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„Multidirektionale Erinnerung“: Missverständnisse und gezielte Verschleierungen

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Schwarze Arbeiter ziehen in einem der „Schutzgebiete“ des Deutschen Reiches in Afrika einen Wagen mit geernteter Baumwolle, circa 1910.
Schwarze Arbeiter ziehen in einem der „Schutzgebiete“ des Deutschen Reiches in Afrika einen Wagen mit geernteter Baumwolle, circa 1910. © akg-images

Führt die Anerkennung des kolonialen Rassismus zu einer Verdrängung des Holocaust? Nein. Reflexionen über ein Jahr erbitterter Debatten. Von Michael Rothberg.

Vor einem Jahr erschien mein Buch „Multidirektionale Erinnerung“ in deutscher Übersetzung, zwölf Jahre nach dem Erscheinen des Originals. In der englischen Fassung war es als Teil der „dritten Phase“ (Astrid Erll) der Gedächtnisforschung rezipiert worden. Es ging dabei darum, das Verständnis des kollektiven Gedächtnisses zu erweitern, das aus den einflussreichen Arbeiten der ersten Phasen erwuchs, zu deren Schlüsselpersonen der Soziologe Maurice Halbwachs und der Historiker Pierre Nora gehören. Anstelle der statischen, nationenbasierten und kulturell homogenen Konzeption von Erinnerung, die Noras Projekt „lieux de mémoire“ zugrunde lag, wurde das Gedächtnis in dieser dritten Phase als dynamisch bezeichnet: als transnational, transkulturell und pluralistisch. Mein Buch „Multidirektionale Erinnerung,“ das das Zusammenspiel von Erinnerungen an den Holocaust, Kolonialismus und Sklaverei in einem transnationalen Raum verfolgt und Schwarze und Juden miteinander verbindet, wurde schnell zu einem wichtigen Bezugspunkt in Debatten über das kollektive Gedächtnis.

In Deutschland verlief die Rezeption völlig anders. Anstatt Teil einer Debatte über die Natur des Gedächtnisses zu sein, geriet das Buch in eine heftige Auseinandersetzung über die Einzigartigkeit des Holocaust, die Natur des Antisemitismus und die Möglichkeiten einer Kritik der israelischen Politik. Die Debatte über das Buch wurde alsbald mit dem Fall Mbembe verknüpft, der ebenfalls den Holocaust, Antisemitismus und den Israel-Palästina-Konflikt betraf, und führte wiederum zu einer Diskussion über die Beziehung zwischen dem Völkermord der Nazis an den europäischen Juden und kolonialer Gewalt. Zugleich wurde anhand der Arbeit des Historikers Jürgen Zimmerer das Verhältnis des deutschen kolonialen Völkermords und des Holocaust wiederbelebt, nicht zuletzt verknüpft mit der Frage, ob das Holocaust-Gedächtnis als „Deckerinnerung“ für das koloniale Gedächtnis diene.

Polemik von A. Dirk Moses

Als all diese umstrittenen Aspekte der deutschen Vergangenheit und Gegenwart zusammenliefen, erschien ein polemischer Essay des in den USA lebenden australischen Historikers A. Dirk Moses in dem Schweizer Blog „Geschichte der Gegenwart“. Moses identifizierte dort die Grundzüge dessen, was er als deutsche „Zivilreligion“ bezeichnete und die ihm zufolge illiberal oder gar autoritär geworden war. Dazu rechnete er die Auffassung von der Einzigartigkeit des Holocausts, die strenge Unterscheidung des Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus sowie den Kurzschluss zwischen Antizionismus und Antisemitismus. Nachdem Moses’ Essay bereits eine lebhafte Diskussion auf Englisch erfahren hatte, wurde die Debatte vom deutschen Feuilleton aufgegriffen, wo sich der Ton radikal änderte. Moses’ Überlegungen, insbesondere seine auf religiöse Kategorien rekurrierende Rhetorik, wurden harsch zurückgewiesen.

Dabei schienen gerade die Reaktionen, nicht zuletzt auf das Konzept der multidirektionalen Erinnerung sowie auf die Arbeiten von Achille Mbembe und Jürgen Zimmerer, Moses’ Annahme in zentralen Punkten zu bestätigen. Wie dieser vorausgesagt hatte, verbreiten sich seither zweifelhafte Antisemitismusvorwürfe beinahe inflationsartig, um beispielsweise Journalistinnen (Carolin Emcke und Nemi El-Hassan) und zuletzt Künstler und Kunstinstitutionen (das indonesische Kollektiv Ruangrupa und die Documenta) zu diskreditieren. Zweifellos wird der jüngste Bericht des britischen Amnesty International, in dem Israel als Apartheid-Regime bezeichnet wird, zu weiteren Auseinandersetzungen in Deutschland führen, auch wenn Menschenrechtsgruppen in Israel selbst bereits den Begriff Apartheid verwendet haben. Man kann vergleichende Völkermordstudien, kritische Rassentheorie und israelische Politik durchaus wissenschaftlich debattieren, aber die meisten öffentlichen Stimmen in Deutschland waren feindselig und nicht bereit, sich ernsthaft mit Argumenten zu beschäftigen, die Aspekte der vorherrschenden Sicht des Holocausts, des Antisemitismus und des Staates Israel infrage stellen.

