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Identitätspolitik: Der Einspruch gegen die unhinterfragte Norm

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Von: Jens Schneider

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Amanda Gorman bei der Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden. Wer soll, wer darf ihre Lyrik übersetzen?
Amanda Gorman bei der Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden. Wer soll, wer darf ihre Lyrik übersetzen? © AFP

Schieflage Identitätspolitik: Was das Verhüllungsverbot in der Schweiz und der Streit über die Übersetzung der Gedichte von Amanda Gorman gemein haben. Von Jens Schneider

Identitätspolitik“ ist das Schimpfwort der Stunde, und die Perlenkette der Anlässe scheint nicht abzureißen. Kann nur eine schwarze Übersetzerin das Gedicht von Amanda Gorman zur Inauguration des neuen US-Präsidenten angemessen ins Niederländische oder Deutsche übersetzen – oder war das gar nicht die eigentliche Frage? Wolfgang Thierse und Gesine Schwan äußern sich besorgt über den fehlenden Zusammenhalt in der Gesellschaft, weil immer mehr „Gruppen“ ihre Partikularinteressen laut äußern. Wird der Duden zum Opfer des „Gender-Wahns“, weil er in der Onlineausgabe u. a. für „Ärztinnen“ einen eigenen Beitrag vorsieht? Ist tatsächlich die Kunstfreiheit und die Qualität der deutschsprachigen Theater bedroht, weil der Unmut über die fehlende Diversität in den Ensembles immer lauter wird?

Der Vorwurf der „Identitätspolitik“ richtet sich gegen diejenigen, die vorgeblich nur die eigenen Partikularinteressen verfolgen und die Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder „Gruppe“ über die Gemeinschaft aller stellen. Ja, Antirassismus und queer activism kommen nicht selten in einem fundamentalistischen Furor daher, der sich nur schwer als Einladung zum Gespräch verstehen lässt.

Dennoch wirkt die Kritik an der „Identitätspolitik“ reichlich larmoyant und wohlfeil, wenn man sich einmal anschaut, wie denn die strukturellen Verhältnisse noch immer aussehen. Schwarzer antirassistischer Aktivismus, die Forderungen nach gendergerechter Sprache und nach Anerkennung der Tatsache, dass Geschlecht nicht einfach eine binäre Opposition zwischen „Männern“ und „Frauen“ ist, sind zuallererst Reaktionen darauf, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die in viel höherem Maße als andere realen Gewalterfahrungen oder zumindest der Alltäglichkeit der Möglichkeit solcher Gewalterfahrungen ausgesetzt sind.

Rassismus begegnet Menschen mit Hautfarben, Namen oder Religionen, die als „anders“ wahrgenommen oder bezeichnet werden, aber nicht nur in der ständigen Möglichkeit realer rechter Gewalt, sondern auch als konkret und von klein auf erlebte alltägliche Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen in zentralen gesellschaftlichen Institutionen wie z. B. in der Schule, im Sport, am Arbeitsplatz, durch die Polizei oder beim Versuch, in eine Diskothek zu kommen. Schon das macht wütend, aber es macht geradezu fassungslos, dass sich nicht einmal die staatlichen Institutionen darum bemühen, dagegen wirksame Schutzmechanismen zu entwickeln.

Aber selbst Frauen, die nun keineswegs eine Minderheit darstellen, werden groß mit der realen Angst vor sexualisierter Gewalt, ob im Bekanntenkreis oder sogar in der eignen Familie oder im dunklen Park – eine Angst, die zumindest heterosexuelle Männer in aller Regel schlichtweg nicht kennen. Noch immer wird Mädchen in der Schule weniger zugetraut, vor allem wenn es um die vorgeblich „harten“ Mint-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) geht.

Alles, was heute an Gleichberechtigung in der Gesellschaft etabliert ist – vom Wahlrecht über „Girls’ Day“ und Frauenfußball bis zu den Frauenquoten in allen möglichen Bereichen –, ist von Frauen (und ihren männlichen oder nonbinären Verbündeten) hart erkämpft und niemals einfach so von denjenigen zugestanden worden, die auch heute noch an den meisten Schaltstellen der Macht sitzen: (mittel)alten weißen Männern. Daran und daran, dass dieser Kampf noch lange nicht vorbei ist, hat uns erst vor ein paar Tagen wieder der 8. März erinnern sollen.

