Ina Hartwig über Demokratie und Paulskirche: „Erinnerungskultur ist heute etwas völlig anderes als vor 20, 30 Jahren“

Die Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig über eine komplizierte Stadt, den Zustand der Demokratie 175 nach der Paulskirche und ein Theater, das auch tagsüber offen ist.
Frau Hartwig, in der Paulskirche tagte vor 175 Jahren das erste deutsche Parlament. Es dauerte aber nur wenige Monate, bis die Demokratiebewegung scheiterte. Warum ist das für uns heute noch interessant?
Für uns ist das ein großartiger Anlass, an diese Tradition zu erinnern, an den Aufruhr für die Demokratie, an das Paulskirchen-Parlament und an die erste Verfassung, aus der Teile übernommen worden sind für die Weimarer Verfassung und das Grundgesetz. Auch wenn sie zunächst gescheitert ist, hat diese Revolution doch deutliche Spuren in der deutschen Geschichte hinterlassen. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass eine Demokratie immer erkämpft werden muss. Gegenwärtig spielt sich eine Art globaler Wettkampf der Demokratien mit den autokratischen Staaten ab. In diesem Kontext eines Richtungsstreits ist auch an die Frankfurter Tradition anzuschließen. Denn die globale Situation ist besorgniserregend.
Was wird aus der Welt, wenn neben Xi und Putin in China und Russland möglicherweise erneut Trump in den USA auf die Weltbühne tritt?
Das ist die große Sorge. Es ist ungewiss, wie sich Trump oder jemand wie Trump etwa im Ukraine-Krieg positionieren wird. Ich denke auch an unser Nachbarland Frankreich, wo in den letzten Wahlen immer wieder das Gespenst der Autokratie im Raum stand. In Frankreich sehe ich durchaus die Gefahr, dass das irgendwann passieren kann. Wir müssen nicht nur auf die USA blicken. Schauen wir nach Ungarn, schauen wir nach Polen. Die Demokratien selbst sind betroffen von dem Gedanken der Spaltung. Paradoxerweise sind sie dadurch nicht nur geschwächt, sondern auch gestärkt worden. Denn klar ist, dass das Zeitalter der bequemen Demokratie, wenn es überhaupt existiert hat, nun vorbei ist. Wir müssen für die Demokratie kämpfen. Sie fällt nicht vom Himmel.
Ein nicht unerheblicher Teil der deutschen Bevölkerung sieht die Demokratie nicht als beste Staatsform an. Warum kommt das hier ins Rutschen?
Das ist eine Frage, die wir uns dringend stellen müssen. In Frankfurt gibt es Stadtviertel, wo ganz wenige von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, auch zuletzt bei der Oberbürgermeisterwahl. Langfristig gesehen halte ich es für demokratiegefährdend, wenn große Teile der Bevölkerung sich innerlich ausklinken. Die Demokratie ist eigentlich ein Versprechen der Chancengleichheit, der Bildungsgerechtigkeit, und dieses Versprechen ist ins Rutschen gekommen. Wenn wir diese Menschen verloren geben, dann haben wir den demokratischen Anspruch auf Teilhabe aufgegeben.
Sind diese Menschen zu erreichen mit Erinnerungskultur?
Ich sehe in der Vermittlung der Geschichte eine sehr große Chance. Man muss es aber gut machen. Man muss es so machen, dass die Menschen sich gemeint fühlen. Erinnerungskultur ist heute etwas völlig anderes als vor 20, 30 Jahren. Viele Menschen, die in Frankfurt leben, haben ihre eigenen kulturellen Biografien, viele haben traumatische Erfahrungen, haben undemokratische Staaten erlebt, sind geflüchtet, haben sich hier ein neues Leben aufgebaut, haben Kinder zur Welt gebracht, die wiederum zur Frankfurter Stadtgesellschaft gehören.
Lässt sich an die Tradition der Paulskirche anknüpfen, ohne auch auf den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus einzugehen?
Wenn wir über die Erinnerungskultur der Paulskirche sprechen, dann spielt Auschwitz eine Rolle. Dort hat die Auschwitz-Ausstellung 1964 stattgefunden, in Frankfurt hat der Auschwitz-Prozess stattgefunden. Auf der anderen Seite hat in der Paulskirche Martin Walser seine Friedenspreis-Rede gehalten und im Grunde den Wunsch geäußert, er wolle nicht immer wieder erinnert werden an die deutsche Schuld. Das war, kurz vor der Jahrtausendwende, eine katastrophale Rede. Anhand der Paulskirche lässt sich der ganze Prozess aufblättern, vom Wunsch der Aufarbeitung bis zur Abwehr. Es ist eine Herausforderung, dass man die Bevölkerung heranführt an dieses Thema. Viele Menschen haben vielleicht das Gefühl, dass Auschwitz mit ihrer eigenen Geschichte gar nichts zu tun hat und sie nicht hierfür in Haftung genommen werden können. Aber wir sind als Bundesrepublik Deutschland in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs, und alle, die hier leben und dazugehören möchten, müssen sich auch mit dieser Thematik beschäftigen, weil sie zum Selbstverständnis der Bundesrepublik hinzugehört.
