Zivilistinnen zu Tode kamen, schwer nachvollziehbar.
In der Diskussionsrunde zwischen ihm und Randeria spürte man förmlich, in welch unruhigen Zeiten die Menschen mittlerweile leben. Auch wenn der Globus im Hintergrund ohne Ländergrenzen kreiste, durchzieht diese Welt eine neue unsichtbare Linie: zwischen dem „Westen“ und China. Man möge die Konkurrenz bitte ernst nehmen, mahnte Kermani. Das Land habe 900 Millionen Menschen aus der bittersten Armut befreit – und das innerhalb einer Generation, während in vielen demokratischen Staaten immer noch soziales Leid festzustellen sei. „Wenn die Demokratien diese Probleme nicht angehen, werden noch mehr Menschen zum Autoritarismus übergehen“, befürchtet er. Das Modell China habe mehr Anziehungskraft, als es vielen in Europa oder Nordamerika vielleicht bewusst sei. Auch bei Klimafragen oder Umweltfragen könnten Bürger und Bürgerinnen auf die Idee kommen, autoritäre Regierungen könnten es besser.
Die Anthropologin Shalini Randeria griff den Punkt von Kermani auf. China agiere gegenüber afrikanischen Staaten ohne Ideologie und vor allem ohne den „erhobenen Zeigefinger“, den der Westen immer gerne in die Luft halte, um sich dann selber nicht an die von ihm gesetzten Standards zu halten. Sie machte darauf aufmerksam, welch problematische Wirtschaftspolitik vonseiten der Europäischen Union und der USA gegenüber Bauern - sei es in Kenia, Niger oder Kongo - praktiziert werde: jeden Tag fließe die unglaubliche Summe von einer Milliarde Euro an Subventionen in den Agrarsektor der EU und der USA. Kein Bauer in einem afrikanischen Land könne da konkurrieren.
Dem sogenannten globalen Süden stehe vor allem die Doppelmoral des Westens vor Augen, wenn es um eine Entscheidung zwischen China, EU und den USA gehe. Man dürfe sich daher nicht wundern, so Randeria, wenn etwa die indische Regierung trotz des Krieges in der Ukraine eine prorussische Haltung einnehme. Der Westen fordere heute Solidarität bei Ländern ein, denen gegenüber er selbst keine gezeigt habe. Das habe sich bei den Impfstoffen gegen das Coronavirus erwiesen, als die westlichen Staaten auf die Patentierung bestanden. Kermani verwies darauf, dass speziell in Deutschland die politisch linken Parteien keine linke Politik mehr machten, die Linke sei nationalistisch, die Grünen hätten sich als Regierungspartei nicht für eine Freigabe der Patente eingesetzt.
„Im Augenblick sind wir in einer schwarzen Stunde“, sagte Kermani angesichts des Aufstiegs der autoritären Regime und Staaten, der Angriffe auf Menschenrechte in vielen Ländern. Es gebe jedoch einige Länder, die Hoffnung machten, dazu zähle der Iran. Die Erwartung, dass das Regime in wenigen Monaten weg sein werde, hätten ohnehin nur die Europäer gehabt, so Kermani. Der Kampf im Iran „ist noch nicht zu Ende“, sagte er.
Er griff einen Gedanken auf, den Bascha Mika erwähnt hatte und der auf Sheila Benhabib zurückgeht, dass nämlich in Ländern, in denen es keine Frauenrechte gibt, die auch keine Demokratien sind, „die gesamte Gesellschaft unfrei sei“, so Kermani. Die Gesellschaft im Iran verstehe dies immer mehr, das hätten sich die Frauen dort erkämpft. Eine Befreiung vom Islamismus im Iran hätte weltweit eine enorme Signalwirkung, sagte er weiter.
Beim Thema Frauenrechte plädierte Randeria dafür, eine modifizierte Debatte über das Kopftuchtragen zu führen. Allzu oft würden Frauen in muslimisch geprägten Ländern unter Druck gesetzt, weil sie angebliche „amerikanische“ Ideen vertreten würden. Man müsse die Debatte neu denken, forderte sie. Ohnedies war das Neu-Denken eine Maxime, die sich in ihren Ausführungen durchzog.
Die Dinge neu zu denken, das gilt auch für das Thema der Eigentumsrechte, dem Herz kapitalistischen Wirtschaftens. Der Kapitalismus heutiger Prägung sei global gesehen wieder auf einem Niveau, das Karl Marx bereits vor Augen gestanden habe. Es sei eine Form des Landraubs und der Zerstörung der Agrargesellschaften zu konstatieren.
Man benötige eine neue globale Architektur. Sie warf die Idee von Kollektiveigentum in die Runde, etwa Wälder oder Felder indigener Kulturen als kollektive Güter zu behandeln, um sie vor den kapitalistischen Wildwüchsen zu schützen. Zudem müssten Forderungen direkt an multinationale Konzerne gerichtet werden, da diese Menschenrechte massiv verletzten, ohne irgendjemandem Rechenschaft geben zu müssen. Das gesamte Regelwerk der globalen Wirtschaftsstruktur mit Welthandelsorganisation oder Weltbank sei nur zugunsten des Westens geschrieben worden, was man dringend für die Verbesserung von Lebenschancen vieler Menschen ändern müsse. Doch für eine neue globale Architektur fehle der politische Wille, so Randeria.
„Aber was soll der politische Wille sein?“, warf Kermani ein. „Das sind doch wir! Als Konsumenten haben wir eine große Macht.“ Kermani setzte auch das Ausrufezeichen zum Ende der Veranstaltung. Man solle nicht Staaten wie China, der Türkei oder Iran auf den Leim gehen, wenn diese von westlichen Menschenrechten sprächen, die für sie keine Geltung hätten. „Menschenrechte sind gut. Jetzt muss man dafür kämpfen!“ Ein vorgetragener Zwischenruf aus Afghanistan über die schrecklichen Bedingungen nach dem Abzug des Westens berührte viele an dem Abend. Kermani betonte, dass ebenjener „Westen“ vieles falsch gemacht habe. Aber jetzt, da er immer schwächer werde, spüre man sein Fehlen.
Redaktionshinweis: In einer früheren Version dieses Artikels stand die Aussage des Autoren Navid Kermani, dass in der Ukraine rund 8500 Menschen umgekommen seien. Diese Aussage wurde zu „Zivilisten und Zivilistinnen“ korrigiert, um der Differenzierung seiner ursprünglichen Aussage zu entsprechen. (16.05. 9.30 Uhr)