Micha Brumlik „Postkolonialer Antisemitismus?“: Der schmale Grat zwischen Kritik und Dämonisierung

Micha Brumliks akribische Aufarbeitung der Causa Achille Mbembe und der damit verbundenen Antisemitismus-Vorwürfe.
Die brüske Ausladung von Achille Mbembe durch die Ruhrtriennale 2020, zu welcher der aus Kamerun stammende, in Südafrika lebende und an vielen Orten des globalen Nordens lehrende Politologe den Eröffnungsvortrag beisteuern sollte, hat gewaltige Wellen geschlagen und eine bis heute dauernde Debatte über das historische und strukturelle Verhältnis von Kolonialismus (darunter subsummiert der Zionismus) zum Holocaust geführt. Die Begründung für die Ausladung waren Aussagen Mbembes, die als Relativierung des Holocausts zu verstehen waren, vor allem seine Übereinstimmung mit der palästinensischen BDS-Bewegung, die sich ihren Initialen entsprechend für den Boykott von Waren und Dienstleistungen israelischer Provenienz, für den Abzug von Investitionen und Sanktionen gegen den Staat Israel einsetzt.
Die auch in Europa aktiven BDS-Gruppen lehnen Einladungen jüdischer Künstlerinnen zu Auftritten bei Kulturveranstaltungen und wissenschaftlichen Konferenzen ab, ganz gleich, welche Position diese zur Politik des Staates Israel einnehmen. Auch Mbembe hatte 2018 erfolgreich Druck auf die renommierte Universität Stellenbosch ausgeübt, Shifra Sagy von einer Tagung zu streichen – eine jüdische Psychologieprofessorin, die gemeinsam mit palästinensischen Kollegen Traumaforschung an der Ben-Gurion-Universität betreibt und eine erklärte Gegnerin der israelischen Siedlungspolitik ist.
Diese nicht ganz nebensächliche Anekdote vermisst man in „Postkolonialer Antisemitismus?“, der akribischen Aufarbeitung der Causa Mbembe, die Micha Brumlik, langjähriger Leiter des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt und jetzt als Emeritus in Berlin lebend, vorgelegt hat. Man kennt den Autor als scharfzüngigen, stets unabhängig urteilenden Essayisten. In diesem Band erwartet einen allerdings eine eher trockene, bisweilen langatmig zitierende Dokumentation der Auseinandersetzung um Mbembe.
Dem Verfasser der „Kritik der schwarzen Vernunft“ und anderer postkolonialer Schlüsselwerke gehört durchgängig Micha Brumliks Sympathie, aber er bezichtigt ihn auch der Dämonisierung Israels. Wozu diese führt, belegt der erwähnte Fall Sagy, bei dem Mbembe eben keinen Unterschied machte zwischen einer israelkritischen Jüdin und der Siedlungspolitik der Regierung. Damit vollzieht Mbembe, der sich wortreich über seine eigene Ausladung beschwerte, selbst den Schritt vom Antizionismus zur Judenverachtung, weil er nicht unterscheidet zwischen dem, was (einzelne, auch mächtige) Juden tun und dem, wie sie (als Kollektiv) angeblich sind. Darin besteht der ganze Irrtum der identitären Welle, egal, ob sie sich links oder rechts wendet.
Die Ausladung, belegt Brumliks Kritik am Antisemitismusbeauftragten Felix Klein, war gleichwohl ein Fehler, denn Mbembe, den Veranstaltern und dem Publikum wurde die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit beschnitten. Souverän war übrigens Sagys Kommentar dazu in einem Interview: „Mbembe sollte nicht so behandelt werden, wie er uns behandelt hat. Akademische Freiheit ist ein hohes Gut. Ich kenne seine Arbeit nicht, aber er sollte das Recht bekommen, sie zu präsentieren. Boykott bringt uns grundsätzlich nicht weiter.“
Das Buch:
Micha Brumlik: Postkolonialer Antisemitismus? VSA-Verlag, Hamburg 2021. 160 Seiten, 14,80 Euro.
Das gilt natürlich auch für Aktionen des BDS, für die Brumlik großzügiges Verständnis aufbringt und damit die faktischen und normativen Berührungen zu Gruppierungen ignoriert, die er selbst mit Fug und Recht als antisemitisch unter dem Deckmantel des Antizionismus anklagt. Das pauschal als neue „McCarthyistische“ Kontaktschuld zu verbuchen, greift zu kurz.
