Letters from L.A., Teil 2: Lone L.A.

Von freiwilligen Außenseitern und denen, die unter 4 Millionen Menschen zum Alleinsein verdammt sind.
Einsamkeit zeitigt das Originale, das gewagt und befremdend Schöne, das Gedicht. Einsamkeit zeitigt aber auch das Verkehrte, das Unverhältnismäßige, das Absurde und Unerlaubte“, schrieb Thomas Mann im „Tod in Venedig“. Einsam kann sich in Los Angeles fühlen, wer jüngst wieder keine Einladung zu Thanksgiving oder Christmas bekommen hat, wenn halb Amerika unterwegs ist, um Familie und Freunde zu umarmen. Alleinsein ist endemisch in Los Angeles, wo unterdessen jeder dritte Haushalt aus einer einzigen Person besteht und schon vor Corona das Homeoffice üblich war.
„All the lonely people“ verbringen den größten Teil des Tages und in Summe ihres Lebens vor Excel-Tabellen, Zoom-Konferenzen, Dating Services, Serien mit einem Abstecher ins Drive-in, wo man während der Wartezeit Mails checken kann. Übertrieben? Nur die Hälfte der befragten Einwohner von Los Angeles gab laut einer repräsentativen Studie an, täglich eine „sinnvolle Interaktion“ zu erleben. Zur Abhilfe werden Kurse angeboten, die einem wieder das fußläufige Aufsuchen einer Bar beibringen; bis vor kurzem konnte man auch einen „People Walker“ mieten, der bei Bedarf mit einem spricht. Aber die App ist stillgelegt.
Wer zu Fuß geht, trifft Leute. Die Straßen von Los Angeles sind allerdings nicht für Flaneure gedacht und vor allem in ärmeren Gegenden komplett baum- und schattenlos. Risikogebiete im Süden und Osten, wo außer den Infektionen auch die Kriminalität sprunghaft gestiegen ist, meiden Angelinos. Doch besonders leer, um nicht zu sagen tot, wirken die superreichen Quartiere von Beverly Hills aufwärts; man passiert meterhohe blickdichte Hecken und Tafeln mit Warnungen, hier würden Eindringlinge eventuell beschossen.
Einsam und allein ist nicht dasselbe. Hollywood erhob den hardboiled detective, der alles auf eigene Kappe macht, zur Kultfigur, Marlene Dietrich sang „Einsam in Hollywood“. Die Fotografin Janet Sternburg ist im vergangenen Jahr mit ihrer Kamera durch die im Lockdown noch fußgängerärmere Stadt gezogen. Menschliche Wesen tauchen in ihrem unlängst erschienenen Fotoband „I’ve been Walking“ nur andeutungsweise auf; ihre Straßenfotografie erfasst vor allem, was aus der vermeintlichen Leere heraussticht und sonst wohl nur bei einem Spaziergang kurz nach Sonnenaufgang ins Auge fiele: Wildwuchs, Trash, liegen gebliebener Kram und erratische Objekte hinter Fensterscheiben, ein von Sternburg besonders gern gewähltes Motiv, weil durch die Spiegelung innen und außen ineinanderzufließen scheinen.
Die Abwesenheit von Menschen bringt stumme Objekte als übersehene Mitbewohner der Metropole zur Erscheinung. Sternburg verknüpft solchermaßen „unpersönliche“ Konstellationen wie eine Dichterin (die sie auch ist) zu abstrakt wirkenden Farbkontrasten und Schraffuren, die stets in Materie geerdet sind. Dieser planetare Blick kann dem dringend gesuchten Ausweg aus der Pandemie sicher guttun.
„All the lonely people“, wie der Beatles-Refrain aus „Eleanor Rigby“ geht, nannte sich eine Ausstellung in der Galerie Laxart zum 25-jährigen Bestehen der Villa Aurora, dem heute für Künstlerstipendien genutzten Exil von Lion und Martha Feuchtwanger in Pacific Palisades, das ungeachtet des lebhaften Betriebs heute noch als Eremitage und Sanktuarium bezeichnet wird. So hießen Archetypen selbst gewählter Rückzüge von Philosophen, Mönchen und Waldgängern in die Spiritualität beziehungsweise sichere Häfen für Verfolgte; radikal wird Solitude in der Erfahrung der Einzelhaft und im einsamen Sterben.
Die Ambiguität des „state of being alone“ (James Baldwin) kennzeichnet die bewusst gewählte Außenseiterposition von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern „in Einsamkeit und Freiheit“. Die Bildhauerin und Installationskünstlerin Andrea Zittel hat daraus in der Mojave-Wüste die Versuchsanordnung eines anderen Lebens gemacht, doch ihre die Laxart-Galerie einfassende Wandtapete zeigt, wie auch dieses Kunstparadies durch urban sprawl zugedeckt wird, die immer weiter in die Wildnis ausufernde Stadterweiterung.
