Künstliche Intelligenz: Es denkt

Eine kurze Geschichte der Philosophie zum Verhältnis von Ich und Bewusstsein.
Das Sonnenklare erregt das größte Misstrauen des Philosophen. So war es schon in alten Zeiten, als Sokrates, der Plagegeist, den Athener mit bohrenden Fragen in tiefe Verzweiflung stürzte. Was ist Tugend? Wird sie vererbt? Oder ist sie lehrbar? Mit der beginnenden Neuzeit konzentrierte sich das Fragen auf einen letzten, unbezweifelbaren, einen archimedischen Punkt. An ihm wollte man das ganze Universum aufhängen. Und als solcher galt das Ich. René Descartes, ein mathematisches Genie, fand die Existenz des Ich „unbezweifelbar“. Sogar die Mathematik, die auch in der Gegenwart als exakteste Wissenschaft gilt, könne es an Gewissheitsgraden nicht mit dem ego cogito aufnehmen.
Auch wenn das Programm ChatGPT noch als „dumm“ bezeichnet wird, da es wissenschaftliche Quellen „halluziniere“, rüttelt die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz an einer alten philosophischen Frage: Wer denkt? Das Ich? Oder ein Es? Oder ist das gar kein Denken, das die Maschinen vollziehen? Die Antworten der Philosophie könnten nicht unterschiedlicher sein.
Der Urvater der Ich-Theorie, Descartes, stieß mit seinen Zweifelsbetrachtungen eine ganze Reihe philosophischer Untersuchungen an. Für Gottfried Wilhelm Leibniz schien die Annahme eines Ich zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch evident zu sein. Doch schon einer der scharfsinnigsten Aphoristiker der Epoche der Aufklärung, Georg Christoph Lichtenberg, fragte, warum es überhaupt „Ich denke“ heißen solle. Müsse es nicht vielmehr „Es denkt“ lauten, wie „Es blitzt“. Denn Denken sei kein Prozess, der ein Ich voraussetze.
Der Schotte David Hume war ein Essayist und reflektierter Kopf, aber eher kein typischer akademischer Philosoph. Er war Mitte 20, als er ein umwerfendes Werk schrieb: „Ein Traktat über die menschliche Natur“. Hume galt als exzellenter Beobachter und lieferte eine glänzende Theorie des Empirismus. Das Denken des Menschen vollzog sich aus seiner Sicht in Form von Assoziationen. Auf die Frage, welche Rolle das Ich dabei spiele, schrieb er lapidar: Dieses sei nur ein Bündel voller Vorstellungen. Wenn wir bewusst unseren Vorstellungen folgen, sei die Annahme eines Ich eigentlich überflüssig. Die Wirksamkeit von Hume war immens. Immanuel Kant wurde nach seinen eigenen Worten durch den schottischen Denker aus seinem „dogmatischen Schlummer“ gerissen. Kant ackerte zehn Jahre lang, er publizierte keine einzige Schrift in dieser Zeit, bevor er die „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 als Antwort auf Humes Einwürfe vorlegte. Dieses Werk veränderte die philosophische Realität radikal. Die Metaphysik war an ihr Ende gekommen, Kant wurde ein „Alleszermalmer“ genannt. Er wollte durch eine Kritik des Erkenntnisvermögens zeigen, was wir überhaupt wissen können. Das Ergebnis: Wir können nur das erkennen, was uns unsere Sinne präsentieren. Allerdings gehört das Denken unlösbar dazu.
Wenn ich meine Vorstellungen nicht durch das „Ich denke diese oder jene Vorstellung“ begleiten kann, existieren diese mentalen Inhalte für mich folglich auch nicht. Das „Ich denke“ sei der höchste Punkt unseres Erkenntnisvermögens. Es ist für ihn also kein anonymer Prozess, wie Lichtenberg es annahm. Denken besteht nach Kant in bewussten Urteilsvollzügen, die den Gebrauch von Begriffen voraussetzen. Wenn wir Menschen die Welt erkennen, haben wir immer schon begriffliche Strukturen mit im Spiel, mit denen wir die Einzeldinge verorten, und ein Ich, das diese Begriffe in Aussagen verbindet.
Für Friedrich Nietzsche ist die Rede vom Ich hingegen nur ein Wortspiel. Der Physiker Ernst Mach nannte das Ich gar „unrettbar“. Der britische Denker Bertrand Russell findet wie Lichtenstein, man solle eher „Es denkt“ sagen. Die Annahme eines Egos sei für die mentale Prozesse überflüssig. Für Jean-Paul Sartre ist das Ich nur ein horizonthaftes Gegenwärtigen von uns selbst in unseren Vorstellungen.
Auch Vertreter der Philosophie des Geistes halten nicht viel von der Rede vom Ego. „Das Ich ist das Gehirn“, erklärt etwa Daniel Dennett. Alle genuin mentalen Prozesse sind für ihn rein materiell. Für Adorno und Habermas erübrigt sich die Rede vom Ich aus gesellschaftlicher oder kommunikationstheoretischer Perspektive. Für Edmund Husserl ist das Festhalten an einem Ego hingegen unumgänglich. Klar ist nur: Das „Ich“ bleibt Jahrhunderte nach Descartes‘ Betrachtungen ganz unabhängig von einer KI wie ChatGPT ein Rätsel.