Zur Geschichte der Bundesrepublik gehören auch die deutsche Einheit und der Zusammenbruch der Blockkonfrontation der Nachkriegszeit. Gibt es hier Bezüge zur Paulskirche?
Zur Person
Ina Hartwig, 1963 in Hamburg geboren, in Lüneburg aufgewachsen, ist SPD-Mitglied und amtiert seit 2016 als Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt. Die promovierte Romanistin war zuvor 20 Jahre lang als Literaturkritikerin tätig, unter anderem als Redakteurin bei der FR.
Demokraten wie Vaclav Havel oder Lew Kopelew, die aus totalitären Erfahrungen ein Risiko eingegangen sind, sind in der Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Es gab nach 1989 die Hoffnung, dass das Ende des Kalten Krieges zu einer großen Demokratisierung führen würde. Diese Illusion ist jetzt zu Ende gegangen. Wir stehen vor einer neuen Weltordnung, die sich vor unseren Augen formiert und die wir versuchen zu beeinflussen, im Sinne der Stärkung der Demokratie.
In Frankfurt steht die kulturpolitische Entscheidung über einen milliardenteuren Neubau der Städtischen Bühnen an. Wird damit die ganze Bevölkerung erreicht – oder nur der bildungsnahe Teil, der in Theater und Oper geht?
Da klar ist, dass das marode Gebäude am Willy-Brandt-Platz nicht zu retten ist, werden wir nun die Chance wahrnehmen, den öffentlichen Raum an dieser signifikanten Stelle in der Stadt neu zu gestalten. Was wir in Zukunft haben wollen, sind Gebäude, die auch tagsüber zugänglich sind, die keine Schwellenangst aufkommen lassen, die eine ganz andere Identifikationsmöglichkeit bieten für Teile der Bevölkerung, die nicht unbedingt ins Theater oder in die Oper gehen. Das ist der eine Aspekt.
Und der andere?
In einer vielfältigen und dichten Stadt werden Theater und Oper immer der Ort bleiben, an dem sich eine Stadt über sich selbst verständigt. Das ist eine einzigartige Tradition in allen europäischen Städten. Es sind die Orte, wo die städtische Öffentlichkeit stattfindet, einmal abgesehen von den parlamentarischen Öffentlichkeiten. An diesen Orten der Begegnung, der Debatten, der Auseinandersetzung, des Streits, auch der ästhetischen Provokationen ist die Gesellschaft mit sich im Gespräch. Eine dermaßen komplexe Stadt wie Frankfurt braucht einen solchen Ort.
Kann und muss sich Frankfurt neue Städtische Bühnen für 1,3 Milliarden Euro leisten?
Frankfurt ist so dynamisch und wirtschaftsstark, dass es diese Aufgabe lösen wird. Die Stadt Frankfurt muss investieren, um die Innenstadt weiterzuentwickeln. Nicht der Einzelhandel allein, sondern ein Mix, zu dem auch Kultur gehört und der die Attraktivität von Frankfurts Mitte erhält, ist die Antwort auf die Zukunft. Diese Investition wird sich natürlich über viele, viele Jahre verteilen, und sie kommt auch den Menschen aus dem Umland zugute. Es ist eine Tradition, an der wir festhalten müssen. Eine lebendige Stadt braucht Städtische Bühnen.
Das Theater als öffentlicher Ort ist im 19. Jahrhundert aus dem Bürgertum herangewachsen wie die Demokratiebewegung der Paulskirche.
Das stimmt. Selbstbewusste bürgerliche Gesellschaften haben immer ihre Theater, ihre Bühnen gehabt. Diese bürgerliche Gesellschaft hat sich aber verändert. Die Institutionen müssen offen sein für alle Gesellschaftsschichten.
Wann kommt das neue Theater und wo wird es gebaut?
Die Standortentscheidung, so ist mein Wunsch und auch der Wunsch des designierten Oberbürgermeisters Mike Josef, sollte vor der Sommerpause fallen. Dann wäre der nächste Schritt ein Architekturwettbewerb und dann kann gebaut werden, frühestens ab 2027. Auch beim Architekturwettbewerb ist die Bürgerbeteiligung sehr wichtig, denn die Städtischen Bühnen gehören den Menschen und müssen von ihnen akzeptiert werden.