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John Rawls zum 100. Geburtstag: Ein akademischer Philosoph als öffentlicher Intellektueller

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Von: Otfried Höffe

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John Rawls 1987 in Paris.
John Rawls 1987 in Paris. © Gamma-Rapho via Getty Images

Ein Doppeljubiläum auch für die Gesellschaft: Vor 50 Jahren erschien „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls, der am 21. Februar 1921 geboren wurde. Eine Würdigung von Otfried Höffe

Mit seiner vor 50 Jahren erschienenen Schrift „A Theory of Justice“, zu Deutsch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, hat der 50 Jahre zuvor, am 21. Februar 1921 geborene John Rawls eine hochakademische Studie verfasst. Sie, dem Umfang nach ein „gelehrter Wälzer“, stellt die politische Philosophie und Ethik auf eine radikal neue Grundlage.

In kompromisslos scharfem Gegensatz zu dem damals in der Anglophonie vorherrschenden Utilitarismus, zu dessen Prinzip vom „größten Glück der größten Zahl“, vertritt der Philosophieprofessor der Harvard Universität, von Kants Idee der Autonomie inspiriert, eine vertragstheoretische Auffassung der Gerechtigkeit. Ihr zufolge besitzt „jeder Mensch eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann“.

Rawls präzisiert diese Grundidee in zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen. Nach dem ersten, dem Prinzip der größten gleichen Freiheit, besitzt jeder Mensch Rechte, die auch durch ein noch so großes kollektives Glück nicht verletzt werden dürfen. Der zweite Grundsatz erlaubt zwar soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, diese aber nur unter zwei Bedingungen: dass (a) sie zu jedermanns Vorteil dienen – genauer, so das Unterschieds- oder Differenzprinzip, die am wenigsten Begünstigten besonders gut dastehen lassen – und (b) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem Menschen offenstehen.

Im Laufe seines an Themen, Begriffen und Argumenten reichen Oeuvres zeigt Rawls vor allem bei zwei Gegenständen, wie man sowohl ein strenger Philosoph als auch ein politischer Intellektueller sein kann. Wesentlich ist dabei das Sowohl-als-auch.

Rawls steigt ausdrücklich nicht direkt in die politische Arena. Statt zwei Rollen zu übernehmen, gelegentlich die des politischen Intellektuellen, in der Regel aber die des akademischen Philosophen, bleibt er bei politisch brisanten Themen stets seinem Universitätsamt und dessen Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit treu: Rawls ist ein politischer Intellektueller ausschließlich als akademischer Philosoph.

Das erste Thema war durch die US-Debatte um den Vietnamkrieg politisch dringlich geworden. Rawls abstrahiert jedoch von konkreten Zeitumständen und erörtert die allgemeinere Frage, ob Bürger jedem von ihrer rechtmäßigen Legislative erlassenen Gesetz gehorchen müssen. Zur Diskussion steht für ihn dabei nicht ein beliebiger, eventuell autoritärer oder sogar tyrannischer Staat. Er interessiert sich lediglich für ein Gemeinwesen, das im Prinzip als gerecht gelten kann, für die konstitutionelle Demokratie. Der entsprechende Ungehorsam richtet sich also nicht gegen die Verfassung, sondern allein gegen ein in ihrem Rahmen erlassenes Gesetz.

Offensichtlich können auch demokratische Verfahren ungerechte legislatorische Entscheidungen nicht verhindern. Nur für diese Möglichkeit wirft Rawls die Frage nach der eventuellen Berechtigung von „civil disobedience“ auf. Nur in Klammern: „civil“ ist hier besser mit „staatsbürgerlich“ als wie üblich mit „zivil“ zu übersetzen. Staatsbürgerlicher Ungehorsam also, denn im Ausdruck „civil“ klingt hier weniger der Gegensatz zu „militärisch“ als die „civil society“, das politische Gemeinwesen, der Staat, an.