„Identitätspolitik“ findet täglich und überall statt, aber nicht durch Minderheiten oder Feministinnen oder Feministen, sondern durch einen gesellschaftlichen „Mainstream“, dem es offenkundig weitgehend gleichgültig ist, dass Frauen und als „anders“ markierte Menschen in den Institutionen und Machtzentren nicht adäquat repräsentiert sind.

Das Problem „alter weißer Männer“ liegt nicht darin, dass sie eine helle Hautfarbe haben, sich dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen und schon im voraussichtlich letzten Drittel ihres Lebens angekommen sind. Das Problem ist, dass sie eine Norm darstellen und definieren, die eine jahrhundertelange patriarchal, kolonialistisch und rassistisch geprägte Geschichte hat. Die Norm ist so „normal“ und etabliert, dass sie gar nicht explizit gemacht werden muss, wir alle werden wie selbstverständlich in sie hineinsozialisiert.

Ein „Arzt“ ist eben in der spontanen Assoziation immer zuerst ein weißer mittelalter Mann, ebenso wie der „Theaterintendant“ oder – in der Kategorie der dann noch älteren Herren – der „Nobelpreisträger“ und der „Bundespräsident“. Es ist auch tagtägliche „Identitätspolitik“, wenn mal wieder Minister und Ministerpräsidenten gegen „den Islam“ oder „die Flüchtlinge“ zu Felde ziehen, weil sie darin eine Möglichkeit sehen politisch zu punkten.

Damit sind wir hier beim Verhüllungsverbot in der Schweiz: Anfang März stimmte eine knappe Mehrheit bei einer Volksabstimmung für ein „Burka-Verbot“ – das wurde so nicht genannt und formuliert, aber die Schweizerische Volkspartei hat wenig Hehl darum gemacht, worum es ihr bei diesem Referendum ging: ein Zeichen gegen „den Islam“ zu setzen.

Das Vorgehen bedeutete „Identitätspolitik“ vom Übelsten, aber der Ausgang des Referendums in der Schweiz scheint deutlich weniger öffentliches Entsetzen hervorzurufen als die Frage, wer das Gedicht einer amerikanischen Dichterin „of Color“ übersetzen darf und sollte. Weil es so „normal“ ist, gegen „den Islam“ (oder Migranten und Migrantinnen oder Flüchtlinge oder …) Symbol- und Identitätspolitik zu betreiben?

Die Norm fällt meist erst dann auf, wenn sie herausgefordert wird: Es braucht an den Universitäten schon eine Gleichstellungsbeauftragte, die die noch immer weit überwiegend männlichen weißen Professoren bei der Vergabe von Stellen daran erinnert, dass sie nicht quasi automatisch immer zuerst an männliche Doktoranden denken sollen – wohlgemerkt nur bei gleicher oder besserer Qualifikation ist einer Frau der Vorzug zu geben!

Im #actnow-Manifest beklagen sich queere Schauspielerinnen und Schauspieler, dass sie sofort „markiert“ sind, wenn sie sich als lesbisch oder nichtbinär outen, und dann für viele Rollen einfach nicht mehr mitgedacht werden. Das gilt noch mehr für diejenigen, die einen Namen oder gar einen Akzent haben, die innerhalb des deutschen Sprachraums nicht regional zugeordnet werden können, oder „of Color“ sind: Sie werden nahezu grundsätzlich nur für bestimmte Rollen besetzt – was die Zahl der möglichen Rollen angesichts des gängigen Theaterstücke-Kanons natürlich stark einschränkt, was dann wiederum rechtfertigt, warum man „diese Leute“ gar nicht dauerhaft im Ensemble braucht …

Der Auftritt von Amanda Gorman bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten war ein starker symbolischer Paukenschlag, und ihr niederländischer Verlag wollte vermutlich, dass ihr Gedicht deshalb möglichst „renommiert“ übersetzt wird. War es wirklich Zufall, dass der Verlag bei „Renommee“ eben nicht an eine nichtweiße Person oder eine mit „Migrationshintergrund“ gedacht hat?

