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Kampf gegen die rollende Lawine

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Von: Sandra Danicke

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Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hatte dem Künstler-Kollektiv Ruangrupa Einseitigkeit vorgeworfen.
Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hatte dem Künstler-Kollektiv Ruangrupa Einseitigkeit vorgeworfen. © Martin Müller/Imago (Archiv)

Endlich: Ruangrupa reagiert detailliert auf Antisemitismus-Vorwürfe.

Die Antisemitismusvorwürfe gegen Ruangrupa, das Kuratorenkollektiv der Documenta 15, haben eine Eigendynamik entwickelt, die in ihrer Vehemenz erschreckend und in weiten Teilen nicht nachvollziehbar erscheint. Zuletzt irritierte die Gruppe selbst, als sie ein angekündigtes Diskussionsforum zum Thema wieder absagte. Vorausgegangen war ein Brandbrief von Josef Schuster an Kulturstaatsministerin Claudia Roth, in dem der Vorsitzende des Zentralrats der Juden dem Kollektiv Einseitigkeit vorwarf: „Die Ausrichtung der Podien hat für mich eine eindeutige Schlagseite zugunsten des Antisemitismus“, so Schuster. Einige Experten und Expertinnen sollen daraufhin ihre Teilnahme am Panel abgesagt haben, und Ruangrupa cancelte die Veranstaltung mit der hilflos anmutenden Begründung: Man wolle die Ausstellung für sich sprechen lassen.

Jetzt hat das Kollektiv mit einem Brief erstmals detailliert Stellung bezogen und sämtliche Anschuldigungen entschieden zurückgewiesen: „Wir weigern uns, die böswilligen Versuche zu akzeptieren, Künstler aufgrund ihrer ethnischen Herkunft und vermeintlichen politischen Positionen zu delegitimieren und präventiv zu zensieren. Es war nie geplant, auf der documenta fünfzehn Veranstaltungen mit der palästinensisch geführten BDS-Bewegung (Boycott Divestment Sanctions) durchzuführen.“

Die Vorwürfe, so der Brief, stammten womöglich von einer einzelnen Person, die hinter dem Blog „Bündnis gegen Antisemitismus“ zu stehen scheine und „Verbindungen zu einer extremistischen Splittergruppe hat“.

Fakt ist, dass die Vorwürfe gegen eine Künstlergruppe, die zur Documenta eingeladen worden war, im Detail mehr als dürftig sind. Beschuldigt wurde das palästinensische Kollektiv The Question of Funding (TQoF), dessen Nähe zu BDS und einem Kulturzentrum angeprangert wurde, das nach dem palästinensischen Pädagogen Khalil Sakakini benannt ist. Dessen Etikettierung als glühender Antisemit darf man zumindest infrage stellen. Die Gleichsetzung von BDS-Nähe mit Antisemitismus ist darüber hinaus mindestens unseriös.

„Der Versuch, einzelne palästinensische Künstler als Antisemiten zu diffamieren, sei es direkt oder durch ,guilt by association‘, ist genau die Art von Rufmord, die im rechtsextremen und rechten Diskurs häufig anzutreffen ist“, so Ruangrupa. „Dass solche Anschuldigungen von einer ,Allianz‘ erhoben wurden, die sich auf dilettantische Internetrecherchen und Fehlinformationen stützt, ist schon bedauerlich genug. Noch schlimmer ist, dass diese Behauptungen von führenden deutschen Zeitungen unkritisch übernommen wurden.“ Tatsächlich hatte eine ganze Reihe von Journalisten, unter anderem Thomas E. Schmidt in der „Zeit“, die Vorwürfe übernommen – und damit eine Lawine losgetreten, gegen deren Wucht sich die Documenta-Macherinnen und -Macher seit Wochen stemmen müssen.

Das Schreiben von Josef Schuster „begrüßen“ die darin Beschuldigten „als Beitrag zur öffentlichen Debatte und nehmen die darin geäußerten Bedenken ernst“. Die Kommunikation mit dem Zentralrat der Juden sei aus ihrer Sicht allerdings anders abgelaufen, als von diesem verbreitet. „Entgegen den Behauptungen wurde der Geschäftsführer des Zentralrats im März 2022 in einem ausführlichen Gespräch über die Absicht und Konzeption der Gesprächsreihe informiert.“ Man habe das Forum nach bestem Wissen so zusammengestellt, dass ein breites Spektrum berücksichtigt worden sei. Offizielle Vertreter:innen von Religionsgemeinschaften, Parteien und Verbänden habe man bewusst nicht eingeladen. Dies sei nicht Aufgabe einer Kunstinstitution.

Geplant war allerdings, Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Perspektiven zu Wort kommen zu lassen – „auch solche, die der offiziellen Position des Zentralrats entsprechen und zum Teil auch institutionell mit dem Zentralrat verbunden sind“.

Beide Seiten anhören

Neben diesen hatte man aber auch jenen Menschen ein Podium bieten wollen, die von den Anschuldigungen direkt betroffen seien. Es sei jedoch, so Ruangrupa, „in Deutschland offenbar schwierig, beide Perspektiven – die von Antisemitismus und die von antimuslimischem und antipalästinensischem Rassismus betroffene – ins Gespräch zu bringen“. „Da die realen Probleme der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzung nicht diskursiv in Diskussionsrunden in Deutschland gelöst werden können, können wir auch Widersprüche in der Bewertung dieser Besatzung und des Widerstandes dagegen nicht auflösen. Diese Widersprüche müssen ausgehalten werden, sonst wäre eine Diskussion von vornherein eingeschränkt, so dass sie ihren Namen kaum verdienen würde.“

Bedenklich an der Geschichte ist nicht nur, wie schnell sich einmal erhobene Vorwürfe selbstständig machen, sondern auch die Tatsache, dass man damit den so wichtigen Kampf gegen Antisemitismus auf perfide Weise untergräbt. Die Documenta und ihr Versuch einer offenen Debattenkultur sind jetzt schon beschädigt.

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