Zur Sache
Janet Sternburg , „I’ve Been Walking. Los Angeles Photographs“, Distanz Verlag, Berlin, 2021, 144 Seiten, 40 Euro (in englischer Sprache).
„All the Lonely People“ , Laxart Gallery, Los Angeles: bis Februar 2022.
Im Lockdown ist Vereinsamung zu einer unfreiwilligen, oft krank machenden Conditio humana geworden. Besonders eindrucksvoll bezeugen das drei Videoarbeiten. Vajiko Chackkhianis „Life Track“ zeigt einen älteren Mann hinter einem geschlossenen Altbaufenster, der den Betrachter minutenlang fixiert, ohne dass man herausfinden kann, ob er die Kamera wahrnimmt oder nach innen schaut. Anri Salas „Uomoduomo“ beobachtet einen in der Kirchenbank des Mailänder Doms eingenickten, offenbar wohnungslosen Mann; er droht wegzukippen und richtet sich immer wieder jäh auf, ohne ganz aufzuwachen, während Gläubige und Touristen geschäftig an dem Außenseiter vorbeiziehen.
Solche Bilder tiefer Verlassenheit von Menschen außerhalb der Gesellschaft kontrastieren mit dem heiter stimmenden Video „Playing to the Birds“ von Annika Kahrs; ein Pianist spielt Liszts „Vogelpredigt des Franz von Assisi“ vor einem Publikum aus Singvögeln, die womöglich zuhören und sich vom Klavierspiel inspirieren lassen – oder völlig unbeeindruckt vor sich hin jubilieren. Aus dem Refugium der Musik kommt auch Susan Philipsz „Hermitage“, die Installation eines Edelstahlfasses, aus dem der orphische Gesang der schottischen Künstlerin erschallt. Diese zum Teil schon älteren Exponate treffen unsere Quarantäneexistenz eindringlicher als so manche im Lockdown hastig gefertigte Kunstwerke; selten war für künstlerische Produktion so viel Zeit, doch kam dabei viel auch „Unverhältnismäßiges und Verkehrtes“ heraus.
Es ist nun nicht so, dass sich in Los Angeles keine Menschenmassen mehr bildeten. Deren Ausgelassenheit oder Trauer schlug schon oft in Gewalt um, wie beim Aufstand im Stadtteil Watts 1965 und bei den Rodney King Riots 1992; auch die bei allem Zorn überwiegend friedlichen „Black Lives Matter“-Proteste im letzten Jahr endeten gelegentlich in Plünderungen und ziellosen Gewaltakten. Eine kollektive Aktion von Dauer wurde nicht daraus.
Die Protestanlässe haben sich unterdessen verschoben. Vor der City Hall wird jetzt gegen die Auflösung der wilden Camps der Wohnungslosen demonstriert, deren Zahl zwischen 40 000 und 70 000 geschätzt wird und während der Pandemie steil angestiegen ist. „Homes not Zones“ lautete da die Parole. Am selben Ort traf man dann auf Polizisten und Feuerwehrleute in Dienstkleidung, die an einem Arbeitstag samt Familien „Freedom & Choice“ gegen die Registrierungspflicht ihres Impfstatus reklamierten.
Welche Wahl soll das aber sein? Los Angeles ist ein exemplarischer Studienort der „Lonely Crowd“. In der Masse einsam sein: So umschrieb der Soziologe Georg Simmel eine spezielle Variante der Verneinung eines vorgestellten Daseins in Gemeinschaft als Aggregatzustand der Großstadt. Und David Riesman diagnostizierte 1950 unter dem Titel „Die einsame Masse“ den Paradigmenumschlag von der Produktion zum Konsum und damit vom innengeleiteten Menschen, der ein Leben lang an den Werten des Elternhauses festhält, zu einem durch Peer-Gruppen und Medien außengeleiteten Typus, der sich ganz an Erwartungen und Präferenzen anderer ausrichtet. Riesman fand dafür das treffende Bild, der Außenradar habe den inneren Kreisel als Orientierungsmuster abgelöst.
Die sozialen Netzwerke, mehr denn je die Orientierungskrücke der Zwangsvereinsamten, haben diese widersprüchliche Mischung aus Überanpassung und Hyperindividualismus noch einmal zugespitzt.
Claus Leggewie ist Ludwig-Börne- Professor an der Universität Gießen und aktuell Honorary Fellow am Thomas Mann House in Los Angeles.