Selbstverständlich ist es nicht die Hautfarbe, die über die Qualität einer Übersetzung entscheidet, und müssen Übersetzerinnen und Übersetzer oder Schauspielerinnen und Schauspieler nicht alle Erfahrungen und Darstellungen, mit denen sie sich künstlerisch beschäftigen, auch aus eigener Anschauung und eigenem Erleben kennen – genau das sagt ja auch das #actnow-Manifest, und hier macht es der essenzialisierende Duktus der Social-Media-Shitstorms den Vertreterinnen und Vertretern der Norm viel zu einfach.

Es fehlt aber auch diesseits des Atlantiks an starken Symbolen der Inklusion, und da hätte sich doch angesichts der Rolle, die Amanda Gorman für die Inauguration der neuen Biden-/Harris-Regierung gespielt hat, durchaus angeboten, um darauf hinzuweisen, dass es auch in den verschiedenen europäischen Sprachgebieten talentierte Übersetzer und Übersetzerinnen „of Color“ gibt. Das Vorgehen des deutschen Verlags mit drei Übersetzerinnen unterschiedlichen Hintergrunds wird jetzt als „Einknicken“ und „feige“ kritisiert, dabei könnte es doch auch geradezu vorbildlich als ein sehr interessantes Experiment verstanden werden, über das dann künstlerisch-literarisch debattiert werden kann.

Die Argumente für das Primat der Freiheit und Qualität von Kunst oder auch von Frauen, durch Quoten oder Gendersternchen auf den Aspekt „Frau“ reduziert zu werden, sind nicht falsch – aber sie setzen eine Gesellschaft voraus, in der Ungleichheit und Ausgrenzung nicht systemisch sind.

Das sind sie aber, und deshalb werden Frauen nicht durch Quoten zu „Frauen“, sondern durch die Tatsache, dass sie, als „Frauen“ wahrgenommen, bestimmte Jobs nicht bekommen oder in Machtzentren nicht vorgelassen werden. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Adiche beschreibt, wie sie erst in den USA zu einer „schwarzen“ Frau wurde, obwohl sich an ihrer Hautfarbe natürlich nichts geändert hat. Es ist die Norm, die aus hiesigen Einheimischen, die Paolo oder Emine heißen, „Menschen mit Migrationshintergrund“ macht – und nicht ihr antirassistischer Aktivismus.

Die Diskussion um genderneutrale Sprache soll herausfordern und verunsichern – damit wir endlich über genderbezogene Benachteiligungen sprechen. Diese Art der Herausforderung und Verunsicherung ist so lange nötig, bis sich die Norm und die Strukturen geändert haben. Wenn wir eines Tages bei „die Ärzte“ nicht mehr automatisch an „weiße Männer“ denken, brauchen wir möglicherweise keine Gendersternchen und andere Formen der sprachlichen Irritation mehr. Ähnlich ist es mit Quoten: Bei den Frauen haben sie sich durchgängig als erfolgreich erwiesen, aber Quoten für Behinderte, BIPoC, religiöse Minderheiten, queere Personen, Arbeiterkinder und Menschen mit Migrationshinter- oder -vordergrund erscheinen nicht zuletzt aus praktischen Gründen wie eine Überforderung.

Sie sind aber auch gar nicht nötig, wenn es sichtbare und ehrliche Versuche gibt, für mehr Diversität zu sorgen: Kein Mensch wird etwa dem Maxim-Gorki-Theater in Berlin vorwerfen, dass es dort möglicherweise zu wenig behinderte oder Transmenschen im ansonsten superdiversen Ensemble gibt. Aber eine Gesellschaft, die sich nicht einmal in der Pflicht sieht, gegen rechte Strukturen in der Polizei, Männerseilschaften in Kultureinrichtungen und rassistische Diskriminierung in Schulen effizient vorzugehen, ist moralisch in keiner guten Position, um sich allem voran über einige unbestritten fundamentalistische Tendenzen der anderen Seite zu erregen.

Jens Schneider ist Mitarbeiter am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück.

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