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Katajun Amirpur: „Das iranische Regime hat schon lange Angst“

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Von: Michael Hesse

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Die Vergiftung der Schülerinnen hat den Protest noch einmal angeheizt: Demonstration für die Frauen im Iran in Washington.
Die Vergiftung der Schülerinnen hat den Protest noch einmal angeheizt: Demonstration für die Frauen im Iran in Washington. © Imago

Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur über die Chancen des Aufstandes im Iran, die Rolle der Frauen und die Zeit unter dem Schah.

Frau Amirpur, ist dies ein Aufstand oder ist es eine Revolution, die wir gerade im Iran sehen?

Man kann tatsächlich erst sagen, ob es eine Revolution ist, wenn sie vorbei ist. Erst in der Rückschau ist es möglich, eine Revolution als solche zu betiteln. Ich würde daher eher sagen, dass es sich im Iran um einen revolutionären Prozess handelt. Den sehen wir aber nicht erst seit September.

Sondern?

Man kann bis ins Jahr 2017/18 zurückgehen, andere sagen, dass dieser Prozess bereits seit 2009 im Gange ist.

Ist der Aufstand bereits am Ende, wie die Mullahs behaupten?

Wohl kaum. In dieser Woche gab es erneut Demonstrationen, bei denen viele Menschen auf die Straße gegangen sind. Traditionell sind viele Menschen am Fest der Freude wie am vergangenen Mittwoch unterwegs: Ein altes Ritual, das regelmäßig in Protest umschlägt, schon seit 40 Jahren nutzen viele Menschen das Fest, um gegen das Regime zu protestieren. In diesem Jahr kamen die Aufrufe zu Demonstrationen besonders früh. Auf Plakaten, die von Brücken herunterhingen, wurde zu Demonstrationen aufgerufen, man sah Graffiti an den Häuserwänden mit dem Aufruf zum Protest. Es ist also nicht vorbei, sondern eher wieder stärker geworden, ausgelöst unter anderem durch die Vergiftungen an den Mädchen-Schulen. Der Protest, den wir seit Oktober beobachten, hatte stets Phasen mit mehr oder weniger Intensität.

Es gab bereits einige Aufstände. Was ist anders als 2008/2009 oder 2017/18? War das bereits früher politisch motiviert oder eher eine soziale Verzweiflung, welche die Menschen auf die Straße trieb?

Ein fundamentaler Unterschied zu früheren Protesten ist das Schichtenübergreifende. 2009 gab es eine konkrete politische Forderung, es ging um die eigene politische Stimme, die Menschen demonstrierten wegen einer gefälschten Wahl. Spätere Proteste hatten eher soziale Fragen zum Anlass. Jetzt ist es aber so, dass alle Schichten auf die Straße gehen. Alle können an das anschließen, was geschehen ist, jeder und jede kann sagen: Was dir passiert ist, kann mir oder meiner Tochter, Cousine oder Tante genauso passieren. Es geht nicht nur um einen ganz konkreten Kampf, sondern um die Einforderung des Rechtes auf Selbstbestimmung. Das spricht alle an, denn die Verletzung ihres Rechts sehen alle Menschen im Iran, sei es als religiöse Minderheit, die ihre Religion nicht ausüben kann, als Frau, die einer Gender-Apartheit unterworfen ist, oder als Angehöriger einer sprachlichen Minderheit, was auf 50 Prozent aller Iraner zutrifft, da sie ihre Muttersprache nicht sprechen und nicht in der Schule lernen dürfen, Jugendliche dürfen nicht tanzen, nicht singen – jeder in diesem Land hat einen Grund, auf die Straße zu gehen und zu sagen: Ich will hier meine Freiheit und selbstbestimmt leben. Das ist es, was völlig anders zu vorherigen Protesten ist. Gerade das Schichtenübergreifende wird von dem System selbst als die eigentlich große Gefahr angesehen. Das wissen wir aus Leaks einer Hackergruppe, die Protokolle aus dem inneren Zirkel durchgestochen hat. Darin heißt es: Jetzt wird es bedrohlich, weil es auf einmal alle angeht.

Gibt es diesmal daher auch eine Verbindung zwischen Student:innen und Arbeiter:innen? Ist die Arbeiterschaft nicht eher konservativ und eher Anhänger des Kopftuchs?

