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Islamische Mystik: Der Gläubige, der sich in der Stille bewegt

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Von: Arno Widmann

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Tanzende Derwische aus der Türkei in einem niederländischen Museum.
Tanzende Derwische aus der Türkei in einem niederländischen Museum. © AFP

Vor 300 Jahren starb der islamische Mystiker Nurredin al-Dscherrahi.

Am 28. Juli 1721 starb Hadrat Pir Nurredin al-Dscherrahi al Halveti. So sagt Wikipedia. Andere nennen als Todesdatum den 1. Oktober 1721. Auch beim Geburtsdatum – Wikipedia: 4. Mai 1678 – differieren die Auffassungen. In Istanbul wurde er geboren. Dort starb er auch im Haus seines Ordens im Stadtteil Karagümrük, auf der europäischen Seite Istanbuls. Seine Grabstätte ist dort zu besichtigen. Er ist der Begründer eines der heute bekanntesten Sufi-Orden, nämlich des nach ihm benannten Dscherrahi-Ordens.

Das ist allerdings in den Augen eines Gläubigen schon falsch. Für den nämlich ist Dscherrahi einer der Erweckten, die in einer langen, ununterbrochen bis auf den Propheten selbst zurückreichenden spirituellen Linie die Botschaft Mohammeds weitergetragen haben. Der Sufismus wird oft die islamische Mystik genannt. Aber der Sufismus, der in allen islamischen Staaten auch große Beiträge zur Literatur geleistet hat, ist doch vor allem eine Religion von Musik und Tanz. Der Gott wird tanzend verehrt. Die kreisenden Derwische sind ein Abbild des Kosmos und die Musik dazu sind Sphärenklänge. Diese Seite des Sufismus hat im vergangenen Jahrhundert sich über die ganze Welt ausgebreitet und es gibt den dort Jerrahi geschriebenen Orden natürlich auch in den USA.

In den Lebensgeschichten seines Gründers mischen sich Dichtung und Wahrheit. Er soll mit 19 bereits ein juristisches Studium abgeschlossen gehabt haben, sollte in die osmanische Provinz Ägypten als Verwaltungsbeamter geschickt werden, da begegnete er am Abend vor seiner Abreise Aluddin Kostendili, einem Scheich des Halveti-Ordens. Der nahm ihn, nachdem er zusammen mit ihm und seinen Brüdern in einer Zeremonie den Namen Gottes angerufen hatte, in seinen Orden auf und schickte ihn 1703 nach Karagümrük, um dort einen Ableger des Ordens aufzubauen. Das tat er mit großem Erfolg.

Vielleicht lohnt sich ein Blick ins Deutschland jener Jahre: „Am 13. August 1727 kam es im Rahmen einer Abendmahlsfeier in der lutherischen Kirche in Berthelsdorf zur Gründung der Herrnhuter Brüdergemeinde durch einen Bußakt des Pfarrers Johann Andreas Rothe, Zinzendorfs und der ganzen Gemeinde.“ (Wikipedia) Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) tanzte womöglich niemals. Auf keinen Fall sah er im Tanz etwas, worin sich der Mensch mit Gott verband, aber auch er gründete einen Orden oder doch eine Glaubensgemeinschaft innerhalb einer Religion.

Zinzendorf wollte die lutherische Kirche nicht attackieren. Er bezweifelte nicht ihre Glaubensgrundsätze. Er wollte sie vertiefen, spiritualisieren einerseits, andererseits aber sollten die Frommen sich durch fromme Taten, einen frommen Lebenswandel, eine Versenkung in die Glaubensinhalte auszeichnen. Der gemeinsame Gesang spielte eine wichtige Rolle dabei. Zinzendorf war Autor. Allein zweitausend Kirchenlieder soll er geschrieben haben. Dazu kommen Reden und Aufsätze. Tausende von Seiten hat er verfasst. Seine berühmtesten Zeilen sind wohl diese: „Komm Herr Jesus, sei Du unser Gast /und segne, was Du uns bescheret hast. Amen.“

Von Dscherrahi gibt es ein einziges Gedicht, es gibt ein ihm zugeschriebenes arabisch verfasstes Gebetbuch. Das war es wohl schon, was den Autor Dscherrahi angeht. Seinen Ruhm machen Heilungen und Wunder aus. Er soll aus Nichts einen Goldschatz gemacht haben. Visionen habe er gehabt. Zum Beispiel habe er schon zu Lebzeiten seinen Platz im Himmel gesehen. Am 4. November 1717 sei er mit seinen Ordensbrüdern während des Nachmittagsgebets in Mekka gewesen, habe mit den Pilgern den Heiligen Berg bestiegen. Danach seien sie wieder ohne Zeitverlust in Karagümrük gewesen.

Das sind alles Erzählungen seiner Anhänger, entstanden Jahre nach seinem Tode. Senay Yola schreibt 1982 in ihrem Buch „Shejch Nureddin Mehmed Cerrahi und sein Orden (1721–1925)“, er habe nie einen Orden gegründet. Er sei immer nur ein Derwisch-Scheich gewesen, der seine Schüler unterrichtete. Seine Nachfolger in dem von ihm gegründeten Kloster hätten die Ordensgründung erfunden, denn sie befürchteten, das Kloster, in und von dem sie lebten, könnte, wenn es nicht Kloster eines Ordens wäre, einem anderen Orden zugesprochen werden.

Religionsgeschichte ist das Produkt von Mythen und Legenden und sie bringt beides und noch viel mehr hervor. Sie gehört auch dort, wo die Gründer selbst keine Autoren sind, zu einer Literaturgeschichte, die Ernst macht mit dem Versuch, die Weite der menschlichen Phantasiewelten zu erforschen.

Wer ins Internet geht, wird auf zahlreiche Kanäle stoßen, die Sufi-Musik spielen. Zu Dscherrahi wird man andere Zugänge brauchen als zu Zinzendorf. Beiden ging es um die Verbindung der Versenkung in Gott mit dem tätigen Leben. Für beide war die Musik zentral. Aber beide gingen dabei ganz unterschiedliche Wege.

Das geringste Problem dabei ist der Unterschied zwischen Christentum und Islam. Das Zusammenfließen mit Gott ist beiden wichtig, aber in der sufistischen Tradition spielt dabei das Universum eine wichtigere Rolle. Es ist nicht nur Schöpfung, sondern auch Ausdruck des Schöpfers. Man erfährt das in tanzender Meditation. Die Stille in der Bewegung.

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