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Nach Palmer-Auftritt in Frankfurt: Die Mär von der Cancel Culture

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Von: Hadija Haruna-Oelker

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Cancel Culture bedeutet in den USA inzwischen, anti-woke Gesetze durchsetzen zu können, dazu zählt auch die Aufhebung des Urteils „Roe v. Wade“ von 1973.
Cancel Culture bedeutet in den USA inzwischen, anti-woke Gesetze durchsetzen zu können, dazu zählt auch die Aufhebung des Urteils „Roe v. Wade“ von 1973. © IMAGO/Pacific Press Agency

Die Sorge vor dem neuen Tugendterror speist sich mehr aus Übertreibung als einer Gefahr.

Mit Distanz lassen sich Probleme oft differenzierter betrachten. Manchmal erscheinen sie einem dadurch aber auch befremdlich. Das passiert etwa, wenn man von den USA aus die Debatten über die Grenzen des Sag- und Machbaren in Deutschland betrachtet. Über die Angst vor moralisierenden, überempfindlichen und woken Tugendterroristinnen, Sprachpolizisten, Lifestyle-Linken und Social Justice Warriors, die eine Identitätspolitik und Cancel Culture betreiben, als seien das neue gesellschaftliche Phänomene.

Sprache beschreibt nicht nur, sie schafft auch Realitäten. So wird seit den 90er Jahren unter immer neuen Namen von der Gefahr der Politischen Korrektheit erzählt und gestritten. Erinnert sei daran, dass es Ex-US-Präsident Donald Trump war, der den Begriff „woke“ für seine Zwecke umwidmete, den die Black-Lives-Matter-Bewegung 2014 dafür genutzt hatte, ein stärkeres Bewusstsein für rassistisch motivierte Polizeigewalt zu formulieren.

Trump verwendete ihn wiederum für ein übertriebenes Bewusstsein. Und in dieser verfremdeten Form bestimmt er nun auch die Diskurse in Deutschland. Er ist ein Beispiel dafür, dass das Verfremden und Neuschöpfen von Wörtern immer schon ein politisches Mittel war.

Eine Blaupause: Früher nannte sich Zensur, was sich seit 2019 Cancel Culture nennt. Ein Wort, mit dem inzwischen so viele Debatten polarisiert, Schlagzeilen zugespitzt und die unterschiedlichsten Ereignisse skandalisiert werden, dass sie in keine kurze Aufzählung passen.

Dennoch stellt sich die Frage, ob es sie gibt. Bedroht ein wokes Milieu die Wissenschaftsfreiheit? Davon geht ein 2020 gegründetes gleichnamiges Netzwerk aus, dem sich mehrere Hundert Akademiker und Akademikerinnen angeschlossen haben. Es war eines seiner Vorstandsmitglieder, die Professorin und Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, Susanne Schröter, die am vergangenen Wochenende an der Goethe Universität eine Konferenz mit dem Titel „Pluralität steuern, Migration regulieren“ organisiert hatte, von der nun bundesweit die Rede ist.

Bereits vorher hatte es Protest wegen der politisch einseitig besetzten Gästeliste gegeben. Weil Wissenschaftsfreiheit nicht heißt, dass nur die Meinung einer Seite berücksichtigt wird – ausgehend von einer Runde, die sich, so der „FAZ“-Journalist Sascha Zoske, vor allem mit negativen Aspekten der Zuwanderung beschäftige. Zum Eklat kam es jedoch, weil der eingeladene Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, erneut das N-Wort benutzte und eine Kritik daran auf holocaustverharmlosende Weise abwehren wollte. Womit er wiederum die Grenzen eines weit größeren Publikums als bisher überschritt. Das war „zu viel“. Wie relativ dieses ist, spiegelt sich in der seit Jahrzehnten schwelenden Debatten über die Nutzung des N-Wortes. Und in der Summe wird der universitäre Eklat so zum Beispiel für die bizarren Effekte, wenn Meinungsfreiheit an ihre Grenzen stößt und eine Kultur der Konsequenz zum Einsatz kommt.

Zur Person

Hadija Haruna-Oelker ist Politikwissenschaftlerin und Kolumnistin der Frankfurter Rundschau.

Zuletzt erschien von ihr das für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 in der Kategorie Sachbuch nominierte Buch „Die Schönheit der Differenz . Miteinander anders denken“ (btb, 14 Euro).

Gibt es eine Cancel Culture? Und was unterscheidet sie von einer Kritik, die allen erlaubt sein sollte? Der Literaturwissenschaftler und Stanford-Professor Adrian Daub bezweifelt, dass es sie gibt. Seine Auswertung von Text-Datenbanken der Feuilletons der vergangenen Jahre zeigt, dass das Gesamtbild der als entsprechend markierten Fälle uneindeutig, unterschiedlich, weniger dramatisch, wenn auch nicht unproblematisch ist. Es handle sich, so Daub, um überbewertete Einzelfälle, nicht um eine Kultur. Zumal der Befund meist an Anekdoten festgemacht werde, die oft nur aus der Perspektive der Opfer der Situation erzählten, die Gegenseite werde ebenso ausgeblendet wie der Kontext. Diese Logik und ihren Transfer aus den USA beschreibt Daub in seinem Buch „Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst“ (Suhrkamp). Es geht um die Übernahme eines doppelten Diskurses, der eine Lehre über „die Zustände dort“ mit der Angst paare, dass diese auch „zu uns“ kommen könnten. Was wiederum eine moralische Panik schüre, mit der die Soziologie bereits in den 70er Jahren erklärt hat, wie bestimmte Gruppen in einer strategischen Übertreibung als Gefahr dargestellt werden, um von gesellschaftlichen Problemen abzulenken. Über Cancel Culture zu reden, hilft also dabei, nicht über Ungerechtigkeiten sprechen zu müssen. Und in den USA bedeutet es inzwischen, damit anti-woke Gesetze durchsetzen zu können.