Inzwischen ist es nicht mehr so. Es gibt Umfragen, die sogar vom Regime selbst in Auftrag gegeben wurden, die sagen, dass selbst in den religiösen Zentren Irans es ebenso viele Gegner wie Befürworter des Kopftuchs gibt. Das ist eine immens hohe Zahl für diese Zentren. Manch eine mag ja sagen, dass sie persönlich ein Kopftuch tragen würde, was aber falsch sei, ist der staatliche Zwang im Iran, das Kopftuch zu tragen. Ich würde daher eher annehmen, dass hier 90 Prozent der Bevölkerung diese Einstellung haben. Davon abgesehen, geht es gar nicht um das Kopftuch als solches, es geht um das Kopftuch als Symbol der islamischen Republik. Das ist der Grund, warum sich Frauen das Kopftuch herunterreißen, weil sie damit sagen wollen, ich bin gegen diese islamische Republik, die mir das aufzwingt. Es ist nicht so, dass die Frauen ihr einziges Problem im Kopftuch sehen würden.

Welche Rolle haben die Frauen im Iran?

Sie sind Bürgerinnen zweiter Klasse. Die rechtliche Stellung wurde sofort unter Khomeini eingeführt und das alte System rückgängig gemacht, Frauen können ohne Erlaubnis ihres Mannes oder Vaters nicht ausreisen, sie können sich nicht scheiden lassen, außer der Mann stimmt zu, sie erhalten nie das Sorgerecht für ihre Kinder bei einer Scheidung, das Zeugnis einer Frau zählt nur halb so viel wie das eines Mannes. Auf der anderen Seite sind 67 Prozent aller Studierenden an Universitäten Frauen. Ein Drittel aller Professoren sind Frauen, genauso viel wie in Deutschland. Sie sind durchaus präsent in der Gesellschaft. Es gibt eine Kluft zwischen ihrer Präsenz und der rechtlichen und politischen Stellung der Frau. Und nun knallt es.

Wie wurden Genderfragen vorher diskutiert?

Es war weitestgehend in Ordnung, dass sie diese Stellung in der Gesellschaft haben. Es war ein bisschen wie in Deutschland, wo es sich nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben hat. Sie sind arbeiten gegangen, weil sie mussten, sie wurden gebraucht. Die schlechte wirtschaftliche Lage führte dazu, dass eine Familie nicht mehr vom Einkommen des Mannes leben konnte, die Frauen mussten einfach ran. Es kamen natürlich Diskussionen vonseiten der Frauen auf, die sagten, wenn ich schon so viel beitrage zum Lebensunterhalt der Familie, dann möchte ich auch rechtlich gleichgestellt sein. Daraufhin wurde stets erklärt, das verstoße aber gegen den Islam. Wenn es im Parlament diskutiert wurde, hat es der Wächterrat einkassiert. Die Menschen denken daher, wenn das alles unislamisch ist, wollen wir eben keinen Islam haben.

Wünscht man sich die Zeit des Schahs zurück, in welcher die Frauen freier waren?

Das Buch

Katajun Amirpur, geboren 1971 in Köln, ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Köln. Zuvor lehrte sie an den Universitäten Hamburg und Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen der schiitische Islam, die iranische Intellektuellengeschichte und das Reformdenken im Islam.

Im Februar 2021 erschien ihre Biographie über den iranischen Revolutionsführer „Khomeini“ im Verlag C.H. Beck, wo auch ihr neues Buch „Iran ohne Islam“ soeben erschienen ist.

Katajun Amirpur: Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat. C. H. Beck, München 2023. 240 S., 25 Euro.

In rechtlicher Hinsicht war es für Frauen besser. Es geht aber nicht nur um Frauenrechte, es war eine schlimme Diktatur. Ich wundere mich, dass es eine gewisse Geschichtsvergessenheit gibt. Um einen Amnesty-Bericht aus den 1970ern zu zitieren, da steht, dass es in Bezug auf Menschenrechte in keinem Land schlimmer zugeht als im Iran. Es ist eine gewisse Glorifizierung vorhanden, vor allem bei jungen Menschen, die die Zeit nicht mitgemacht haben, während die Älteren sagen, wir hatten einen Grund, die Revolution zu machen. Wir lebten in einer menschenverachtenden Diktatur. Auch der Schah war schlimm.

Welche Rolle spielt die Mittelschicht? Hat das Embargo des Westens mit dafür gesorgt, dass die entscheidende gesellschaftliche Schicht zu schwach ist für einen Umsturz?

Das haben sie gewiss. Wir sehen aber, dass noch genug Power vorhanden ist. Die Sanktionen haben aber tatsächlich der Mittelschicht sehr geschadet, die wirtschaftliche Lage ist nicht nur durch die Sanktionen zu erklären, sondern durch eine völlig falsche Wirtschaftspolitik des Regimes und der Revolutionsgarden. Iranische Ökonomen sagen, dass der Iran aufgrund seiner Ressourcen eine florierende Wirtschaft trotz der Sanktionen haben könnte.

Hat das Regime Angst wegen der fortdauernden Proteste?

