Le Pen vor der Stichwahl in Frankreich: Unsichtbare Geister

Marine Le Pen nutzt es wirkungsvoll aus: Das Thema Algerienkrieg spielte im Wahlkampf in Frankreich kaum eine Rolle, könnte die Stichwahl aber mehr als nur am Rande beeinflussen.
Paris – „Die Ethnologie ist immer eine Überraschung wert!“ verkündete jüngst eine Veranstaltungsreihe des Pariser Musée du Quai Branly. Der Psychoanalytiker Tobie Nathan überraschte sein Publikum, als er in einem ethnologischen Parforceritt die Djinn mit dem Covid-19-Virus zusammenbrachte, der genauso von uns Besitz ergriffen habe wie jene unsichtbaren Geister. Womit die cartesianische Polarität von Natur und Kultur wieder einmal wankte und die Arroganz des Homo sapiens demütiger Bescheidenheit Platz machen müsste. Das Virus ist ein unsichtbares Anderes, das wir weder ignorieren noch besetzen können. Es besitzt uns, wir werden eins mit ihm.
Das „Unsichtbare“ war Generalthema einer Reihe im Branly-Museum – spaziert man an der Seine einige Kilometer weiter zum Institut du Monde Arabe (IMA), stößt man auf eine kulturelle „Invisibilität“: Algerien. Dessen kaschierte Allgegenwart belegen zwei sehenswerte Ausstellungen.
Stichwahl in Frankreich: Bilder aus dem fragilen algerischen Kunstbetrieb
„Algérie mon amour. Artistes de la fraternité algérienne 1953-2021“ demonstriert an Arbeiten von 18 algerischen Künstlern und Künstlerinnen aus drei Generationen die Dekolonisierung der bildenden Künste. Als 1962 gegen den fortgesetzten Austausch der Kunstschaffenden die ultrakoloniale OAS das Musée National des Beaux-Arts in Algier bombardierte, mussten 300 Exponate ins „Mutterland“ gerettet werden, bis der Kunstbetrieb auch in Algerien aufgenommen werden konnte.
Besonders spannend ist der Fokus auf Künstlerinnen, von der Autodidaktin Baya, Vertreterin der „Generation 1930“, bis zur 1988 geborenen El Meya. Beeindruckend sind die vielfältigen Darstellungen von Frauen, etwa die von Souhila Bel Bahar oft variierten „Femmes d’Alger“ nach dem Gemälde Eugène Delacroix’, das auch Picasso faszinierte.
Algerische Frauen sind, wie der Schriftsteller Kamel Daoud in der Parallelausstellung „Son œil dans ma main. Algérie 1961-2019“ Fotografien von Raymond Depardon kommentiert, noch heute im unabhängigen Algerien eine Art „öffentliches Gut“, kontrolliert von Vätern, Brüdern und Cousins. Depardon hat sie ins Zentrum seiner Aufnahmen gerückt, als junger „Kriegsreporter“ 1961 und 2019 im faszinierenden Dialog mit Daoud in Algier und Oran.
Darin erblickt Daoud eine geglückte Überwindung der üblichen Szenen der kolonialen Herren und der kolonisierten Untertanen, die sich rasch als die neuen Patriarchen etablierten. Die Moudjahedins (alten Kämpfer) diktierten eine offizielle Gedächtniskultur, die der 1970 in Oran geborene Daoud endlich abschütteln möchte: Nur wenn man ein Lächeln und Freude einfange wie Depardon, könne man die Aura des Todes überwinden, die über Algerien bis heute laste.
Im „schwarzen Jahrzehnt“ der 1990er mussten auch Künstler und Künstlerinnen vor der militanten Kunstfeindschaft der Islamisten wieder ins Exil fliehen. „Le Jardin des Moines“, ein Diptychon Abderrahmane Ould Mohands von 1997, zeigt einen bunten, mit Speisen und Getränken beladenen Tisch, verlassen von den damals im Kloster Tibhirine abgeschlachteten Mönchen.