In seiner Antwort auf die Frage lehnt Rawls zunächst zwei einander entgegengesetzte Ansichten als falsch ab: Weder ist die Ungerechtigkeit eines Gesetzes „ein hinreichender Grund, sich nicht an es zu halten“, noch ein formal gültiges Verfahren „ein hinreichender Grund, sich an das Gesetz zu halten“. Dann erklärt er zur „duty of civility“, zur Pflicht eines (guten) Staatsbürgers, die Fehler der Institutionen „in vernünftigem Umfang hinzunehmen“. Mit diesem Gebot richtet er sich sowohl gegen einen leichtfertig vorgenommenen Ungehorsam als auch gegen das „schamlose“ Ausnutzen von Schlupfwinkeln. Erst darauf folgt eine Definition des staatsbürgerlichen Ungehorsams, die aus nicht weniger als acht Elementen besteht. Nach Rawls handelt es sich um eine „(a) öffentliche, (b) gewaltlose, (c) gewissensbestimmte, (d) politische, (e) gesetzwidrige Handlung, die (f) gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeirufen soll“. Ein derartiger Ungehorsam wendet sich (g) „an den Gerechtigkeitssinn der Gesellschaft“, verbunden mit der Erklärung, (h), „nach eigener wohlüberlegter Ansicht seien die Grundsätze der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zwischen freien und gleichen Bürgern nicht beachtet worden“.

Heben wir einige Elemente heraus: Obwohl der staatsbürgerliche Ungehorsam seinem Wesen nach eine hochmoralische Praxis ist, lässt sich ein macchiavellistischer Missbrauch nicht verhindern. Wegen dieser Gefahr hält Rawls die beiden ersten Definitionselemente für unverzichtbar, denn sie bilden das notwendige „Unterpfand der Aufrichtigkeit“.

Zur Person

John Borden Rawls wurde am 21. Februar 1921 in Baltimore, USA geboren. 1962 wurde er Professor an der Cornell-Universität in Ithaca, New York. Anfang der 70er Jahre entstand sein Hauptwerk „A Theory of Justice“ - „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, die auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erschienen ist, der das Werk von Rawls verlegt. Ab 1979 lehrte er Philosophie an der Harvard-Universität in Cambridge. John Rawls starb am 24. November 2002.

Mit dem vorletzten Definitionselement, dem Appell an den Gerechtigkeitssinn der Mitbürger, unterscheidet Rawls den staatsbürgerlichen Ungehorsam von der „Weigerung aus Gewissensgründen“. Weiterhin sagt Rawls, sind die Verletzungen des genannten Unterschiedsprinzips schwerer festzustellen, weshalb sie sich für einen legitimen Ungehorsam weniger eigneten als Verletzungen des Prinzips der gleichen Freiheit. (Diesen Vorbehalt verdiente freilich auch der andere Teil des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes. Denn ob Positionen und Ämter jedem oder jeder offenstehen, lässt sich ebenfalls nicht leicht unstrittig feststellen.)

Beim letzten Definitionselement schließlich wird deutlich, worauf es Rawls ankommt: auf ein seines Erachtens verfassungsrechtlich notwendiges Element einer Theorie der konstitutionellen, deshalb in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht neutralen Demokratie.

Wenn nun, weil die genannten acht Elemente erfüllt sind, es sich nicht um einen partikulare Vorteile suchenden Ungehorsam handelt, vielmehr um einen zwar gesetzwidrigen, aber doch verfassungskonformen Protest, dann, so Rawls, sollten Gerichte die Strafe senken und in einigen Fällen sogar auf sie verzichten. Darauf spekulieren dürfen die Protestierenden aber nicht. Denn wer von einer demokratischen Entscheidung behauptet, sie sei ein krasses Unrecht, der muss nicht nur vorab alle legalen Mittel ausschöpfen, bevor er zum Widerstand schreitet. Er muss auch den Test wahrhaftiger Aufrichtigkeit erfüllen, nämlich bereit sein, Nachteile in Kauf zu nehmen und sich gegebenenfalls bestrafen lassen.

