Nachruf auf die „Hohe Luft“ – Immer anders als die anderen

Ein Nachruf auf das eingestellte Philosophie-Magazin „Hohe Luft“. Von Rebekka Reinhard
Wozu Philosophie? Einen wichtigen Hinweis gab Ludwig Wittgenstein, als er Philosophieren eine Form von Therapie nannte: „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.“ Viele Philosophen versuchen sich beim Philosophieren allerdings auch selbst zu therapieren, indem sie Aussagen über die Wirklichkeit treffen, möglichst ohne mit ihr in Berührung zu kommen.
„Hohe Luft“ war eine Philosophie-Zeitschrift, die erfunden wurde, um mit dieser Art Selbsttherapie Schluss zu machen. Gleich die allererste, im Herbst 2011 erschienene Ausgabe mit dem Titel: „Du sollst nicht lügen! Aber warum eigentlich nicht?“ war ein Angriff auf den Widerstand vieler Intellektueller, das reine Denken vom konkreten Leben kontaminieren zu lassen. Kein Marketing-mäßig brutaler Angriff, eher eine lustvolle, liebevolle, ironische Einladung zum Perspektivwechsel.
„Hohe Luft“ war immer anders als die anderen – die Avantgarde unter den wenigen populären Philosophiemagazinen schon zu einer Zeit, als es vielen Akademikern noch unheimlich schien, ihre Expertise in Formaten auch außerhalb des Hochfeuilletons zur Verfügung zu stellen. Im Laufe der Jahre sträubte sich das Heft erfolgreich gegen die zunehmend gleichförmige Diskurs- und Debattenkultur mit den immer gleichen Themen und Namen. Statt der üblichen public philosophers, präsentierten wir sechsseitige Gespräche mit renommierten Persönlichkeiten auch aus anderen Disziplinen, wie etwa dem auf Medienanthropologie spezialisierten Germanisten und Ethnologen Eberhard Schüttpelz. Daneben erschloss „Hohe Luft“ seinen Lesern Bereiche der Realität, wo man mit dem Herzen mehr „versteht“ als mit akademischer Fachkompetenz. Zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, wie Wildtiere denken. Hierzu gab uns 2021 der ehemalige Kfz-Mechaniker, Gewichtheber und Totengräber Wolfgang Schreil alias „Woid Woife“ Auskunft, der die meiste Zeit im Wald lebt.
Auch Kolumnen wie „Complexify your life“ oder der surreale „Dialog im Flur“ – wo es zu Begegnungen dritter Art kam wie der zwischen Herbert Diess und einem 0,5 cm großen, farblich changierenden Virus – dienten dazu, Philosophie als ein zirkuläres Unternehmen selbstgefälliger Selbstbestätigung aufzubrechen; ein Unternehmen, das letztlich nur dem eigenen System dient (und einer kleinen Öffentlichkeit, die, auf Distinktionsgewinn hoffend, an den Rändern des Systems partizipiert). Doch ist dies nicht längst geschehen? Haben andere populäre Philosophie-Formate nicht längst dazu beigetragen, die älteste Wissenschaft im konkreten Leben zu verankern? Jein. „Phänomene mithilfe der Philosophie zu erklären und tiefer zu verstehen“, wie Svenja Flaßpöhler kürzlich in der Frankfurter Rundschau formulierte, ist, glaube ich, nicht ganz das, worum es heute gehen sollte.
Wenn sich die Welt radikal verändert, muss sich auch die Philosophie radikal verändern. Wenn sie weiter die Themen und Methoden ihrer Vergangenheit wiederkäut, wird sie von der vermeintlichen Bedeutsamkeit in die tatsächliche Bedeutungslosigkeit abstürzen. Gedanken allein sind wertlos, wenn sie die Welt nicht verändern (wenigstens ein klein wenig). Heute geht es darum, sich der konkreten Welt nicht nur zu öffnen, sondern auch beherzt in sie einzugreifen; sie ethisch, menschlich mitzugestalten.
Unsere eigenen ideologischen Verblendungen können wir nicht durch noch mehr Denken entlarven – oder durch Auftritte in Talkshows ungeschehen machen. Sondern nur, indem wir unsere Selbstgenügsamkeit von außen aufpiksen lassen.
Der ursprüngliche Impetus von „Hohe Luft“, das intellektualistische Selbstverständnis der Philosophie zu reformieren, ist aktueller denn je. In der multimedial überformten Welt wächst die Anzahl der Stimmen, die die Deutungshoheit für sich beanspruchen – von Autokraten bis hin zu KI-Experten. Was bedeutet es für die Philosophie, wenn „Intelligenz“ „künstlich“ wird? Wenn philosophische Begriffe längst umfassend reinterpretiert und angeeignet sind; wenn etwa im Kontext von Big Data und Marketing „Idee“ nicht „(reflexiver) Gedanke“ meint, sondern eine algorithmisch messbare soziale „Verhaltensstrategie“, wenn „Engagement“ nicht auf Jean-Paul Sartre hinweist, sondern auf ein bestimmtes Maß an Interaktion mit Websites und Apps? Wenn „Feminismus“ als Purpose-tauglicher Begriff für Anzeigen-freundliche Umfelder dient?
„Hohe Luft“ war eine Philosophie-Zeitschrift, die sich mehr als zehn Jahre auf dem Markt behaupten konnte. Im Januar dieses Jahres erfuhr die Öffentlichkeit von der Einstellung des Hefts. Und ich erfuhr, dass unsere Abonnenten ab sofort das bisher konkurrierende „Philosophie Magazin“ erhalten würden. Von der Homepage unserer Zeitschrift erfolgte eine automatische Weiterleitung auf dessen Seite – wo ich zu meiner Überraschung las: „,Hohe Luft‘ wird Philosophie Magazin.“ Nein. Die Zeitschrift „Hohe Luft“ ist tot. Lang lebe die Originalität!
Die Philosophin Rebekka Reinhard war seit 2014 freie Redakteurin und von 2019 bis Ende 2022 stellvertretende Chefredakteurin von „Hohe Luft“.