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Hundert Jahre „Das Ich und das Es“: Die eigentliche Angststätte ist und bleibt das Ich

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Von: Arno Widmann

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Wien, 1936: Der 80-jährige Sigmund Freud zuhause mit seinen zwei Hunden.
Wien, 1936: Der 80-jährige Sigmund Freud zuhause mit seinen zwei Hunden. © Imago

Sigmund Freuds Abhandlung „Das Ich und das Es“ zum hundertsten Geburtstag.

Heute vor einhundert Jahren erschien in Leipzig im Internationalen Psychoanalytischen Verlag Sigmund Freuds (1856-1939) kleine Abhandlung über den Aufbau des psychischen Apparates „Das Ich und das Es“. Eine kleine Abschweifung, wie sie uns die weite Welt des Internets zuführt: Die erste englische Übersetzung veröffentlichten 1927 Leonard und Virginia Woolf in ihrer Hogarth Press. Ein Exemplar dieser Ausgabe ist am 22. April, da ich diesen Geburtstagsgruß schreibe, für 2794,07 Euro zu haben. Für die Erstausgabe der Traumdeutung aus dem Jahre 1900 werden 35 000 Euro verlangt. Auf Ihrem E-Reader können Sie sie, wie fast alles von Freud, kostenlos haben. Über Fetischbildung hat sich Freud viele Gedanken gemacht. Um die aber geht es heute nicht.

„Das Ich und das Es“ ist einer von mehreren – voneinander abweichenden – Versuchen Freuds, sich klar darüber zu werden, wie Bewusstsein, Unbewusstes und Vorbewusstes zusammenhängen, wie Über-Ich, Ich und Es entstehen und miteinander und gegeneinander kämpfen. Wir sind nicht nur das Produkt dieser Kämpfe, wir sind – solange wir leben – deren Kriegsschauplatz und Kriegspartei.

Der berühmte Satz „Wo Es war, soll Ich werden“ steht hier noch nicht. Er findet sich erst in die „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, erschienen 1933. Am Ende der 31. Vorlesung „Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit“ heißt es: Die Absicht der Psychoanalyse bestehe darin, „das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.“ Wie diese ist sie niemals ein für alle Mal erledigt. Das Gleichgewicht der drei Instanzen ist immer prekär. Das ist gut so. Denn die sich stets verändernden äußeren Umstände verlangen nach immer neuen physischen und psychischen Ausstattungen des Menschengeschlechts.

Freud betont in „Das Ich und das Es“, dass die Psychoanalyse aus der therapeutischen Erfahrung erwachsen sei. Sie startete nicht mit dem Versuch zu erklären, wie fühlen, denken und handeln zusammenhängen. Sie begann viel mehr mit einzelnen Patienten und deren Erkrankungen. Die wollte Freud heilen. Um das tun zu können, musste er auch versuchen, sie zu verstehen. In diesem Prozess entdeckte er das Unbewusste und seinen Einfluss auf das Denken und Handeln seiner Patienten. Sehr früh schon war Freud klar, dass wir nicht „Herren im eigenen Haus sind“.

„Wo Es war, soll ich werden“ ist nicht die Forderung eines viktorianischen Hausvaters, der uns sagt, dass wir uns am Riemen reißen müssen. Der Satz kommt in der Abhandlung von 1923 nicht vor, weil Freud dort noch viel zu sehr damit beschäftigt ist, sich und seinen Leserinnen und Lesern klarzumachen, in welchen Konflikten wir mit jedem Atemzug leben. Freud ist ein Suchender. Auch und gerade in „Das Ich und das Es“. Das macht die Lektüre schwierig und reizvoll.

Der psychische Apparat entsteht nicht mittels der Zusammensetzung verschiedener Teile. Alle Bestandteile sind vielmehr Produkte eines Prozesses, in dem das Individuum erst zu einem wird. Das Ich ist entstanden und entsteht immer wieder an der Schnittstelle zwischen Innen- und Außenwelt. Radikaler formuliert: Das Ich ist diese Schnittstelle. Freud schreibt in „Das Ich und das Es“: „Man darf den Unterschied von Ich und Es nicht zu starr nehmen, man darf nicht vergessen, dass das Ich auch nur ein besonders differenzierter Anteil des Es ist.“ Die Ausdifferenzierung von beiden ist nichts, was den Menschen auszeichnet. Es gibt sie schon bei „viel einfacheren Lebewesen“, schreibt Freud. Das Über-Ich dagegen ist, so Freud in dieser Schrift, Ergebnis einer spezifisch menschlichen Evolution.