Der Mbembe-Streit hat vor allem eines gezeigt: dass jede identitätspolitische Herangehensweise an den Nahost-Konflikt fatale, unhistorische Vergleiche und ahnungslose Gleichsetzungen nach sich zieht, mit denen die Kontrahenten den gordischen Knoten zerschlagen wollen. Es ist nun einmal so, dass (a) „Israel in Palästina“ (Dan Diner) unter anderem eine Folge des Holocausts war, (b) unter den Feinden Israels, nicht zuletzt unter einem erheblichen Anteil von Migranten in Europa, Judenhass blüht, und (c) Kritik an der Siedlungspolitik und drastischer werdenden Diskriminierungen der in Israel lebenden Araber angebracht ist. Jede Nahostpolitik muss alle drei Aspekte im Auge haben und dabei stets menschenrechtlich, humanitär und universalistisch argumentieren, was die Merkelsche Rede von der „Staatsräson“ der Deutschen, prinzipiell an der Seite Israels zu stehen, eher zudeckt. Der Kampf gegen den Antisemitismus in Europa selbst muss bedingungslos sein, gerade dort, wo Kampagnen wie gegen George Soros in den Visegrad-Staaten mit durchsichtiger Israel-Begeisterung einhergehen und der Schutz jüdischer Menschen sträflich vernachlässigt wird.
Brumlik geht im zweiten Teil seines Buches auf die Ambition des Postkolonialismus ein und kommt zurück auf die „erstmals von Hannah Arendt erörterte(n) Frage nach der Bedeutung des kolonialen Ausgreifens Europas nach Afrika für rassistische und totalitäre Politik in Europa.“ Micha Brumlik rekapituliert die europäische Ideengeschichte ebenso wie Berge von Literatur zu Kolonialismus, Sklavenhandel und beider rassistische Implikationen und landet bei den letztlich genozidalen Konsequenzen von Rassismus und Antisemitismus. Das liest sich stellenweise wie ein hölzerner Literaturbericht, eröffnet aber, anders als derzeit gängige Polemiken, die Gesamtproblematik in allen komplexen und widersprüchlichen Facetten.
Womit die entscheidende Frage angesprochen ist: Ob „die Förderung des Zionismus sowie die Gründung des Staates Israel nur unter kolonialen Vorzeichen möglich waren, oder ob schon diese Frage ein Fall von ,israelbezogenem Antisemitismus‘ ist, wie es unter anderem die Resolution des Deutschen Bundestages gegen die palästinensische BDS-Bewegung vom Mai des Jahres 2019 nahelegt.“ In einem wiederum mäandernden Durchgang durch die zeithistorische Forschung kommt Brumlik zu dem Schluss: Der Zionismus hatte kolonisierende Züge, unterschied sich dabei vom klassischen Kolonialismus, hatte aber für die indigene Bevölkerung analoge Wirkungen. Und es bleibt die Aporie, die zwei israelische Historiker im Mbembe-Streit betont haben: „Wir müssen die Geschichte erzählen, warum Juden vor Antisemitismus und Diskriminierung in Europa flohen und in Palästina einwanderten, und wir müssen die Geschichte erzählen, welche Konsequenzen dies für die Palästinenser in den letzten hundert Jahren hatte.“ Meistens wird nur eine Version erzählt. Auch wenn das Buch ein strikteres Lektorat verdient hätte, sticht es wohltuend aus der Kurzatmigkeit der Mbembe-Debatte heraus, die damit ad personam endlich geschlossen werden sollte.
Am Ende betritt Brumlik ein intellektuell brisantes Feld, die Frage der Singularität der Shoah. Frei nach Immanuel Kant: „Wer sich dessen versichern will, gerät unweigerlich in mindestens drei paradoxe Konstellationen, die offensichtlich nicht zu vermeiden sind: in ein Erkenntnisparadox, ein Darstellungsparadox und ein Handlungsparadox, also in Paradoxien der theoretischen, der ästhetischen und der praktischen Vernunft.“ Wer Singularität konstatiert, muss Vergleiche anstellen, wer die Shoah darstellt, fasst Unvorstellbares in Wort und Bild.
Brumlik unterstützt das von Michael Rothberg aufgestellte Theorem des „multidirektionalen Erinnerns“, das den Holocaust gewissermaßen vorwärts und rückwärts einordnet. Dieses modische „entanglement“ mag Kulturwissenschaftlerinnen faszinieren, bleibt aber gedanklich vage und realpolitisch steril.
Unter dem frischen Eindruck des Raketenbeschusses Israels durch die Hamas und der mörderischen Eskalation des Judenhasses in Deutschland hat Micha Brumlik noch ein Postskriptum angefügt, in dem er eine föderative Ein-Staaten-Lösung postuliert: „In dieser Form könnte der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern durch die neuartige Form einer staatlichen Föderation seine Lösung finden.“ Inshallah…