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Historiker Timothy Snyder attackiert Putin-Regime: Kreml ist russophob

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Von: Michael Hesse

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Timothy Snyder.
Timothy Snyder. © imago images/CTK Photo

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder attackiert das Putin-Regime bei den Vereinten Nationen.

Für die einen ist er ein Genie, andere sehen in ihm zumindest einen bedeutenden Experten der osteuropäischen Geschichte. Die Rede ist von dem US-amerikanischen Historiker Timothy Snyder. Vor zehn Jahren überraschte er die Fachwelt der Geschichtswissenschaftler mit dem Buch „Bloodlands“, in dem er den durch Deutsche und Russen begangenen Massenmord an 14 Millionen Menschen in einer Region Osteuropas in der Zeit von 1932 bis 1948 untersuchte, die sich von Polen über Weißrussland bis in die Ukraine erstreckte. International war das Lob überschwänglich, nur in Deutschland regte sich Kritik an den Ausführungen, nicht alle Schlussfolgerungen des 55-Jährige wurden in den historischen Seminaren geteilt.

Inzwischen ist Snyder vor allem als Aktivist für die von Russland überfallene Ukraine ins Bewusstsein getreten. Mal sieht man ihn mit Soldaten auf Bildern, mal mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimyr Selenskyj. Für diesen hat Snyder zuletzt ein Crowd-Funding-Projekt angeführt, damit das Land sich Waffen für die Selbstverteidigung kaufen kann. Seine Rolle als Aktivist ist aller Ehren wert, allerdings gebietet es die wissenschaftliche Sorgfalt zwischen Aussagen zu unterscheiden, die jemand als Historiker oder als Unterstützer einer politischen Gruppe oder gar eines Landes trifft. Kritiker Snyders vermissen bei ihm öfters eine klare Trennung zwischen beiden Bereichen. Doch solche Grenzziehungen sind in diesen Zeiten schwierig. Auch andere Historiker - etwa der berühmte Karl Schlögel - setzen sich eindeutig für die Ukraine ein. Die russische Seite nutzte Snyders klare Positionierung, um ihm öffentlich Russophobie zu unterstellen.

Vor kurzem hatte Snyder sogar vor den Vereinten Nationen die Gelegenheit, seine Position darzulegen. Seine Rede vor den UN kann man über seinen Twitter-Account nachlesen. Snyder, der von sich sagt, dass er fünf Sprachen sprechen kann und einige weitere immerhin passabel verstehe, antwortete dabei direkt auf den russischen Vorwurf. Er drehte den Spieß kurzerhand um: So erklärte er, dass er die russische Kultur äußerst wertschätze und sich um diese große Sorgen mache. Denn es gebe zehn Gefahren für die russische Kultur, die Snyder dann Punkt für Punkt aufführte. Sein Fazit: Russophob sei nicht der Westen, der ja nur auf die russischen Kriegsverbrechen eine Reaktion zeige. Russophob sei vor allem der Kreml, der das eigene Land in den Abgrund reiße, so Snyder.

Dieser Kreml ist nicht allein aus Sicht von Snyder eine Gruppe von Kleptokraten, die das russische Volk berauben. Obwohl Putin einen Genozid an dem ukrainischen Volk plane, versuche er, sich und Russland als Opfer hinzustellen. Er erinnerte daran, dass die kreativsten und produktivsten Russen zur Auswanderung gezwungen würden, schon 750 000 Menschen hätten das Land nach Kriegsausbruch verlassen. „Dies ist ein nicht wiedergutzumachender Schaden für die russische Kultur, und es ist das Ergebnis der russischen Politik“, so Snyder. Des Weiteren erwähnte er die Zerstörung des Journalismus in Russland, die allgemeine Zensur und Unterdrückung unter Putins Regime, russische Kultureinrichtungen würden im eigenen Land angegriffen. Weiter nannte er die Herabstufung der russischen Kultur in der Welt und das Ende dessen, was früher „russkiy mir“, die russische Welt im Ausland, genannt wurde. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine habe zum massenhaften Tod russischer Bürger geführt, die als Soldaten in seinem Angriffskrieg kämpften: „Etwa 200 000 Russen sind tot oder verstümmelt.“

„Von Traumata geplagt“

Snyder fuhr fort: „Dieser Krieg bedeutet, dass eine Generation junger Russen, diejenigen, die überleben, in Kriegsverbrechen verwickelt und für den Rest ihres Lebens von Traumata und Schuldgefühlen geplagt sein werden“, erklärte er. „Das ist ein großer Schaden für die russische Kultur.“ Der Historiker kritisierte besonders die anhaltende Ausbildung oder Erziehung der Russen zu der Überzeugung, dass Völkermord normal sei. „Wir sehen dies an den Völkermordphantasien in den russischen Staatsmedien. Wir sehen das, wenn das russische Staatsfernsehen die Ukrainer als Satanisten oder als Gespenster darstellt. Wir sehen das, wenn das russische Staatsfernsehen verkündet, dass ukrainische Kinder ertränkt werden sollten.“ An Deutlichkeit ließen es seine Worte an nichts fehlen.

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