Einzig die menschliche Libido-Entwicklung kennt die Unterbrechung durch die Latenz-Phase. Der Mensch entsteht gewissermaßen in Etappen. Der erste Anlauf der Libidoentwicklung wird im siebten, achten Lebensjahr abgebrochen zugunsten einer Phase, in der die Lustbefriedigung zurücktritt und Lernen und Entwicklung an die erste Stelle treten. So wird die Abhängigkeit des Menschenkindes von Eltern und Erziehenden künstlich verlängert und ausgebaut. Das erst schafft, so Freud, „dem Elterneinfluss einen dauernden Ausdruck“. In dieser Phase nisten sich auch die gesellschaftlichen Ideale im Individuum ein. Wenn dann in der Pubertät das Lustprinzip wieder aufschlägt, hat es mit den während der Latenzzeit im Einzelnen hochgezüchteten Idealen zu tun.

Ich weiß nicht, ob Freud recht hat, aber mir gefällt sehr daran, wie ernst er die endlos verlängerte Abhängigkeit des Menschen von Eltern und Gesellschaft nimmt. Wie sehr das gar für Frauen des Bürgertums galt, die ja erst in Freuds Zeit massenhaft Eingang ins Berufsleben und damit zur Selbstständigkeit erhielten, thematisiert Freud nicht.

Es gehört zu den Reizen der Lektüre von Freuds „Das Ich und das Es“, dass man Freud dabei zuschauen kann, mit welcher Mischung aus Vorsicht und Verwegenheit er einer auf ganz andere Ableitungen wartenden Mitwelt erklärt, natürlich gebe es ein „Gewissen“. Es sei uns aber nicht von Gott gegeben und von den Eltern weitergereicht worden, sondern wir hätten es in einem langsamen, schmerzhaften Prozess aus dem, was die Eltern uns gesagt und vorgelebt haben – schon das zwei sehr unterschiedliche Vorbilder –, und dem, was uns in der Gesellschaft begegnet sei, herausdestilliert. Nicht in einem Akte abwägender Vernunft, sondern in weitgehend unbewusst ablaufenden Prozessen von Abwehr und Identifikation, in Anfällen von Liebe und Hass, von Wut und Verzweiflung. Je fester unsere Überzeugungen dann sind, desto weniger werden wir wissen, warum wir sie haben. Auch darum ist es wünschenswert, immer wieder ein Stück Es in ein Stück Ich zu verwandeln.

Einer der – hoffentlich – unvergesslichen Sätze von Freuds Abhandlung lautet: „Das Ich ist ja die eigentliche Angststätte.“ Wer die Angst nur als ein aus dem eigenen Inneren kommendes, das Selbst überrollendes Gefühl empfindet, dem mag der Satz nicht einleuchten. Wenn man sich aber an Freuds Beschreibung des Ich erinnert, weiß man: Er stimmt. Das Ich ist nicht tief verborgen im Innern. Es ist der Teil des Es, der den Kontakt zur Außenwelt herstellt. Das Ich versorgt das Es, und es schützt es. Das Ich wird zugleich bedroht von dem, woher es stammt – vom Es –, und dem, wohin es strebt: der Wirklichkeit. Um mit dieser doppelten Bedrohung fertig zu werden, hat es sich einen Schutz aus Vorgängererfahrungen zugelegt: das Über-Ich. Aber auch dieser Schutz wird immer wieder zur Bedrohung. Der Versuch, diese Ambivalenzen loszuwerden, sich also auf die eine oder die andere Seite zu schlagen und die anderen abzuschütteln, führt in die Neurose oder Schlimmeres.

Das letzte Kapitel des kleinen Buches beschäftigt sich denn auch mit der zentralen Erfahrung des späten Freud: die unauflösliche Verquickung von Liebes- und Todestrieb. Wagner wird nicht zitiert, obwohl man ihn natürlich auch noch in den trockensten Perioden der Freudschen Prosa hört. Das sich in der Liebe auflösende Ich sucht und findet – lustvoll – sein Ende. Oder ganz anders und doch sehr ähnlich mit Freud: „Infolge der Verbindung der einzelligen Elementarorganismen zu mehrzelligen Lebewesen wäre es gelungen, den Todestrieb der Einzelzelle zu neutralisieren und die destruktiven Regungen durch Vermittlung eines besonderen Organs auf die Außenwelt abzuleiten.“

So betrachtet ist Leben nichts anderes als die „Erweiterung der Kampfzone“. Ich kann den andauernden Krieg, die permanente Revolution, in denen bei Freud die Anteile der menschlichen Psyche sich ausweglos bewegen, mir nur denken als eine Reaktion des Autors auf die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und das auf ihn folgende Chaos. Zu dem freilich auch gehörte, dass ihm neue Ordnungen folgten. Das prekäre, stets bedrohte und um seine Bedrohung wissende Ich erlebt sich auch als Überlebenden.

P.s. Man kann Freuds Abhandlung auch als extremes Beispiel scholastischer Spekulationslust lesen. Er diskutiert über den von ihm konstruierten psychischen Apparat, wie man einst über das Geschlecht der Engel debattierte. An keiner Stelle geht es um die Frage, wie sie mit dem menschlichen Körper zusammenhängen. Über-Ich, Ich und Es sind nicht lokalisierbar, Kein Ort. Nirgends.

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