Anstatt die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust – deren Bekräftigung Gegenstand der jüngsten Sammlung „Ein Verbrechen ohne Namen“ (herausgegeben von Saul Friedländer, Dan Diner, Sybille Steinbacher und Norbert Frei – siehe auch FR vom 8.2.) ist – wieder aufzunehmen, möchte ich diese Kontroverse aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Aus vielen der Antworten geht klar hervor, dass der Nerv, der dabei berührt wurde, in der Behauptung liegt, dass Deutschlands viel gepriesene Holocaust-Erinnerungskultur erhebliche, sogar antidemokratische Mängel aufweist. Eine solche Behauptung scheint die Bemühungen zu untergraben, die die Verantwortung für die Shoah zu einem integralen Bestandteil deutscher Identität haben werden lassen. Die Sorge scheint zu sein, dass „postkoloniale“ Kritiker diese beispiellose Errungenschaft unterminieren und so der extremen Rechten in die Hände spielen, basiert aber in diesem Kontext auf einer Reihe von Missverständnissen und gelegentlich auch gezielten Verschleierungen.

Holocaust-Vergleiche streng beäugt

Erstens unterläuft den Gegnern multidirektionaler Ansätze oft eine Verwechslung zwischen Geschichte und Erinnerung. Natürlich können diese nicht vollständig voneinander getrennt werden, aber mein Buch als auch Moses’ Aufsatz zielen auf das kulturelle Gedächtnis ab, nicht die historische Wissenschaft. Das scheint für einige Kritiker schwer begreiflich, wie die Geschwindigkeit zeigt, mit der Journalisten wie Thomas Schmid („Die Welt“) und Claudius Seidl (FAZ) von meinen Überlegungen zu Erinnerungsdynamiken zu Zimmerers historischen Argumenten zum kolonialen Völkermord und zum Holocaust übergingen.

Jüngstes Beispiel ist Sybille Steinbachers Beitrag in „Ein Verbrechen ohne Namen“, in dem sie meiner und Zimmerers Ansicht, dass Holocaust-Vergleiche in der Öffentlichkeit streng beäugt werden, mit der Bemerkung entgegenzutreten versucht, dass vergleichende Völkermordforschung längst ein etabliertes Feld sei – als ob Moses und Zimmerer daran erinnert werden müssten.

Ja, Vergleiche sind erlaubt, aber in den einflussreichsten Zentren des öffentlichen Diskurses in Deutschland – im Unterschied zur Wissenschaft – ist das einzig akzeptable Ergebnis eines solchen Vergleichs eine Erneuerung der sui generis-Natur des Holocausts. Eine derartige Ablehnung von Ähnlichkeiten führt zur Unfähigkeit, Fragen zum größeren historischen Rahmen einschließlich des Kolonialismus und transeuropäischen Rassenkonstruktionen, die keineswegs nur Moses und Zimmerer erforschen, ernst zu nehmen.

Zweitens gehen viele Kritiker weiterhin von einer Art Nullsummenlogik aus, was ich als „Wettbewerbsgedächtnis“ bezeichne, auch wenn sie behaupten, dass diejenigen, die relationale Ansätze fördern, feindselig und antagonistisch seien. Im Gegensatz dazu besteht das Argument meines Buches in der Annahme, dass die Erinnerung nicht nach der Logik eines Nullsummenspiels funktioniert. Ich zeige, dass selbst Gedächtniskonflikte zu mehr Erinnerung führen und nicht zu weniger. „Multidirektionale Erinnerung“ bietet eine potentielle versöhnliche Vision, die auf der Prämisse basiert, dass Erinnerungskulturen viel enger miteinander verwoben sind als vermutet. Ein Beispiel für das Beibehalten der Nullsummenlogik findet sich indes in Dan Diners Essay, der „Ein Verbrechen ohne Namen“ abschließt.

Ausgehend von seinem Argument über die „gegenrationale“ Singularität des Holocausts suggeriert Diner in Bezug auf den Anti-Rassismus der Black-Lives-Matter-Bewegung, dass diejenigen, die die Aufmerksamkeit auf die rassistischen und kolonialen Überzeugungen eines Winston Churchill lenken, zwangsläufig die Erinnerung an den Holocaust untergraben. So schreibt er: „Nun war Churchill als eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts ebenso wie seine Zeit- und Standesgenossen von rassistischen Haltungen nicht frei. Aber sollte dies alles werden, was von Churchill bleiben soll, dann — so der sich aufdrängende Schluss — dürfte Hitler aus dem historischen Gedächtnis getilgt werden.“ Ein solcher Schluss drängt sich nur auf, wenn man einer Nullsummenlogik folgt, derzufolge jegliche Anerkennung des kolonialien Rassismus zu einer automatischen Minimierung, wenn nicht gänzlichen Verdrängung des Holocaust führt.

