Klimakatastrophe und Protest: Kraft aus der existenziellen Bedrohung

Eine Generation stellt von Selbstentfaltung auf Selbsterhaltung um.
In dem britischen Film „Das Dorf der Verdammten“ aus dem Jahr 1960 kommt es nach einem mysteriösen Blackout in mehreren Familien zu unverhofften Schwangerschaften. Nach den zeitgleichen Geburten reifen die Kinder schnell heran und erweisen sich bald als verschworene Gruppe. Die durchweg blonden Kinder scheinen die Brut einer außerirdischen Macht zu sein, die durch die immer herrischer werdenden Kleinen die Kontrolle über die Welt der Erwachsenen gewinnt. Es gehört zur Pointe des subtilen Horrorfilms, dass hinter der scheinbaren Verletzlichkeit der Kinder eine undurchdringliche Herrschaft lauert, während die leiblichen Eltern sich lange zu erkennen weigern, in ihren trauten Eigenheimen das personifizierte Böse großzuziehen.
Okay, es ist ein bisschen unfair, die dystopischen Filmfiguren mit den jungen Protagonisten der sogenannten „Letzten Generation“ zu assoziieren. Was dem Rest der Gesellschaft als lästige Ungezogenheit erscheint, tritt ja im Anspruch emphatischer Sorge auf. Blockieren, schmieren und kleben für eine letzte Chance auf Zukunft. Während die schrecklichen Kinder aus dem englischen Nest Midwich als niedliche Monster erscheinen, erinnern die jungen und mitunter nicht ganz so jungen Klimaprotestierer an ein frühes Album der Band Tocotronic: „Wir kommen, um uns zu beschweren“.
Die Forderungen der „Letzten Generation“ jedenfalls stehen in einem erstaunlichen Widerspruch zu ihren Protestformen. Die Neuauflage des 9-Euro-Tickets und die Einführung eines Tempolimits von 100 km/h auf deutschen Autobahnen sind als politische Blitzreaktion zwar unwahrscheinlich, in absehbarer Zeit aber durchaus denkbar. Hinter der trotzig-abweisenden Maske der „Letzten Generation“ verbirgt sich ein realpolitisches Gesicht.
Kinder der Apokalypse
So oder ähnlich sieht es auch der Berliner Soziologe Philipp Staab, der davon ausgeht, dass die jungen Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen dereinst als Generationenelite rekonstruiert werden können. Wer freitags nicht zur Schule geht und mit Kartoffelbrei Museen stürmt, gehört soziologisch betrachtet einer aufstiegsorientierten Kohorte an. Die Kinder der Apokalypse, so Staab, zeichnen die Zukunft als Dystopie und gewinnen – darin ähneln sie vorangegangenen Protestgenerationen – aus der existenziellen Bedrohung ihre Mobilisierungskraft.
Was sie von vergleichbaren sozialen Bewegungen – den 68ern und den Grünen – indes fundamental unterscheidet, ist ihre Bereitschaft zur Anpassung, in diesem Fall die radikale Orientierung an den Erfordernissen einer zerstörerischen Klimaentwicklung. Aus den Freiheitsversprechen der Selbstentfaltung sollen Strategien der Selbsterhaltung werden. Wie kann eine Gesellschaft aussehen, so fragt Staab in seinem Buch zur Anpassung als Leitmotiv der nächsten Gesellschaft (Edition Suhrkamp), „die sich mit Nachdruck vom Fortschrittbegriff verabschiedet? (…) Mit welchen spezifischen Versprechen auf ein gelingendes Leben kann eine wirklich adaptive Gesellschaft aufwarten?“ Die Risiken, die die Klimaprotestler in Kauf zu nehmen gewillt sind, bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Demokratisierung und Entdemokratisierung, selbst wenn sie nicht gleich auf eine selbstherrlich ersehnte Klimadiktatur zulaufen.
Vielmehr steuert die Rebellion der Anpassung auf eine protektive Technokratie zu, die die quälende Langsamkeit demokratischer Entscheidungsfindung überwinden will. Dabei erweist sie sich als erstaunlich wissenschaftsgläubig. Während die 68er durch ein hochgradiges Misstrauen in eine Herrschaft reproduzierende Universität geprägt waren, zeichnet sich die Klimaprotestbewegung durch ein immenses Wissenschaftsvertrauen aus, das etwa in dem Slogan „Listen to Science“ oder in Kooperationen mit dem Zusammenschluss Scientists for Future zum Ausdruck kommt.
Bei aller Skepsis gegenüber radikalen Aktivitäten in den urbanen Zentren rehabilitiert Philipp Staab die in den letzten Jahrzehnten schlecht beleumundeten Begriffe Anpassung und Opportunismus. Anstatt bloß auf konformistische Verhaltensweisen festgelegt zu sein, wird es in den forcierten Krisen der Risikogesellschaft darauf ankommen, die Fortschritts- und Lebenschancen im Rahmen möglicher Bedingungen zu erschließen. Genau das meint ja die überwiegend pejorativ verwendete Vokabel „opportunistisch“.
Wir durchlaufen gerade verschiedene Formen von Anpassungskrisen, denen wir mal mit Kontaktvermeidung (in der Pandemie) und mal durch das Drosseln der Heizung (in der Energiekrise) zu begegnen versuchen. Dabei sind wir – gemeinsam mit den Klimakindern – längst unterwegs in einer adaptiven Gesellschaft.