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Israel: Lebensrettende Staatsgründung für die europäischen Juden

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Von: Micha Brumlik

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Zur Gruendung des Staates Israel wird am 14.05.1948 in Tel Aviv die israelische Staatsflagge gehisst. © akg-images

Roland Hirte und Fritz von Klinggräff bieten in ihrem Buch „Israel, Fragen nach/Europa.“ ein selten differenziertes Bild von Israel und des Zionismus.

Nicht zuletzt durch die Debatte über Achille Mbembes postkoloniale Kritik an der israelischen Besatzungsherrschaft im Westjordanland ist das, was als „Zionismus“ bezeichnet wird, wieder in die Kritik geraten – wie seit den späten 1970ern nicht mehr. Dabei ging und geht es – mit einer gewissen Berechtigung – immer nur um die Interessen der Palästinenser, während die Perspektiven jener, die als Jüdinnen oder Juden in Israel eine Heimat finden wollten, so gut wie unberücksichtigt bleiben. Diese Lücke in der historischen Erinnerung ist nun – spät genug – durch einen in jeder Hinsicht überzeugenden Band geschlossen worden.

Der von Roland Hirte – er ist Historiker und Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald – und Fritz von Klinggräff, seines Zeichens Publizist, zusammengestellte Band umfasst nicht nur eine Fülle von ihnen selbst erhobener autobiographischer Interviews höchst bekannter, aber auch unbekannter jüdischer Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, sondern auch Fotografien sowohl von Personen als auch von Orten und Dokumenten, die diese Erinnerungen in einer Weise plastisch werden lassen, wie das bisher noch nie zu sehen war.

Den nach dem Kriege in der Schweiz geborenen Autor dieser Zeilen hat insbesondere der Umstand berührt, dass und wie in Wort und Bild jener Überlebenden des KZ Buchenwald gedacht wird, die sich nach der Befreiung in Davos, Graubünden einer Kur zur Überwindung ihrer durch die Lagerhaft verursachten Gesundheitsschäden unterzogen haben – um dann, mehr oder minder genesen, nach Israel zu emigrieren.

Noch immer ist zu wenig bekannt, dass die Nationalsozialisten in Buchenwald auch Kinder einsperrten und misshandelten, Kinder, aber eben auch Jugendliche und junge Erwachsene: Menschen, die sich nach dem Krieg auf einem nahe gelegenen Hof, dem Gehringshof zusammenfanden, um sich dort – im „Kibbuz Buchenwald“ – auf ihre Auswanderung nach Palästina, ins Land Israel vorzubereiten. Moshe Kravec zum Beispiel war im Jahr 1945 gerade 13 Jahre alt und kam aus Dachau über Auschwitz auf einem „Todesmarsch“ nach Buchenwald, wo er am 11. April 1945 befreit wurde. Sein Vater und sein Bruder kamen dabei ums Leben, – er selbst gelangte noch vor der Staatsgründung nach Palästina.

Das Buch

Roland Hirte, Fritz von Klinggräff: Israel, Fragen nach/Europa. Wallstein Verlag. 660 S., 29,90 Euro.

In dem ihm gewidmeten Kapitel, das nicht nur ein anrührendes Gespräch, sondern ebenso ergreifende bildliche Dokumente – Fotografien, Ausweise sowie Abbildungen von Briefen – enthält, berichtet er von seiner Auswanderung. Ein Zweifel daran, dass er sein Leben genau dieser Auswanderung verdankt, ist nicht möglich. Und das dem Umstand zum Trotz, dass er sich nach Ankunft in Palästina schnell zur im Werden begriffenen israelischen Armee meldete. Jene Gruppe aber, die sich noch auf deutschem Boden als „Kibbuz Buchenwald“ zusammengefunden hatte, gründete in Israel einen Kibbuz, dem sie bald den Namen „Netzer Sireni“ – gab. „Netzer“ ist das hebräische Wort für einen gefällten Baum mit jungem Trieb. Der Zusatz „Sireni“ erinnerte an Enzo Sereni, einen Juden, der als Mitglied der britischen Streitkräfte von der Wehrmacht in Italien gefangen genommen und 1944 in Dachau ermordet wurde.

Die plastische Fülle dieser lückenlos dokumentierten Lebenszeugnisse macht ohne jeden Zweifel klar, dass und wie die israelische Staatsgründung für die zufällig Überlebenden des von Deutschen verübten Mordes an den europäischen Juden in jeder Hinsicht lebensrettend war. Vor diesem Hintergrund erweist sich die postkoloniale Kritik an der zionistischen Staatsgründung als eigentümlich stumm.

Im vollen Bewusstsein dieser Problematik enthält das von Hirte und Klinggräff verfasste Buch auch ein – um Bilder bereichertes – Gespräch mit der israelischen Historikerin Yfaat Weiss, Tochter des Holocaustüberlebenden Shevach Weiss, die gegenwärtig das Simon Dubnow Institut für jüdische Geschichte in Leipzig leitet. Weiss, die maßgebliche Arbeiten zur Flucht und Vertreibung der Araber aus Haifa verfasst hat, äußert sich in dem im Band dokumentierten Gespräch auch zur Kritik, dass der Zionismus ein Fall von Kolonialismus sei: „Selbstverständlich waren sich alle Zionisten, die sich mit der Besiedlung Palästinas beschäftigt haben, dessen bewusst, dass es sich um ein koloniales Unternehmen handelt...“ Gleichwohl zeigt sie sich skeptisch, dass derlei Ansätze mehr Erklärungskraft aufweisen als bereits bekannte Theorien.

Auch das im Band dokumentierte Gespräch mit der Tochter des Romanciers Amos Oz, der Ideenhistorikerin Fania Oz-Salzberger, die in Israel entschieden für einen Ausgleich mit den Palästinensern eintritt, ist dazu geeignet, grobschlächtige Einordnungen des Zionismus zu widerlegen. In einem theoretischen Beitrag am Ende des Bandes stellt der Historiker Dan Diner schließlich treffend fest, dass es sich beim Konflikt um Palästina um eine zwischenethnische Auseinandersetzung kolonialen Charakters handelt – was indes zur Zeit der israelischen Staatsgründung nur den Wenigsten bewusst gewesen sei.

Dem Rezensenten ist im Laufe der letzten Jahrzehnte kein anderes Werk untergekommen, das so umfassend, aber zugleich so differenziert darstellt, worum es bei Israel und dem Zionismus geht und warum und wie dieser Komplex mit der deutschen Geschichte im Zwanzigsten Jahrhundert unlöslich verbunden ist. Darum sei dieser vorzügliche Band allen, die sich ein umfassendes und nicht simplifizierendes Bild des sog. „Nahostkonflikts“ machen wollen, eindringlich empfohlen.

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