So haben, seit das Urteil „Roe v. Wade“ von 1973 im vergangenen Jahr aufgehoben wurde, mehr als ein Dutzend vor allem republikanisch geführte US-Staaten das Recht auf Abtreibung wieder verboten. Und in diesem Jahr wurden bereits mehrere Hundert Gesetze erlassen, die zu einer schlechteren Situation für Transpersonen führen.

„Florida is where woke goes to die“ hatte Ron DeSantis in seiner Siegesrede nach der Wahl zum Gouverneur des US-Bundesstaates verkündet. Seitdem bekämpft er Antidiskriminierungs-Politik im Bildungswesen und bei Konzernen. Mit dem „Don’t say Gay“-, Sag-nicht-schwul-Gesetz verbannte er die Aufklärung über Homosexualität und Transidentität aus den Schulen und verbot das Schulfach der African-American Studies, weil die Fächer Critical Race Theory und Gender Studies für ihn der Vergangenheit angehören. Das hinterlässt auch Spuren in den Bibliotheken, wie viral gegangene Videos von leeren Regalen zeigen, weil zu progressive Bücher verboten werden.

Laut Nachrichtenagentur Reuters wurden seit Jahresbeginn in verschiedenen konservativen Bundesstaaten mindestens 44 Gesetze auf den Weg gebracht, mit denen „woke“ Firmen bestraft werden können. Offline wie online wurde darum auch der Twitter-Kauf von Elon Musk im Kampf gegen den „Woke-Kapitalismus“ gefeiert. Den Versuch, aus dieser Haltung auch eine globale Allianz zu bilden, zeigt beispielhaft der Kongress „Awake not woke“ im vergangenen Jahr in Texas, bei dem unter anderem Ungarns Regierungschef Viktor Orbán sprach.

Zu woke, muss weg! Worum geht es wirklich? Mit Blick auf die USA lässt sich eine gesellschaftliche Entfremdung vom Zeitgeist feststellen, was sich auf die Generationen unterschiedlich auswirkt. An den liberalen Universitäten des Landes wie dem Oberlin-College in Ohio zeigt sich an den Studierenden des Erstsemesters, wie sehr ihr politisches Verständnis von der Ära Trump geprägt ist und wie das Einfluss auf ihre Achtsamkeit nimmt. Wie für sie das Gefühl einer gesicherten Demokratie nicht mehr selbstverständlich ist. Weshalb Identitätspolitik vor allem für eine jüngere Generation zu einer noch viel drängenderen und dringenderen Frage geworden ist, erklärt die Associate Dekanin und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Fakultät, Elizabeth Hamilton.

Die Situation in den USA lässt sich nicht mit der in Deutschland vergleichen. Zumal Identitätspolitik in den USA schon viel länger ein anerkannter Teil politischen Verständnisses und beispielsweise an den Universitäten in den Strukturen verankert war, die eben nun wieder abgeschafft werden sollen. Das alles gibt es so in Deutschland nicht. Was sich allerdings ähnelt, sind die Mechanismen anti-woker Haltungen. Das Muster, dem „Gegner“ die Macht entziehen zu wollen, was genau der Logik folgt, die ihm vorgeworfen wird.

Hadija Haruna-Oelker. Foto: Sophia Engel
Hadija Haruna-Oelker. © Sophia Engel

Es ist keine neue Erkenntnis, dass konservative und rechte Positionen in der Geschichte schon immer Anleihen bei linken genommen haben. Dem Theoretiker Antonio Gramsci nach erfolgt ein gesellschaftlicher Wandel zuerst durch die Dominanz auf dem kulturellen Feld, dann erst kommt die politische Veränderung. Unter diesem Blickwinkel ist das Anti-Woke nicht mehr nur eine performative Selbst-Inszenierung einzelner, wenn beispielsweise der Titel der ersten Veranstaltung der liberal-konservativen Denkfabrik R 21 im vergangenen Jahr in Berlin lautete: „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“

Wessen Freiheit ist in Deutschland bedroht? Die Antwort darauf ist Auslegungssache. Der Thinktank R 21 wiederum versteht sich als Ideenschmiede, die „die neue bürgerliche Politik nachhaltig begründen will“. Auf der Homepage warnt sie vor woken Linken, ebenso vor Rechtspopulismus. Ihre prominenten Initiatorinnen und Initiatoren sind unter anderem Susanne Schröter, der Autor Ahmad Mansour und Ex-Familienministerin Kristina Schröder. Und wie das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit muss sich auch die Denkfabrik die kritische Frage gefallen lassen, ob ihre konservative Kritik an Identitätspolitik ausreichend Distanz zu rechter Feindbestimmung hält.

Denn das ist die allen Debatten über Cancel Culture übergeordnete Frage. Und eine Antwort darauf macht den Umgang mit diesem Wording auch zum Problem, weil es kein wertneutraler Begriff ist, der aus den USA übernommen wurde und mit dem jetzt in politischen wie wissenschaftlichen Räumen in Deutschland Machtverhältnisse und gesellschaftliche Probleme diskutiert werden. Eine Differenzierung ist schwer möglich. Deshalb liefert diese Idee auch keine adäquate Erklärung für unsere Zustände. Was sie aber tut: Sie bietet einfache Lösungen an, und genau diese waren schon immer beliebt.

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