Frankreich-Wahl: Le Pen und Zemmour setzen auf die gleiche Karte
Auch wenn Algerien im Wahlkampf um die Präsidentschaft kaum erwähnt wurde, bleibt es im Hintergrund präsent. Amtsinhaber Emmanuel Macron hat den in der Kolonie geborenen Zeithistoriker Benjamin Stora mit Vorschlägen zur Aussöhnung mit Algerien beauftragt. Doch hat sich der Präsident, der den Kolonialismus deutlicher als alle Vorgänger als Verbrechen eingestuft hat, auf die Rehabilitation zweier Schlüsselfiguren beschränkt: Maurice Audin, ein der kommunistischen Partei angehöriger Mathematikdozent französischer Herkunft, der 1957 während der „Schlacht um Algier“ von Fallschirmjägern zu Tode gefoltert wurde, und der algerische Anwalt Ali Boumendjel, der dasselbe Schicksal erlitt. Der algerischen Regierung war das zu wenig, wobei anzumerken ist, dass auch sie Akten nur zögerlich freigibt und krampfhaft am Mythos des einmütigen Widerstands festhält.
Macron nimmt Rücksicht auf die „nostalgériens“, Nachfahren der pieds-noirs titulierten Algerienfranzosen, die sich nach ihrem Massenexodus vor allem in Südfrankreich angesiedelt haben und dort auch nach 60 Jahren einen beachtlichen Wählerblock für Marine Le Pen bilden. Wie ihr Vater verwandelt sie die so empfundene Schmach der Niederlage 1962 in ein dauerhaftes antiarabisches, dann antiislamisches Ressentiment.
Austellungen
Die Ausstellungen im IMA laufen bis 17. Juli („Son œil dans ma main“) bzw. 31. Juli („Algérie mon amour“). www.imarabe.org
Frankreich-Wahl: Le Pen beschimpft Macron
Macrons vorsichtige Einsicht beschimpfte Marine Le Pen als „verheerende Signale der Reue, der Spaltung und des Selbsthasses“, Eric Zemmour, der aus einer jüdisch-algerischen Familie stammt, überholte sie noch mit der Rechtfertigung der in Algerien systematisch angewandten Folter, und die bürgerliche Kandidatin Valérie Pécresse reklamierte den Schlussstrich. Dieser „sudisme“ (Stora) überträgt frühere oder heutige, wahre oder eingebildete Benachteiligungen in ein rassistisches Weltbild, das weit in Bürgertum, Arbeiterschaft und Angestelltenmilieu reicht und die Stichwahl entscheiden kann.
Derartige Geschichtsklitterungen werden in Algerien verärgert registriert; sie führen außer zur Idolisierung des Nationalismus der Alten zur Auffrischung antifranzösischer Stimmungen unter den Jungen, auch in der Demokratiebewegung Hirak. Unter den Tisch fallen jene Seiten des Algerienkrieges, die endlich eine ausgewogene Betrachtung verdienten: die schmähliche Behandlung der Harkis, der algerischen Hilfstruppen, der wahllose Terror der algerischen Befreiungsbewegung gegen unschuldige pieds-noirs und die unbestreitbaren Härten ihres Exodus, das Schicksal der ebenfalls aus dem „antizionistischen Frontstaat“ vertriebenen Juden.
Nicht zuletzt erinnert die Historikerin Raphaelle Branche an die Traumatisierung junger französischer Wehrpflichtiger, die damals in einen regelrechten Vernichtungskrieg geschickt wurden, der als „Spezialoperation“ verharmlost wurde. Dazu gehörte der ungesühnte Einsatz chemischer Waffen. Solche Geister haben nicht nur Frankreich besetzt. (Claus Leggewie)
Claus Leggewie
Der Autor ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen. Soeben erschien sein Buch „Reparationen. Im Dreieck Algerien Frankreich Deutschland“ im Verlag Donata Kinzelbach, Mainz.