Seit seinem zweiten Hauptwerk, dem „Politischen Liberalismus“, 1993 veröffentlicht, pflegt Rawls eine argumentationstheoretische Bescheidenheit. Ihr zufolge habe die politische Philosophie weder die Aufgabe noch die Möglichkeit, schlechthin überzeugende Argumente zu entwickeln. In seiner letzten Monographie, einer Philosophie des Völkerrechts, „The Law of Peoples“, greift Rawls daher auf eine politische Erfahrung zurück, hier auf die für die USA traumatische Erfahrung des Bürgerkriegs zwischen den Nord- und den Südstaaten. Verantwortlich sei das Verfolgen letzter Ziele gewesen, was in der Regel zu einer kompromisslosen Gegnerschaft führe.

Um eine derartige Katastrophe zu vermeiden, genügt es nach Rawls nicht, jeden Krieg für irrational und zerstörerisch zu erklären. Die Völker müssen vielmehr für sich eine nicht schlechthin, aber annehmbar gerechte Grundordnung suchen, die ein elementares Interesse an Frieden erwarten lasse. Dieses schließe freilich das Recht auf eine Selbstverteidigung nicht aus, die nicht nur das Territorium und die Bevölkerung, sondern auch die demokratischen Institutionen und die Traditionen und die Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft notfalls mit Waffengewalt schütze.

Ausdrücklich illegitim dagegen seien Kriege, die um des wirtschaftlichen Wohlstandes, um natürlicher Ressourcen oder um geostrategischer Macht willen geführt werden. Ein Staat, der sich auf derartige Kriege einlasse, würde sich, auch wenn er bislang ein demokratischer Rechtsstaat gewesen ist, zu einem Schurkenstaat herabwürdigen.

Vor diesem völkerrechtsphilosophischen Hintergrund erörtert Rawls die erneut hochbrisante Frage, ob die Kriegspolitik der Alliierten gerecht war. In der Antwort zeigt er ein weiteres Mal an, wie man als akademischer Philosoph ein politischer Intellektueller sein kann. Dafür braucht es als erstes eine möglichst objektive Situationsanalyse. Nach Rawls waren, solange England mit einer deutschen Übermacht konfrontiert war – was für die USA nie der Fall gewesen sei –, Bombenangriffe auf Städte legitim, obwohl dabei zivile Objekte zerstört und Zivilpersonen getötet wurden. Nach der vernichtenden Niederlage der deutschen Truppen in Stalingrad habe das aber nicht mehr gegolten, so dass spätere Bombardierungen deutscher Städte, namentlich die Zerstörung von Dresden, nicht gerechtfertigt gewesen seien. Ähnliches, sagt der Philosoph, der sich im Jahr 1943 zum Militärdienst gemeldet hatte und bald nach Japan abkommandiert worden war, gelte für die Atombomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden.

Rawls bleibt bei dieser Kritik nicht stehen, sondern überlegt sich auch, wie man ein derartiges Staatsversagen rechtzeitig hätte verhindern können. Das wirksamste Gegenmittel sieht er in einer politischen Kultur, die schon vor Ausbruch eines Krieges weder die Bombardierung von Zivilisten noch Menschenrechtsverletzungen der Zivilbevölkerung und der Soldaten zu einer zulässigen Kriegspraxis werden lässt.

Rawls’ Völkerrechtsphilosophie schließt mit einer von Kants Spätschriften inspirierten realistischen Utopie: „dass die Möglichkeiten unserer sozialen Welt eine annehmbar gerechte, konstitutionelle demokratische Gesellschaft als Mitglied einer annehmbar gerechten Gesellschaft der Völker zulassen“. Werde sowohl innerhalb der Gemeinwesen als auch in ihrem Zusammenleben Toleranz gepflegt und jeder (gewaltbereite) Fundamentalismus verworfen, dann lasse sich eine Überwindung der großen Übel menschlicher Geschichte erwarten: Die ungerechten Kriege, Unterdrückung, religiöse Verfolgung, Sklaverei und anderes mehr sind endgültig verschwunden.

Der Autor ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Tübingen, wo er die Forschungsstelle für politische Philosophie leitet. Soeben ist sein Buch „Gerechtigkeit denken. John Rawls’ epochale politische Philosophie“ im Karl Albert Verlag (192 S., 28 Euro) erschienen.

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