Ich glaube, dass sie den Umsturz fürchten, schon seit 40 Jahren leben sie in Angst. Sie merken, dass sich immer mehr Menschen von ihnen abwenden. Nur ein kleiner Kreis bleibt, der extrem durch die Revolutionsgarden profitiert. Das wird dem Regime bewusst sein. Auch das haben wir durch Gruppen erfahren, die Informationen geleakt haben. Die Revolutionsgarden gibt es ja nur aus dem einzigen Grund, um solche Aufstände wie den jetzigen niederzuknüppeln und eine Revolution zu verhindern. Sie agieren zwar auch im Ausland und haben auch andere Aufgaben, aber der wesentliche Grund ihrer Existenz ist der Erhalt des Regimes und von sich selbst. Insofern gibt es noch genügend Möglichkeiten der Gegenwehr seitens der politischen Führung.

Erklärt sich aus der Angst des Regimes die Gewalt gegen die Frauen, überrascht Sie die Gewalttätigkeit?

Die Gewalt sehen wir doch schon seit 2009, eigentlich seit Jahrzehnten, da haben sie bereits in die Menge geschossen, sie haben gemordet und vergewaltigt. Es sind leider altbekannte Vorgehensweisen, die wir jetzt wieder sehen. Sie stellen sich mit aller Gewalt gegen jeglichen Widerstand.

Was würde passieren, wenn es zu einem Umsturz käme? Der Iran ist ja nicht so homogen, wie das im Westen mitunter vermutet wird, sondern ein Land mit vielen Ethnien. Könnte das Land zerfallen?

Theoretisch besteht diese Gefahr, weil nur 50 Prozent Persisch als ihre Muttersprache haben und alle anderen verschiedenen sprachlichen und ethnischen Minderheiten angehören, Turkmenen, Araber, Belutschen, Kurden, die Azeris. Es sind allesamt Minderheiten, die diskriminiert und gebeutelt worden sind in den vergangenen Jahrzehnten. Die Angst vor dem Zerfall des Landes wird jedoch vor allem vom Regime systematisch verbreitet, um zu sagen, wir sind die, die mit harter Hand alles zusammenhalten. Aber vielleicht ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen durch die Proteste ja sogar noch gewachsen, weil man eben dieses gemeinsame Leid, diesen gemeinsamen Frust teilt und ein gemeinsames Ziel hat: den Sturz des Systems. Letztlich würde ich stark davon ausgehen, dass es ein sehr starkes iranisches Nationalgefühl und Zusammengehörigkeitsgefühl gibt, weil man sich einer gemeinsamen großartigen Kultur und Geschichte bewusst ist.

Was käme nach einem Sturz des Regimes? Sie sprechen in Ihrem Buch von Shirin Ebadi, der Nobelpreisträgerin, als künftige politische Führungsfigur.

Sie ist sehr vertrauenswürdig. Sie hat in den 1990er und 2000er Jahren alle verteidigt, die Hilfe brauchten. Sie ist ein sehr vernünftig agierender politischer Mensch. Ob sie wirklich eine politische Führungspersönlichkeit ist, weiß ich nicht. Aber sie könnte in einem Transformationsprozess eine führende Rolle spielen. Unter den Oppositionskräften außerhalb Irans versucht man, zu einem Konsens zu kommen. Ich hoffe dabei nur, dass nicht einer dabei heraussticht, zum Beispiel der Sohn des letzten Schahs, der dann wieder eine Ein-Mann-Show wie Khomeini zelebriert. Man sollte nicht nur auf eine Person setzen, da man damit schon einmal vom Regen in die Traufe gekommen ist. Die Hoffnung ist eigentlich eher, dass sich mehrere Leute zusammenfinden. Es gibt genug Leute, die im Iran eine gute Politik machen könnten.

In Deutschland gab es Kritik an Außenministerin Annalena Baerbock, die lange schwieg in Bezug auf die Ereignisse im Iran. Man sagte, dass so kaum eine feministische Außenpolitik aussehen könne.

Ich frage mich dann immer, wenn die Leute sagen, Baerbock macht nichts, was sie denn deren Meinung nach tun sollte. Da kommt wenig an Gegenvorschlägen. Es heißt dann immer, mehr Sanktionen und Pasdaran auf die Liste setzen, aber es glaubt doch niemand, dass das Regime so zu Fall gebracht werden kann. Eine entsprechende Symbolpolitik betreibt Deutschland ja bereits, Scholz und Baerbock haben sich inzwischen klar geäußert.

Es kam zu einer Annäherung der Kontrahenten Iran und Saudi-Arabien unter chinesischer Vermittlung. Hat der Westen überhaupt noch Einfluss auf den Iran?

Nein. Iran hat sich in den letzten Jahren komplett umorientiert. Die Diktaturen machen diese Dinge nun unter sich aus, zusammen mit Russland, China und anderen. Das hat schon vor Jahren eingesetzt, spätestens seit dem Ausstieg aus dem Atomdeal durch Donald Trump setzte die Neuorientierung ein.

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