Die Verwechslung von Geschichte und Erinnerung sowie der Nullsummenansatz der Erinnerungskultur konvergieren in der Unfähigkeit, die Gegenwart mit neuen Augen zu betrachten. Obwohl „Ein Verbrechen ohne Namen“ mit Jürgen Habermas’ heilsamer Warnung beginnt, die Erinnerungskultur einer Nation nicht einzufrieren, trägt vieles in dem Band doch dazu bei. Dabei wird die Notwendigkeit einer vergleichenden Darstellung des Holocaust und seiner Folgen überall in der heutigen Gesellschaft und in der Debatte selbst sichtbar. Während einflussreiche Stimmen versuchen, Antisemitismus von jeder Beziehung zu anderen Formen des Rassismus abzutrennen, zielen Rechtsextremisten gerne sowohl auf Juden als auch auf andere Minderheiten, wie die rassistisch motivierten Anschläge in Halle und Hanau deutlich gemacht haben.

Gerade aus der Erinnerung an den Holocaust und der Holocaust-Wissenschaft sollten doch wichtige Erkenntnisse zu rechtsextremen Bewegungen, die die Ideologie der weißen Vorherrschaft propagieren, hervorgehen. Die selbstauferlegten Beschränkungen aber, die hinsichtlich der Begriffe Antisemitismus und Rassismus zu gelten scheinen, lassen kaum verstehen, was in Deutschland gerade passiert.

Die Weigerung, den Holocaust und seine Nähe zum Kolonialismus wahrzunehmen, verzerrt unser Verständnis von Geschichte und Erinnerung. Wissenschaftler werden weiterhin über die genaue Beziehung des deutschen Kolonialismus zum Völkermord an den Juden durch die Nazis debattieren, aber eine wachsende Zahl von Historikern, zumindest außerhalb Deutschlands, erkennt jetzt an, dass der Holocaust im Kontext der Bemühungen der Nazis zur Kolonisierung Osteuropas stattfand und Hitler sich explizit vom britischen Empire und der Westexpansion der USA inspirieren ließ – ganz zu schweigen vom US-Rassenrecht. In der Sammlung „The Holocaust and North Africa“ und dem demnächst erscheinenden Quellenbuch „Wartime North Africa“ haben meine Kollegen Aomar Boum und Sarah Stein die Schnittstelle von Kolonialismus, Faschismus und Nationalsozialismus in Nordafrika erkundet – eine Perspektive, die neue Ansätze für die Holocaust-Forschung eröffnet. Im Bereich der Erinnerung ist die Diskussion über die Folgen des Kolonialismus aus mindestens zwei Gründen untrennbar mit der Diskussion über das Erbe der Shoah verbunden. Zum einen, weil die Aufarbeitung des Holocaust weltweit zu einem unmittelbaren Bezugspunkt geworden ist, um über vielfältige Formen politischer Gewalt nachzudenken; zum anderen, weil jüdische, schwarze und andere Intellektuelle seit dem Aufstieg des Nationalsozialismus diese Konjunktion immer als grundlegend für das Verständnis der Geschichte der Moderne angesehen haben.

Das Zusammentreffen verschiedener Debatten über Kolonialismus, Antisemitismus, Israel und den Holocaust ist selbst ein Beweis für die Multidirektionalität der Erinnerung und den Verstrickungen der Geschichte. Die Beschwörung einer historischen Singularität des Holocausts wird diese Verstrickungen nicht zum Verschwinden bringen, sie macht die kommenden Diskussionen nur gröber und weniger nuanciert. Sie wird auch eine Hierarchie der Opfer verstärken, selbst wenn die Kritiker dies leugnen. Im Gegensatz dazu werden Vergleichsmethoden es uns ermöglichen, unseren Weg sowohl durch die Konvergenzen als auch durch die Divergenzen traumatischer historischer Vermächtnisse zu finden, ohne einzelne Geschichten gegenüber anderen zu bevorzugen. Die deutsche Erinnerungskultur der 80er-Jahre hat das selbstkritische Potenzial der Vergangenheitsbewältigung auf exemplarische Weise gezeigt. Diese selbstkritische Dimension aber hat sich inzwischen spürbar verflüchtigt und an deren Stelle sind illiberale Strömungen getreten. Letztlich aber versprechen multidirektionale Ansätze eine Wiederbelebung der hart erkämpften deutschen Erinnerungskultur in einer immer pluraler und und komplexer werdenden Gesellschaft.

Michael Rothberg, ein US-amerikanischer Literaturwissenschaftler, ist Inhaber des Samuel-Goetz-Lehrstuhls für Holocaust-Studien in Los Angeles.

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