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Ob Twitter oder Bücher: Wie soll man mit Lektüre umgehen, die einen wütend macht

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Von: Kathrin Passig

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„Mir bleibt nichts anderes übrig, als zwischen zwei Witzen auch das Unlustige zur Kenntnis zu nehmen.“
„Mir bleibt nichts anderes übrig, als zwischen zwei Witzen auch das Unlustige zur Kenntnis zu nehmen.“ © Olaf Wagner/Imago

Ich soll freiwillig Dinge lesen, die mich wütend machen? Da schaue ich lieber Erdferkelfotos an - zumindest zwischendurch.

Frankfurt - Im Sommer 2021 ging es in dieser Kolumne darum, dass ich die schlechten Nachrichten bei Twitter nur noch schwer aushalte. Sie handeln alle von berechtigten Anliegen, aber ihre Menge überfordert mich. Seitdem bin ich zuerst auf möglichst harmlose Romane, dann auf Rohrreinigungsvideos bei Youtube und zuletzt auf einen Onlinekurs in einer maximal unnützen Sprache ausgewichen, nur um nicht so viel bei Twitter reinsehen zu müssen.

Etwas später merkte ich beim Betrachten meiner gekauften und angefangenen, aber nicht weitergelesenen Sachbücher, dass sich das Problem nicht auf Twitter beschränkt. Bei Büchern über Missstände und Ungerechtigkeiten komme ich selten über den Anfang hinaus. Nicht weil die Bücher schlecht wären, sondern weil ich vor Ärger nicht weiterlesen will. Zuerst beschuldigte ich die schwierigen Zeiten. Aber eigentlich konnte ich schon lange vor Donald Trump, Corona und rechtsextremen Aufmärschen nicht mit Lektüre umgehen, die mich wütend macht.

Ist der Feed wie ein Glücksspielautomat?

Da ich nicht die Einzige bin, die weniger gut als früher mit den selbst gewählten Nachrichtenströmen zurechtkommt, kann man seit Jahren überall Ratschläge für einen bewussteren und selbstbestimmteren Umgang lesen. Der „gedankenlose“ Konsum der vom Newsfeed vorbeigetragenen Schnipsel sei eine schlechte Angewohnheit. Von Dopamin ist oft die Rede: Der Feed sei wie ein Glücksspielautomat, der uns durch lustige Inhalte oder Herzchen an unseren eigenen Beiträgen ständige kleine Belohnungen verschafft, so dass wir nicht aufhören können, den Hebel immer wieder zu betätigen. Gesünder und produktiver sei es, sich aktiv auf die Suche nach Informationen zu machen, selbst ausgesuchte Themen eigenständig zu recherchieren, Zeitungsartikel und Bücher zu lesen statt Kurznachrichten.

Klingt erst mal einleuchtend und vernünftig. Das Problem ist auch gar nicht, dass ich die eigenständige Recherche durch den jahrelangen Schnipselkonsum verlernt hätte. Aber die selbst ausgesuchten Themen, in die ich mich vertiefe, sind immer nur Rohrreinigung, Polarexpeditionen oder die Kulturgeschichte des Schraubenziehers. Wenn ich Bücher über Ungerechtigkeiten und Missstände lese, dann nur über vergangene, harmlos gewordene. Meinen eigenen Vorlieben überlassen finde ich selten etwas über die verändernswerten Aspekte der Gegenwart heraus.

Die Ratschläge für einen bewussteren Umgang mit Informationen sind also – jedenfalls für mich – Ratschläge zum Wiederaussperren der Welt. Bei Twitter ist nicht alles gut, aber wenigstens brauche ich dort nicht extra zu beschließen, dass ich mehr über die hier und jetzt existierenden Probleme herausfinden möchte. Vielleicht ist das bei anderen Menschen besser eingerichtet, ich jedenfalls kann mich nur schwer freiwillig zum Lesen von Ärgerlichem entschließen, schon gar nicht, wenn von Anfang an zu sehen ist, dass das Thema 300 Buchseiten füllt. Wenn ich mich doch mal dazu durchringe, reichen meine guten Vorsätze nur für die ersten 30 Seiten. In kleinen Dosen und verdünnt mit anderen Themen halte ich die unangenehmen Nachrichten besser aus. Auf diese Art lerne ich versehentlich Dinge, die ich lieber gar nicht so genau wissen wollte. Weil ich langsam und immer wieder unterbrochen von Erdferkelfotos davon erfahre, ist meine Wut über die Verhältnisse besser zu handhaben.

Beruhigende Accounts sind nötig

Eine Tageszeitung, könnte man jetzt einwenden, leistet genau das. Aber ich bin in einem Haushalt mit zwei Tageszeitungen aufgewachsen und weiß daher, dass ich leider ausgezeichnet dazu in der Lage bin, die Zeitungsbestandteile mit den schwierigen und unerfreulichen Nachrichten auszusortieren und direkt zur Rubrik „Großmutter rettet Krokodil aus Kanalschacht“ vorzublättern. Ich weiß außerdem, dass ich die Kunst, Zeitungen gar nicht erst zu abonnieren, genauso exzellent beherrsche wie die, ärgerliche Sachbücher nicht zu kaufen. Nur wenn alle Nachrichten gründlich im selben Strom untereinander und mit den Nachrichten aus dem Leben der mir wichtigen Menschen vermischt und außerdem unüberblätterbar kurz sind, bleibt mir nichts anderes übrig, als zwischen zwei Witzen auch das Unlustige zur Kenntnis zu nehmen.

Es darf nur nicht ganz Twitter gleichzeitig in Flammen stehen, man braucht – oder ich brauche jedenfalls – dazwischen viele beruhigende Accounts, die nichts anderes als Tierbilder, von Bots erzeugte Gedichte und Berichte aus dem Innenleben zerlegter historischer Technik beitragen. Was fehlt, ist vielleicht einfach nur ein Schieberegler, mit dem ich in besonders schwierigen Wochen den Erdferkelanteil manuell erhöhen kann. (Kathrin Passig)

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